Der verborgene Dämon

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So wuchs ich in eine Welt hinein, deren absurde Verwerfungen selbst mir als relativ jungem und unerfahrenem Menschen schon auffielen. Hatte nicht oft genug das außergewöhnliche Wetter zu Trockenheit geführt und anderenorts der Wassermangel wiederum zu Krieg? Ohne tatsächlich etwas ändern zu können, versuchte ich dennoch bereits in diesem Alter, schlaue Ideen zu entwickeln, wie solche Missstände auf einen besseren Weg zu bringen wären, zum Beispiel mit mehr Energie. Wie könnte man ohne seltene Erden den Wirkungsgrad von Photovoltaikzellen von derzeit zwanzig Prozent auf wenigstens fünfzig oder sechzig Prozent erhöhen? Ließen sich die vielen kleinen Alltagsgeräte, in denen Batterien schlummern, die später die Umwelt vergiften, auch anders betreiben? Uhren zum Beispiel verbrauchen nur geringste Energiemengen. Könnte man dafür nicht Mini-Akkus einsetzen, die durch Ausnutzen von Luftdruckschwankungen ständig wieder aufgeladen würden? Mit derlei Hobbys beschäftigt, vergingen die ansonsten schönen und auch abwechslungsreichen Jugendjahre. Für die Schule musste ich nicht viel tun, glücklicherweise fiel mir das Lernen recht leicht und so bereitete ich mich ohne allzu viel Mühe auf das nahende Abitur vor. Zu meiner Leidenschaft ‚Umwelt‘ gesellte sich noch ein anderes Interesse, das sich später auch in der weiteren beruflichen Orientierung als hilfreich erweisen sollte – das Programmieren. Der Umgang mit Computern war schon seit langem allenthalben notwendig und bei meinen Mitschülern natürlich auch beliebt, obwohl die meisten sich nur mit ihren Tablets und Smartphones beschäftigten. Ich aber wollte auch die Details etwas genauer kennenlernen und wandte mich den neuesten Betriebssystemen und ihren verschiedenen Besonderheiten zu. Netzwerktechnik und Funktechnologie sind ja überaus interessant und wenn man den richtigen Zugang findet, auch durchaus spannend. Ich bemerkte durch Zufall, dass sich trotz Antivirensoftware und Firewall auf einem meiner Rechner solche Datenpakete die Hand schüttelten, die dort nichts zu suchen hatten. Na, schau einer an, dachte ich mit verwundertem Blick auf das Ergebnisfenster des selbst geschriebenen Überwachungsprogramms. Nach näheren Analysen und internen Transformationen wurden die kyrillischen Zeichen in den Hauptspeicherauszügen immer häufiger und ich stellte zu meinem Leidwesen fest, dass offenbar russische ‚Spezialisten‘ unterwegs waren. Ich hatte keine Ahnung, was die aktuell denn so vorhaben könnten, doch schon wenige Tage später platzte die Bombe: In den Fernsehnachrichten zur besten Sendezeit wurde berichtet, dass etwa zwei Drittel der bisherigen großen internationalen Serverstationen durch Russland gekapert und mit einer eigenen, nicht wieder entfernbaren Software ausgestattet worden sind. Experten zufolge bedeutete das nicht mehr und nicht weniger, als dass Russland nunmehr das Internet beherrschte und kontrollierte. Die gesamte Netzgemeinde schrie auf – konnte aber nichts tun. Weltweite Proteste verhallten und waren nicht in der Lage, eine Rücknahme der Aktion zu bewirken. Zusätzlich ist das neue russische Internet mit einem System aus Kommunikationssatelliten verbunden worden, um so die totale Kontrolle über den weltweiten Datenaustausch zu erlangen. Nach außen funktionierte alles wie immer, aber nun herrschte Russland über die Einführung und Vergabe einmaliger Internetbegriffe und nicht mehr die im kalifornischen Los Angeles