Der verborgene Dämon

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Am anderen Morgen saßen wir schon recht zeitig gemeinsam am Frühstückstisch, aßen weiches Toastbrot und tranken Wasser. Immerhin. Papa schaltete noch mal mein Radio ein und wir bekamen durch die inzwischen ununterbrochene Berichterstattung mit, dass die Stromversorgung wohl im Verlauf des darauf folgenden Tages wieder sichergestellt werden könnte. Ich fragte, was denn mit der Schule sei. Mama lachte und meinte, die nächsten Tage könne ich getrost zuhause bleiben. Papa räumte die Einfahrt frei und brachte unseren Kombi wieder zum Laufen. Garten und Terrasse sahen zwar immer noch aus wie eine große Müllhalde, aber wir konnten wenigstens losfahren und versuchen, in irgendeinem Supermarkt etwas zu Essen aufzutreiben. In unserem Wohngebiet hatten einige Anwohner schmalere Straßen schon wieder grob vom Unrat befreit, dennoch mussten wir zweimal umkehren und einen anderen Weg Richtung Innenstadt suchen. Am Lebensmittel-Discounter angekommen, sahen wir etliche dunkelgrüne Mannschaftswagen. Die Polizisten waren mächtig bewaffnet, standen überall auf dem Parkplatz und am Eingang und sorgten dafür, dass die Leute diszipliniert blieben. Wir bekamen Brot, Mineralwasser, Zucker, Margarine, Nudeln und sogar etwas Wurst und brauchten nicht einmal dafür bezahlen. Ich unterbreitete Papa den Vorschlag, noch zu einem anderen Supermarkt zu fahren. Da wurde er überraschend ernst. Wenn das jetzt alle ausnutzten, bekämen viele gar nichts mehr. Das leuchtete mir ein und wieder zuhause angekommen, war Mama zufrieden mit dem, was wir ihr überreichen konnten. Tagsüber durfte ich mithelfen, weiter aufzuräumen. Ich kehrte mit gekonntem Schwung die letzten Stücke der herunter gefallenen Dachziegel zusammen und half Papa eifrig dabei, vom Rest unseres Gartenzaunes einige halb schräg hängende Felder abzulösen und flach hinzulegen. Mama postierte für spätere Stunden vorsorglich an mehreren Orten Kerzen und Zündhölzer. Doch am Abend dann sahen wir plötzlich die Straßenbeleuchtung angehen. Endlich! Papa lief zum Hauptschalter und alles ging wieder. Das Treppenhauslicht brannte, weil es gestern nicht ausgeschaltet worden war, der Kühlschrank sprang an und Mama prüfte die Jalousien im Erdgeschoss. Zum Essen bereitete Mama Nudeln und Tomatensoße vor und als wir anschließend zusammen vor dem Fernseher saßen, um die Nachrichten zu verfolgen, waren sich die Eltern mit tief besorgten Gesichtern einig, was wir für ein Glück gehabt hatten. Überall in Europa hatten sich schwere Unfälle ereignet. Aufgrund der Schnelligkeit, mit der das Orkantief über den Kontinent gefegt war, hatte man den Bahnverkehr nicht rechtzeitig stoppen können. Züge waren an vielen Orten wegen Oberleitungsschäden auf freier Strecke stehen geblieben und die Menschen mussten darin ausharren. Der gesamte Luftverkehr war zwar Richtung Süden umgeleitet worden, dennoch drückte eine Böe am Frankfurter Flughafen ein noch notlandendes Flugzeug zu Seite und verursachte einen Absturz mit vielen Toten und Verletzten. Im ganzen Land hatten sich zahllose Straßenverkehrsunfälle ereignet. Strommasten und Funktürme waren wie die Streichhölzer eingeknickt und umgestürzte Bäume blockierten Straßen und Wege. Dächer sind abgedeckt worden und Baukräne umgefallen. In den Großstädten hatten umherfliegende Verkehrsschilder und Werbetafeln viele Menschen verletzt, die nicht mehr rechtzeitig nach Hause gekommen waren. Die Funknetze waren wegen Überlastung zusammengebrochen und in vielen Ortschaften die Einkaufsmeilen durch zu Bruch gegangene Schaufensterscheiben