angesiedelte und angeblich gemeinnützige Vereinigung ‚Internet Corporation for Assigned Names and Numbers‘. Russland baute auf diese Weise das Netzwerk der sogenannten Serverplattformen SPF auf, über die der gesamte internet- und funkbasierte Datenverkehr abgewickelt wurde. Einige Teile des ehemaligen Netzes blieben zwar international, büßten aber ihre wesentlichen Leistungsparameter wie Datenmenge und Schnelligkeit der Übertragung ein. Ich hätte nicht vermutet, dass auch der Journalismus durch diese Entwicklung schwer beeinträchtigt werden würde. Die globale Berichterstattung bevorzugte schon deshalb, weil sie nicht einer möglichen russischen Zensur unterworfen sein wollte, den verbliebenen freien Rest des Internets, war aber dadurch sowohl quantitativ als auch qualitativ enorm eingeschränkt. Nun gut, ich konnte mich an meinem Computer darauf einstellen und habe auch den Eltern die entsprechenden heißen Tipps für ihre Emails und Telefonate gegeben. So blieben wir von dieser an Frechheit nicht zu überbietender Maßnahme zunächst unbeeindruckt und gaben uns alle voller Vorfreude der Vorbereitung des geplanten Urlaubs hin. Tunesien sollte das Ziel sein. Mutter meinte, die Reise würde bestimmt einer der letzten gemeinsamen Urlaube. Das kann gut sein, grinste ich, denn für das nächste Jahr ist mit meinen Freunden eine Abi-Tour angesagt. Umso mehr wollte ich dieses Mal noch mit den Eltern zusammen in die Ferien, zumal ich wusste, dass beide dafür hart gespart hatten. Wir schauten uns in Prospekten die Bilder der am Meer gelegenen, zwischen weißen Mauerbögen verwinkelt gestalteten Hotelanlage an, ich buchte die Flüge über das freie Internet und schon war der Sommer heran und Mutter am Koffer packen. Vater studierte das Kartenmaterial, spekulierte über mögliche Ausflugsziele und riet Mutter noch, auch ein Kopftuch mitzunehmen. Ich hatte mir unter tolerierendem Schmunzeln der Eltern einen Fensterplatz im Flieger ergattert und dann sah ich im Landeanflug auf Tunis aus geringer Höhe durch das Bullauge die sonnenüberstrahlten Strände und eine Vielzahl von Segelbooten vor der Küste. Im Reisebus Richtung Hotel stieg die Spannung und wir wurden bei Ankunft nicht enttäuscht. Eine pompös verglaste Hotelfassade nahm uns in Empfang und von der luxuriös ausgestatteten Eingangshalle waren wir mächtig beeindruckt. Wir checkten ein und auch das gebuchte Apartment mit Meeresblick faszinierte mich. Noch am Abend unternahmen wir einen ersten Rundgang durch die allenthalben von Palmen gesäumte, parkähnliche Umgebung, die mehrere Pools und verschieden Sportanlagen umfasste. Toll, so hatten wir uns das vorgestellt. Am nächsten Morgen beschlossen die Eltern, erstmal den weißen Sandstrand und das türkisblaue, warme Mittelmeerwasser zu genießen, und erst die darauf folgende Woche an der Rezeption den einen oder anderen Ausflug ins Landesinnere zu buchen. Das war mir recht, denn ich freute mich ja schon auf Wasser, Wind und Wellen. Eine Woche darauf saßen wir abends, geschafft vom vielen Schwimmen und befreit von der tagsüber notwendigen Schicht Sonnencreme bei allerlei Getränken im schattigen Grün nahe dem großen Pool und freuten uns auf die bevorstehenden Ausflüge, als plötzlich Sirenen ertönten und laute Motorengeräusche die Idylle jäh beendeten. Wir sahen uns erschrocken an, dann ertönten überall Lautsprecher. Das Hotelpersonal kam herangerannt, schrie, forderte alle Urlauber hektisch auf, sofort das Hotel zu verlassen. Wir hätten höchstens ein Stunde Zeit. Ich konnte diese Aufforderung nicht glauben. Auch Vater und Mutter realisierten die Situation erst, als bewaffnete Polizisten erschienen und antreibend irgendwelche unverständlichen Anweisungen brüllten. Wir bekamen Angst. Was zum Teufel ist los?! Ein Terroranschlag? Hals über Kopf rannten wir nach oben ins Apartment. Wir verstauten unser Habe, so gut das in der Kürze der Zeit ging, hasteten mit unseren Koffern wieder nach unten und schon fanden wir uns vor dem Haupteingang auf der Straße inmitten einer Unzahl herumirrender anderer Urlauber wieder. Mutter und Vater waren völlig durcheinander. Auch ich rätselte, was jetzt zu tun wäre. Wir hatten ja nicht einmal ausgecheckt. Der gesamte Vorplatz des Hotels stand voller olivgrüner Militärbusse. Die Motoren liefen schon. Überall wimmelten Polizisten und Soldaten. „Tunisia is to be evacuated!!“, schrie einer. Was? Das ganze Land soll evakuiert werden? Im selben Moment wurden wir harsch aufgefordert, unser Gepäck in einem der olivgrünen Busse zu verstauen und einzusteigen. Wir fuhren Richtung Flughafen, die Strecke kam mir von der Herfahrt noch bekannt vor. Im Bus mutmaßten wir kopfschüttelnd, um was es denn hier überhaupt gehen könnte. Unsicherheit umfing uns. Dann fiel dieses Wort: Ebola! Der Schock saß tief. Ich versuchte, mit meinem Smartphone das freie Internet zu kontaktieren. Tatsächlich! Laut einem Nachrichtenportal müssen mehrere Flüchtlingstrosse aus tausenden, an Ebola erkrankten Afrikanern heute an Tunesiens Küste und offenbar direkt vor unserer Hotelanlage angekommen sein. Wir wussten nicht, dass die Epidemie bereits vor vielen Monaten ausgebrochen war und genau an unserem ersten Urlaubstag die damals ausgesandten, internationalen Hilfsteams zu ihrer eigenen Sicherheit ergebnislos zurückbeordert worden sind. Man sah sich nicht mehr in der Lage, die weitere schnelle Ausbreitung einzudämmen. Seit einigen Tagen schon wurden sämtliche Touristen aus Afrika ausgeflogen, und wir hatten nichts, aber auch gar nichts mitbekommen. Kopfschütteln. Unser Konvoi aus olivgrünen Bussen fuhr am Flughafen mit hoher Geschwindigkeit direkt aufs Rollfeld. Menschen über Menschen. Von überall her trafen weitere Konvois ein. Das Gepäck wurde in aller Eile von Hand in den Flugzeugen verstaut. Ständig starteten Maschinen. Nach kurzer Zeit hob auch unser Flieger ab.

Wir hatten doch eine Woche Spaß, und der Rückflug war ganz geschmeidig. So frotzelte ich am Tag nach unserer Rückkehr, als die Eltern noch beim Auspacken waren. Mutter fragte entsetzt, wie man denn die Leute ruhig dorthin in Urlaub fliegen lassen, und nur eine Woche später eine derartige Grundsatzentscheidung treffen könne. Vater meinte, wir sollten froh sein, dort überhaupt noch weggekommen zu sein. Nach dem Abendessen saß ich wieder einmal gemeinsam mit den Eltern vor dem Fernseher, um Nachrichtensendungen zu schauen. Wir wollten uns informieren und endlich das ganze Ausmaß dieser Tragödie wissen. Doch nur spärliche Informationen und Bilder standen zur Verfügung, niemand wusste so recht Bescheid. Die Krankheit hatte sich über den gesamten Kontinent ausgebreitet. Der internationale Flugverkehr von und nach Afrika wurde weltweit komplett eingestellt. Rohstoffe und Güter von Algier bis Mogadishu, von Monrovia bis Dar es Salam und von Luanda bis Maputo durften ab sofort nur in wenigen, äußerst strengen Quarantänevorschriften unterworfenen Häfen verschifft werden. Kriegsschiffe lagen vor wichtigen Küstenstädten und überwachten den unter