und herabgefallene Dachstücke verwüstet. Erste freigegebene Hubschrauberaufnahmen zeigten über dem Schwarzwald das ganze Ausmaß der Waldschäden und der Zerstörungen an Hochspannungsleitungen. In unserer Region hatte man schon vor Jahren auf Druck der Landesregierung gegen die Bundesnetzagentur über weite Strecken Erdkabel verlegt und dieser Umstand hat uns offenbar jetzt den Strom schnell zurückgebracht. In anderen Bundesländern dagegen blieb die Situation noch immer angespannt. Bundeswehr, Technisches Hilfswerk und örtliche Feuerwehren kämpften überall rund um die Uhr, um die schlimmste Not zu lindern. Betroffen gingen wir an diesem Abend zu Bett, schliefen aber bereits besser als zuvor, und in den nächsten Tagen normalisierte sich alles langsam. Viele Menschen halfen beim Aufräumen, um die Straßen sicher befahren zu können. Ich musste wieder zum Unterricht und auch meine Eltern gingen wie immer ihren beruflichen Obliegenheiten nach. Im Fernsehen war der Orkan Thema Nummer eins. Auch in der Schule behandelten wir dieses Ereignis. Viele Klassenkameraden berichteten aus ihrem weiteren Familienkreis über schlimme Folgen. Im Südwesten Deutschlands hatten viele Menschen noch zwei Tage später keinen Strom, viele Industrieanlagen standen still und hatten nun Mühe, ihren Betrieb wieder aufzunehmen. Die Lehrer sprachen mit uns über alles. Sie erklärten, wie und warum der Anstieg der mittleren Temperatur der Atmosphäre solche Folgen nach sich zieht und wir lernten, welchen volkswirtschaftlichen Schaden ein Orkan anrichten kann und dass wir uns im naturwissenschaftlichen Unterricht anstrengen sollten, um die Vorgänge in der Umwelt noch besser verstehen zu können. So wurde an unserer Schule der sogenannte „objektorientierte Unterricht“ neu eingeführt. Das war eines der wahlweise obligatorischen Angebote, die ab der sechsten Klasse fachübergreifendes Wissen vermitteln sollten. Wir behandelten zum Beispiel das Thema „Wasser“. Dies beinhaltete nicht nur Wasserkreisläufe, wie wir sie aus dem Erdkundeunterricht kannten oder die Aufbereitung von Abwasser und die Wasserversorgung der Bevölkerung, die uns die Umweltkundelehrerin erklärt hatte. Wir lernten viel mehr: Warum schwimmt ein Schnipsel Papier auf der Wasseroberfläche und warum klappt das nicht mehr, wenn man etwas Spülmittel dazu tut? Wir ließen Wassertropfen auf einer heißen Kochplatte tanzen. Von einem nahegelegenen Tümpel brachten wir einige Proben trüber Brühe mit und konnten unter dem Mikroskop viele Kleintierchen darin beobachten. Warum wird dieses Lebenselixier elektrisch leitfähig, wenn man Salz dazu gibt? Was passiert dann mit den Tierchen? Warum steigt das Wasser in dünnen Röhrchen von alleine nach oben? Fragen über Fragen, die allerdings erst einmal gestellt sein wollen, bevor man ihre Beantwortung interessant finden kann. Und mit diesen Antworten lernten wir die Bedeutung und die Kraft des Wassers kennen und verstanden, wie Süßwasser beim Gefrieren Kristalle bildet und warum das uralte Eis in Grönland auch ganz schnell wieder auftauen kann. Solcherlei Unterricht bereitete Spaß und ermöglichte uns, später in anderen Zusammenhängen über den Tellerrand eines Unterrichtsfaches hinaus zu schauen. Zum Glück ist mir die daraus erwachsene Neugier über die nächsten Jahre erhalten geblieben, obwohl die Mädchen der Klasse – und freilich auch die der Nachbarklassen – seltsamerweise immer hübscher wurden. Das lenkte natürlich in keiner Weise vom Schulischen ab, obwohl man diesem überaus erfreulichen Umstand von Zeit zu Zeit unbedingt eine gehörige Portion verstärkte Aufmerksamkeit widmen musste.

So wurde ich langsam erwachsen, genoss meine Jugendzeit und nahm dabei kaum wahr, welche Entwicklungen in der Welt unterdessen immer bedrohlicher wurden. In Polen waren zwei Sommer nacheinander durch längere Trockenphasen die Getreideernten um ein ganzes Drittel geringer ausgefallen, als üblich. In Kasachstan hatten Heuschreckenschwärme einen Großteil der landwirtschaftlichen Erträge zerstört und Mittel- und Westeuropa wurde weiter von der asiatischen Buschmücke geplagt. Die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen mit Denguefieber erreichte immer neue Rekorde und führte aufgrund der notwendigen Schutzmaßnahmen zu Kosten in Milliardenhöhe und damit zu erheblich gestiegenen Krankenkassenbeiträgen. Dennoch war das gesellschaftliche Umfeld, in dem wir uns damals bewegten, trotz der Ideen und Bemühungen unserer Lehrer nicht von viel Verständnis für ökologische Probleme geprägt. Nennenswerte Umweltbewegungen existierten nicht mehr und warnenden UN-Organisationen schenkte man keinen Glauben. Es schien, als sei menschliche Flexibilität in Phlegma umgeschlagen. Stattdessen nahmen internationale Konflikte und deren Schärfe zu und die Zahl diplomatischer Verwicklungen zwischen den Staaten beunruhigte die Erwachsenen zunehmend. Wie wir Schüler der siebten Klasse im Umweltkundeunterricht erfuhren, wurde im Süden der Türkei ein Mammut-Staudammprojekt umgesetzt. Zweiundzwanzig Staudämme, neun Elektrizitätswerke und fünfundzwanzig riesige Bewässerungsanlagen sollten gebaut werden. Die Lehrer hatten uns immer ermuntert, im Unterricht unsere Meinungen zu sagen und miteinander zu diskutieren, und so meldete ich mich und meinte, dass Wasserkraft doch eine vernünftige Sache sei. Fürs Klima prinzipiell richtig, bestätigte die Lehrerin, wandte aber ein, wir dürften die gewaltigen Umweltschäden und die gesellschaftlichen Folgen nicht vergessen. Sie erzählte uns, dass über einen Zeitraum von vielen Monaten über neuntausend Dörfer und Kleinsiedlungen geräumt, eine Vielzahl von Kleinbauern ruiniert und insgesamt fast einhunderttausend Menschen vertrieben worden waren. Auch der Eingriff in die Natur war ein einziges Desaster. Sie bereitete an ihrem Laptop verschiedene Dateien vor und dann sahen wir eine filmische Dokumentation an, die schon uns unerfahrene Schüler die Köpfe schütteln ließ. Der Rückstau beider Flüsse Euphrat und Tigris flutete oberhalb der Staudämme historischen Kulturlandschaften und unterhalb vertrocknete das Schwemmland. Die zu geringe Bewaldung der Berghänge zog deren Oberfläche in Mitleidenschaft und das Erdreich rutschte in die Stauseen, die daraufhin zu verschlammen drohten. In den Gebieten, die man bewässern wollte, stieg der Grundwasserspiegel, was vermehrt Bodensalze nach oben beförderte. Experten mussten sich eingestehen, dass auf salzhaltigen Böden auch mit zusätzlicher Bewässerung kein vernünftiger Ertrag mehr zu erzielen ist. Weitere Filmausschnitte zeigten, wie dem neu entstandenen Kurdistan, dem Protektorat Amerikanisch-Syrien und dem wahhabitischen Kalifat die eigenständige Versorgung mit Trinkwasser entzogen wurde. Beide Flüsse, die früher das fruchtbare Zweistromland versorgt hatten, begannen an ihrem Mittel- und Unterlauf auszutrocknen. Die Lehrerin erklärte uns, dass der Kampf ums Wasser fast einen neuen Krieg auslöste, der nur in allerletzter Minute verhindert werden konnte. Da wir