diesen Umständen noch realisierbaren Export von Baumwolle, Kakao, Kaffee, Bananen oder Rohdiamanten. Von den Journalisten, die sich auf eigene Faust und unter hohem Risiko auf den Weg begeben hatten, um zu berichten, kehrten die meisten nicht wieder zurück. Luftaufnahmen zeigten in den ländlichen Gebieten überall verlassene Dörfer und Siedlungen. Amerikas „Lichtsekte“ triumphierte. Nun sei der Moment gekommen, die Erde den Erbärmlichen zu überlassen und hinan zu steigen auf dem göttlichen Wege zur ewigen Schönheit. Doch die Lebenden wollten leben und begaben sich auf den langen und tödlichen Weg nach Norden und Osten. Zirka zwei Monate nach unserem tollen Urlaub erreichten die gewaltigen Flüchtlingsströme Djibouti. Dort an der Meerenge von Bab al-Mandab beträgt die Entfernung zur arabischen Halbinsel nur etwa sechzig Kilometer. Auch an der Mittelmeerküste bildeten sich immer größere Zelt- und Hüttenlager der Flüchtenden. Menschenansammlungen, wie gemacht, um Ebola weiter zu übertragen. Doch die Wanderung der Elenden war bereits seit längerem beobachtet worden, die Welt gedachte, sich zu schützen. Saudi-arabische und US-amerikanische Kriegsschiffe erwarteten die Sterbenden im Roten Meer und im Golf von Aden. NATO-Verbände waren auf Malta, Sizilien und Gibraltar in Alarmbereitschaft versetzt worden und zwischen Zypern und Israel bereiteten sich mehrere große Flugzeugträger auf ihren Einsatz gegen die Todgeweihten vor. Zeitgleich mit dem Abwurf von unzähligen Hilfspaketen über den Küstenlinien fielen draußen auf dem Meer die ersten Schüsse auf Schlauchboote, Flöße und kleinere Kutter der einheimischen Fischer.

 

Tief geschockt von dieser Gnadenlosigkeit menschlichen Handels stellte ich mir die Frage: Auf welche Gewalt kann man verzichten, wie viel Hilfe kann man leisten, um dennoch die Zahl der außerhalb Afrikas neu infizierten Menschen in einer beherrschbar kleinen Größenordnung zu halten? Dies fragte ich einmal in der Unterrichtspause unseren Politiklehrer, der in seiner väterlichen Art antwortete, ich solle nicht so viel grübeln. In zugespitzten Situationen seien oft extreme Handlungsweisen notwendig, meine Fragestellung hingegen wäre nur in der Entstehungsphase einer solchen Situation zulässig. Ob denn dann der vollständige Verzicht auf jegliche Gewalt eine Lösung sei, fragte ich unbefriedigt nach. Möglich. Aber nur, wenn alle dem Prinzip folgten! Doch so eine Einstellung erschwerte mir den uns jungen Männern nach dem Abitur bevorstehenden Wehrdienst nur. Innerer Pazifismus biete keine Hilfe bei der Bewältigung unsinniger Herausforderungen. Ich sprach oft mit Vater über dieses Thema und er gab mir den Rat, mich – wenn dies gelänge – für den Bereich Cyberwar-Abwehr einteilen zu lassen. Das wäre bei meinen Computerkenntnissen und schulischen Leistungen erreichbar. Ich würde Einiges dazu lernen und müsste zumindest nach der Grundausbildung nicht nur „herumballern“. Eine solche Argumentation fand ich überzeugend und umso höher war ich motiviert, das bevorstehende Abitur möglichst mit der Note eins abzuschließen. Das allerdings war schon eine Herausforderung, obwohl alle Schüler bestimmte Prüfungen auswählen und so ihre Stärken in den Vordergrund stellen konnten. Ich entschied mich für Physik, Mathematik und Biologie – meine Lieblingsfächer. Trotzdem spürten wir alle eine riesige Anspannung vor den schriftlichen und mündlichen Prüfungen, aber als diese hinter uns lagen, war die Erleichterung umso größer. Ich hatte mit einem