das Thema interessant fanden, versprach sie, mit ihrem Kollegen zu reden, damit es im Politikunterricht weiterbehandelt würde. Das klappte prima und so setzte unser Politiklehrer, den ich wegen seiner väterlichen Art und seiner verständlichen Erläuterungen gern mochte, in den darauf folgenden Unterrichtsstunden genau bei diesen Inhalten fort. Er berichtete, dass dieser Kampf ums Wasser und die mit ihm verbundene Kriegsgefahr der anderen Weltmacht China nicht entgangen ist und Peking dazu veranlasste, seine Militärausgaben kurzerhand zu verdoppeln – was vor der Weltöffentlichkeit ganz unumwunden zugegeben wurde. Was er auch noch erwähnte: Seiner Theorie zufolge greift der Mensch in die Natur ein, das ruft eine Wechselwirkung natürlicher Prozesse hervor und deren Folgen wiederum beeinflussen dann das Handeln Dritter. Er bezeichnete dies als einen „kybernetischen Zusammenhang“. Das fand ich äußerst spannend. Er kehrte jedoch gleich wieder zum ursprünglichen Thema zurück und erläuterte, wie sich im Reich der Mitte mit der Aufrüstung auch die chinesische Raumfahrt weiter entwickelte. Dies ließ befürchten, dass – wie auch immer geartete – Weltraumtechnologie ebenfalls für militärische Zwecke genutzt werden würde. Von Experten war dieser Verdacht schon seit einer merkwürdigen diplomatischen Irritation diskutiert worden, über die der Politiklehrer uns in der nächsten Unterrichtsstunde einen Zeitungsartikel mitbrachte, den ich voller Wissbegier unter die Lupe nahm. Darin wurde von einem Fall berichtet, der sich bereits drei Jahre zuvor ereignet hatte. Unser Lehrer erklärte noch einmal die Vorgeschichte. Einige kleinere, aber brisante Pressemeldungen, die zunächst lanciert, jedoch sofort wieder dementiert worden waren, hatten zwar so gut wie keine öffentliche Beachtung gefunden, waren jedoch von einigen Regierungen in Europa sehr wohl mit Besorgnis registriert worden. In diesen Meldungen ist von einem eigenartigen Vorgang die Rede gewesen.

 

Was wurde aus R. K. und J. D.?

Aus Guizhou, einer der ärmsten Provinzen Chinas im Südwesten des Landes, berichteten Internet-Blogger, dass unter Reisbauern angeblich Paniken ausgebrochen waren. Zwei Journalisten R. K. und J. D., die sich auf der Suche nach möglichen Menschenrechtsverletzungen zu dieser Zeit in China aufhielten, sind daraufhin inkognito in jene Provinz gereist, weil sie Revolten gegen die örtliche Führung vermuteten und eventuelle Gegenmaßnahmen des Staates ans Tageslicht zu bringen gedachten. Als sie vor Ort eintrafen, müssen Reisbauern völlig verängstigt in ihren Häusern gesessen und wirres Zeug von Außerirdischen gefaselt haben. Die beiden beschlossen trotz der Gefahr, vom Geheimdienst entdeckt zu werden, sich mehr Zeit zu nehmen, um das Vertrauen der Bauern zu gewinnen. Sowohl die Älteren mit ihrem gebückten Gang, den zerfurchten Gesichtern und der traditionellen Kleidung als auch die wenigen Jüngeren in Jeans und T-Shirts berichteten von kreisrunden Flugzeugen, die lautlos gekommen und schnell wie Raketen, aber ohne wahrnehmbaren Antrieb wieder davon geflogen seien. UFOs? Möglich, aber höchstwahrscheinlich sehr irdische UFOs. Fotografische Dokumentationen standen nicht zur Verfügung und so zogen die zwei Journalisten ins Nachbardorf, wohin ihnen ihr Ruf, durchaus vertrauenswürdig zu sein, schon vorausgeeilt war und wo die Leute exakt das gleiche erzählten. Alle