Durchschnitt von 1,2 mein Ziel nur knapp verfehlt und nun fühlten wir uns wie die gemachten Leute: Was kostet die Welt? Nichts – sie gehört uns! Was möchten Sie bitte studieren? Kein Problem. Sie wollen promovieren? Selbstverständlich! Nichts schien unmöglich – bis der Brief aus grauem Behördenpapier mir die Einberufung bescherte. Na ja, war ja absehbar gewesen und ich erinnerte mich zum Musterungstermin an Vaters Rat, mich auf die Abwehr von Cyberwar-Attacken aus dem Ausland zu bewerben. Das hat man bewilligt und nach einer Eignungsprüfung und einem Sicherheitscheck wurde ich 2033 nach Potsdam beordert. Dieser Ortswechsel war schon ein gewaltiger Einschnitt und ich sagte mir: Jetzt bist du erwachsen, Leon! Das bedeutete nicht weniger, als das Zimmer meiner Kindheit und Jugend zu verlassen, in eine fremde Stadt zu gehen, bei kasernierter Unterbringung im rollenden Vier-Schicht-System zu schuften und mich auf Anhieb mit wildfremden Menschen auseinandersetzen und verstehen zu müssen. Nach der Grundausbildung, die freilich für jede Waffengattung die gleiche war und sich in weiten Teilen darauf beschränkte, im Untergehölz deutscher Heide- und Waldgebiete die sich immer weiter ausbreitende Ambrosia-Pflanze zu jäten, bekam ich zusammen mit den anderen Neuen nach einer entsprechenden Geheimhaltungsverpflichtung die ersten Einweisungen in die Thematik der elektronischen Kriegsführung. Mit meinen Vorkenntnissen hatte ich zwar eine solide Basis, aber in den fachlichen Details erfuhr ich viel Neues und überaus Interessantes. Die Technik, die uns zur Verfügung stand, hatte ich so nie zuvor gesehen. Unglaublich – wenn die Leute draußen auf der Straße wüssten, was und wie man alles überwachen kann, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen! Einerseits bestand die Aufgabe in der Beobachtung des übrig gebliebenen freien Teils des Internets. Andererseits waren wir gehalten, vor allem Cyberangriffe aus dem russisch kontrollierten SPF-Netz zu erkennen und zu blockieren. Das Abgreifen von Datenströmen ist dabei vergleichbar mit der Erhebung medizinischer Informationen für eine Diagnose. Aber zu wissen, welche Krankheit man hat, reicht nicht. Die Therapie ist das Ziel, im militärischen Sinn also sowohl die Abwehr von Angriffen als auch die Durchführung von aktiver Gegenwehr. Und da habe ich manchmal nicht schlecht gestaunt, mit welchen teilweise abartigen Mitteln und Methoden wir umgehen mussten. Aber Vater hatte Recht. Auf diese Weise noch etwas dazuzulernen, ist allemal besser, als bei miserablem Wetter auf dem Gefechtsfeld herumzuballern und ständig mit der Überlegung konfrontiert zu sein, ob ich als Soldat nun ein Mörder bin oder - weil es der Staat befohlen hat - legitimiert Menschen töten darf oder muss. Doch auch die elektronische Kriegsführung warf genügend grundlegende Fragen auf. Wenn ich vor dem Monitor reale Drohnen steuere, wie in einem Computerspiel, dann reicht ein Mausklick, um im tatsächlichen Kampfgebiet die Rakete abzufeuern. Bin ich dann kein Mörder? Ich bekam mit, wie in Deutschland Infrastrukturen der Strom- und Wasserversorgung angegriffen und Flugzeuge gehackt wurden. Mehrfach hätten Unbekannte beinahe die Kontrolle über Passagierflugzeuge übernommen und sie ferngesteuert irgendwo hinlenken wollen. Ausländische Geheimdienste, die wir nicht immer identifizieren konnten, tummelten sich in den sozialen Medien und wiegelten die Leute gegeneinander auf, um Unfrieden zu stiften. Kein Staat traute dem anderen, auch wenn man