in der Gegend hätten panische Angst bekommen und wären, als gelte es, das nackte Leben zu retten, von den Reisfeldern sofort nach Hause gerannt, um sich in ihren baufälligen Hütten in Sicherheit zu bringen. Manche zitterten noch, als sie ihre unglaubliche Geschichte endlich jemandem von außerhalb erzählen konnten. Beiden Journalisten wurde offenbar schnell klar, dass sich hier etwas ereignet hatte, das die chinesische Führung um jeden Preis würde geheim halten wollen. Sie verabschiedeten sich vermutlich hastig und müssen sich dann getrennt voneinander auf abenteuerlichem Weg ins Ausland abgesetzt haben, wo sie ihre Recherchen doch tatsächlich der Netzgemeinde präsentieren konnten. Einmal veröffentlicht, führte dieses Thema dann schon noch zu einigen Diskussionen im Internet, aber der Ruf der Journalisten war ruiniert. Verschwörungstheoretiker! So zumindest war das offizielle Statement der chinesischen Staatspresse – nichts dran, an dem dummen Geschwätz der illegal Ausgereisten. Und so trumpfte wieder einmal der Joker „Verlogenheit“ auf. Was später von R. K. und J. D. in ihren weiteren beruflichen Bemühungen publiziert worden ist, hat man geschickt totgeschwiegen. Ihrer Laufbahn wurde allein durch die Fragestellung, ob bei den unbekannten Flugobjekten eventuell völlig neuartige Gravitationsantriebe ausprobiert worden sein könnten, weil man die dafür erforderlichen Gravitationswellen 2016 ja schon entdeckt hatte, ein jähes Ende bereitet. So blieb ihr Wirken erfolgreich unbeachtet und die Aufrüstung Chinas konnte trotz dieser kleinen Ärgernisse kontinuierlich weiter gehen. Man könnte meinen, die Menschheit hätte keine anderen Probleme …

Ich fragte unseren Politiklehrer, was denn eine „Verschwörungstheorie“ sei. Er schmunzelte und meinte, das sei eine Methode, um missliebige Wahrheiten als vermeintliche Lügen darzustellen. Man muss dieses System nur einmal etabliert haben, dann funktioniert es. Und zwar nach beiden Seiten: Genug Verwirrte in der Welt nerven mit ihren hanebüchenen Geschichten. Zum Beispiel solche, die behaupten, eine Mondlandung hätte niemals stattgefunden. Diese Leute kann man getrost als Verschwörungstheoretiker hinstellen, was in diesem Fall den Vorteil bietet, sich selbst auf die Seite der Sachlichkeit und Objektivität zu schlagen. Hat man dies mehrfach öffentlich glaubhaft getan, kann jeder Andere, der tatsächlich wissenschaftlich exakt vorgeht, aufmerksam beobachtet, ehrliche Notifikation betreibt und die Seriosität zu seinen Prinzipien zählt, bei allem, was er äußert, ebenfalls als Verschwörungstheoretiker denunziert werden, was in diesem zweiten Fall den Vorteil bietet, auch wahre Informationen wunderbar verunglimpfen zu können. Ich war erschrocken darüber, mit welcher Raffinesse sich die Leute gegenseitig hinters Licht führen. Unser Lehrer muss meine verzweifelte Miene wohl richtig gedeutet haben und ergänzte, dass rechtschaffene Methodenkompetenz sich solcher Verfahren ja nicht unbedingt bedienen müsse. Das verstand ich nicht wirklich, grinste aber erstmal sehr wissend und war froh, dass die Schule für heute vorbei war. Am Nachmittag wachste ich die Skier und begab mich auf den Weg zu Gabi aus der Nachbarklasse, um sie zu einer kleinen Tour durch den verschneiten Wald hinter unserem Wohngebiet zu überreden. Ich klingelte. Ihre Mutter öffnete und schüttelte bedauernd den Kopf. Gabi sei heute mit ihrer Freundin in die Stadt gefahren. Die Tür fiel ins Schloss und ich stand etwas ratlos und enttäuscht auf meinen Skiern. Dann eben doch nur eine kleine Tour allein, es wird sowieso bald dunkel. Ich kann anschließend auch noch die Hausaufgaben für nächste Woche anfangen, nahm ich mir vor. Später, nach dem Abendessen saß ich – wie so oft – mit den Eltern vor dem Fernseher. Wir unterhielten uns über verschiedene Alltäglichkeiten und schauten die Nachrichten. Danach fesselte uns ein interessanter Beitrag, in dem Meteorologen und Experten angrenzender Fachgebiete auf Veränderung der Passatwinde im Indischen Ozean hinwiesen. Der indische Monsun als Ganzes stellte bisher eine verlässliche Klimaerscheinung mit nur relativ geringfügigen Schwankungen im Verlauf längerer Zeiträume dar. Doch man zeigte anschaulich, wie die Passatwinde der unteren Troposphäre die Richtungsstabilität der jährlichen Monsunströmungen verändern. Alle warnten eindringlich davor, dass in diesem Jahr mit frühzeitig einsetzenden und starken Monsunregen zu rechnen sei. Mit Nachdruck rieten die Wissenschaftler den betroffenen Ländern, umfangreiche Vorbereitungs- und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Vater zog ein erstauntes Gesicht und Mutter meinte, dass das alles merkwürdig sei. Als der Abend zu Ende ging, dachte ich noch an Gabi. Vielleicht mochte sie nicht Ski fahren? Aber der Winter ist ja schon fast vorbei, dann kommt wieder die Fahrradsaison. Anderentags sah ich Gabi in der Pause auf dem Schulhof, aber sie zeigt mir die kalte Schulter und unterhielt sich auffällig lange mit einem Jungen aus einer der Klassen über uns. Dafür stand jetzt ihre Freundin leicht gelangweilt daneben.

Nicht lange, und die Schneeglöckchen verblühten, die Tage wurden wieder heller. Mein Fahrrad wartete entstaubt und einsatzbereit in unserem Carport auf seinen ersten diesjährigen Einsatz, und Gabis ehemalige beste Freundin war jetzt meine beste Freundin. Sie lernte ebenfalls sehr gut in der Schule, erledigte ihre Hausaufgaben meistens im Handumdrehen und dadurch konnten wir beide oft Zeit gemeinsam miteinander verbringen. Bei sonnigem Wetter trafen wir uns im Freibad regelmäßig an einer verabredeten Stelle, breiteten unsere Luftmatratzen aus und lästerten nach Spiel und Spaß im noch zu kalten Wasser trefflich über ebenfalls anwesende Schulkameraden. Sonnenschein, Fassbrause, Softeis und zwei in Handtücher eingewickelte und mit blauen Lippen zitternde Teenager mit nassen Haaren – das waren die Zutaten eines glücklichen Frühjahrs. In dieser Jahreszeit mussten wir noch keine Angst vor der Buschmücke haben, obwohl das Wetter ungewöhnlich oft schon heiß und schwül war. Und dann kamen in den Nachrichten die ersten Meldungen über den viel zu früh einsetzenden Monsunregen. Schon im April ergossen sich auf dem indischen Subkontinent monatliche Niederschlagsmengen von mehr als zweitausendfünfhundert Liter pro Quadratmeter, was zuvor nur als Spitzenwert des Hauptmonsunmonates Juli und auch nur in der bis dahin am meisten bedrohten Provinz Cherrapunji beobachtet worden war. Sowohl der Ganges als auch die Flüsse Narmadi, Mahanadi und Godavari waren kurze Zeit später über ihre Ufer getreten und durch die unglaublichen und nicht enden wollenden Regenfälle innerhalb weniger Wochen auf eine Breite von vielen Kilometern angewachsen. Der Krishna im