nach außen vorgab, politisch zu kooperieren, oder sich zum Kreis irgendwelcher Verbündeter zählte. Schillers Idealismus ‚Alle Menschen werden Brüder‘ hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Zum ersten Mal im Leben wankte mein Weltbild des klassischen Humanismus, das die Eltern mir auf so vorbildliche Weise nahe gelegt hatte. Wie um alles in der Welt sollen Menschen, deren Kulturkreise oder Religionen sich nicht ansatzweise über den Weg trauen, gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen? Mir wurde langsam klar, warum vor fünf Jahren in Indien die Welt nur so zögerlich geholfen hat. Und ein weiterer Umstand gab mir in jener Zeit zu denken: Mit dem Austritt der USA aus der NATO unter Federführung der „Lichtsekte“ ergab sich eine andere Polarisierung der Großmächte auf dem Globus. Auf der einen Seite durften technische Hilfsmittel, die aus den USA stammten, plötzlich nicht mehr genutzt werden und auf der anderen Seite ließen unerwarteterweise gerade die amerikanischen Abhörversuche in Deutschland nach. Unser Kontinent Europa interessierte die USA einfach nicht mehr. Man war aufgrund des mittlerweile auf das Dreifache gestiegenen Ölpreises stattdessen in einen handfesten und mit allen Bandagen geführten Handelskrieg mit China verwickelt und wollte gleichzeitig seine Verpflichtungen gegenüber dem Verbündeten Saudi-Arabien nachkommen. Dieser hatte wegen der Flüchtlingsströme aus dem Oman nach Norden den Notstand ausgerufen und sein Militär in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Hilfe von der UNO war nicht mehr zu erwarten und es bestand nach wie vor die Absicht, sich vor der Ebola-Pandemie in Afrika schützen zu wollen. Aber genauere Informationen bekamen auch wir im Cyberwar-Abwehrzentrum nicht. Was jedoch durch die von uns über dem Nahen Osten ferngesteuerten unbemannten Drohnen heraus kam, war der Umstand, dass sowohl Euphrat und Tigris als auch der Jordan an ihren mittleren Flussläufen fast vollständig ausgetrocknet waren. Wir registrierten in einigen Abhöraktionen, dass man sich dort mit aller Kraft gegen das einsetzende Massensterben stemmte. Doch die Wiege der Menschheit schien zu verdursten. Meine Anschauung von der Welt begann sich so durch mehr und mehr ambivalente Gedanken zu differenzieren und nach diesem Jahr des Pflichtwehrdienstes fühlte ich mich merklich erleichtert und wie befreit, den Blick von jenen, sicherlich nur ansatzweise erlebten menschlichen Abgründen weg wieder nach vorn richten zu können. Ich will studieren! Aber welches Fach? Auch darüber hatte ich schon früher oft mit den Eltern diskutiert und Mutter meinte, dass nicht eine spezielle Fachrichtung das Beste wäre, sondern die Zukunft in bestimmten Fachkombinationen liege. Das fand ich auch, denn genau diese übergreifende Sichtweise war damals in der Schule bei unserem objektorientierten Unterricht das Ziel der Methoden- und Wissensvermittlung gewesen. Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für die Biophysik. Na klar, die Königin der Wissenschaften, die Physik brauche ich überall. Zusammen mit Biologie eröffnete sie mir Möglichkeiten, meinem Hobby ‚Umwelt‘ weiter nachzugehen und vielleicht später auch, mich auf dem Gebiet der Bionik zu spezialisieren. Dort an der Schnittstelle zwischen Elektronik und Biologie, sind Physik, Medizin, Molekularbiologie und im besonderen Kreativität und Phantasie gefordert. Das wäre wirklich fachübergreifend. Gesagt, getan.

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