Süden Indiens bildete mittlerweile ein weitflächiges und langgezogenes Netz flacher Binnenseen. Von Juni bis August stiegen die Niederschläge noch einmal fast auf das Doppelte, nie da gewesene Sturzregen schier biblischen Ausmaßes überzogen viele Regionen. Überall im Land begruben gewaltige Erdrutsche und Schlammlawinen die Menschen unter sich, tiefer gelegene Ebenen hatten sich fast komplett in Tümpel-Landschaften verwandelt und in den Großstädten stand das Wasser meterhoch in allen Straßen. Erst nachdem Zehntausende durch Stromschläge, Ertrinken und einstürzende Häuserwände den Tod gefunden hatten, wurde landesweit das Militär aktiviert. In den großen Metropolen waren Hunderttausende in ihren Wohnungen gefangen. Geschäfte blieben geschlossen, das öffentliche Leben hörte auf. Das Wasser hatte Millionen Landarbeiter, Pilger und die Ärmsten der Armen aus der Kaste der Unberührbaren in unzähligen Regionen auf kleinen Inseln von der Außenwelt abgeschnitten. Die Armee versuchte, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen, musste aber wetterbedingt immer wieder Rettungsflüge aussetzen, eben errichtete Hilfsbrücken davon schwimmen sehen oder ihr eigenes schweres Gerät aufgeben. Überall herrschten Trinkwassermangel und Lebensmittelknappheit, weil die noch vorhandenen Vorräte vom Wasser mitgerissen und unbrauchbar gemacht worden waren. In den träge und behäbig dahin strömenden Flüssen trieben unter gleichmäßig dunkelgrauem Himmel Unmengen an Tierkadavern, Unrat und Müll und schon in den darauf folgenden Wochen hunderttausende Leichen vor sich hin. Die Stromversorgung wurde abgestellt, Telefonverbindungen existierten nicht mehr. In den Großstädten Mumbai und Kalkutta griffen Hungersnöte und Krankheiten um sich und in vielen kleineren und mittleren Städten brachen Proteste und Revolten aus.

In Bangladesch war das Mündungsdelta von Ganges und Brahmaputra komplett überflutet. Dort grassierten überall Ruhr, Typhus und Cholera, die Krankenhäuser waren völlig überfüllt und konnten nicht mehr helfen. Abermillionen Menschen begaben sich auf die Flucht nach Norden und entlang der wenigen Fluchtrouten ereigneten sich Massenpaniken und gewalttätigen Auseinandersetzungen. In der Zwischenzeit fanden die Larven der Anophelesmücke in den schier unendlichen Weiten stehender Gewässer auf dem gesamten Subkontinent ideale Bedingungen vor. Myriaden der Blutsauger im ländlichen Raum, in den Slums der Großstädte, in Wohnungen und öffentlichen Gebäuden führten dazu, dass sich die Malaria epidemisch ausbreitete. Bangladesch war völlig überfordert, aber auch in Indien brach nun die Wirtschaft zusammen. Die landesweite Verteilung von Treibstoffen, Lebensmitteln und Medikamenten scheiterte an von Schlamm bedeckten Straßen, eingestürzten Brücken, unterspülten Eisenbahnlinien oder schlicht an fehlenden Hilfskräften. Organisationsstrukturen funktionierten nicht mehr, Industriebetriebe standen still. Viele Menschen gaben sich jetzt nur noch ihrem Karma hin und erwarteten demütig ihr Schicksal. In dieser ausweglosen Situation hat Indien seinen Nationalstolz zur Seite gelegt und in einem eindringlichen Appell an die Weltgemeinschaft um Hilfe ersucht. Die Führung Chinas bot an, Teile ihrer Landstreitkräfte zu entsenden, was man in Neu-Delhi allerdings dankend ablehnte. Die UN beschloss, eine sogenannte Geberkonferenz einzuberufen, auf der eine Unterstützung von etwas mehr als zwei Milliarden Dollar bewilligt wurde. Bis dieser eher symbolische Betrag aber zusammenkam und vor Ort zur Verfügung stand, sollte einige Zeit vergehen. Wer bis dahin einen Rest Lebensmut aufbrachte, begab sich auf den Weg nach Westindien in die Küstenregion des Bundesstaates Maharastra, denn hier – nördlich von Mumbai – sahen die Menschen ihre Chance, dem Chaos zu entkommen. Immer mehr versammelten sich und dann setzte der große Flüchtlingsstrom ein. Als wolle sich mit der letzten Kraft der Verzweiflung eine eigenständige Industrie entwickeln, wurden Wälder gerodet, Unmengen an Holz zur Küste gebracht und Boote über Boote gebaut. Hunderttausende zimmerten an ihrer Flucht nach Arabien. Der Landweg Richtung Iran war versperrt, da Pakistan, obwohl selbst vom Monsun betroffen, seine Grenze zum inzwischen wehrlosen Indien komplett abgeriegelt und sich dabei auch noch einiges Terrain einverleibt hatte. Also blieb nichts anderes übrig, als die mehr als tausendfünfhundert Kilometer bis nach Oman über das Arabische Meer in selbstgebauten Fischerbooten zu wagen. Und diesen Wahnsinnsversuch unternahmen viele, sehr viele. Finanziell großzügig von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt, bereitete sich auf der anderen Seite des Meeres das Sultanat Oman in einer beispiellosen Aktion auf diese Flüchtlingswelle vor. Logistisch perfekt ausgestattete Auffanglager an der Küste wurden errichtet und hunderte hochseetaugliche Schiffe für Rettungsaktionen gechartert. Eben waren noch schnell ein paar Verwaltungsvorschriften für die Ankömmlinge erlassen worden, und dann wähnte man sich gerüstet. Vielleicht stand hauptsächlich der Wunsch nach mehr billigen Arbeitskräften aus dem Ausland dahinter, vielleicht trugen diese Bemühungen aber auch tatsächlich humanitären Charakter. Saudi-Arabien jedenfalls sah die Entwicklung mit wachsender Besorgnis und konsultierte zunächst seinen Verbündeten, die USA. Derweil ging in Indien die Katastrophe immer weiter. Entsetzliche Bilder schockierten die Welt. Vor den Kameras verzweifelter und hilfloser Berichterstatter raffte der Tod die Menschen dahin und trotz der nunmehr zögerlich einsetzenden internationalen Hilfe wollte das Sterben nicht aufhören. Eine mediale Sturmflut überrollte den Globus und brachte das alltägliche Leben aus der Fasson. Proteste wurden laut, wichtige Menschen oder solche, die sich für wichtig hielten, meldeten sich über Monate auf den weltweiten Fernsehkanälen mit Aufrufen, Kritiken oder Kommentaren zu Wort. Warum wird nur so zögerlich geholfen? Wo bleiben die großen Militärmächte? Wo bleibt der menschliche Zusammenhalt? Noch ein halbes Jahr später, als das Wasser wieder gegangen war und Indien den Tod von mehr als achtzig Millionen Menschen und den kompletten wirtschaftlichen Zusammenbruch konstatieren musste, ereiferten sich die ungeschoren Gebliebenen in scheinheiligen gegenseitigen Vorwürfen, zu wenig unternommen zu haben. Selbst Zyniker erhielten Applaus für ihre menschenverachtende Aussage, dass die indische Bevölkerung ja nicht einmal um ein Zehntel dezimiert sei. Und schon gaben sich die ersten hochkarätigen Wirtschaftsdelegationen verschiedener Staaten in dem geschundenen Land die Klinken in die Hand – schneller als zuvor irgendeine Hilfe eingetroffen war. Aber eine öffentliche Diskussion darüber, was diese Naturkatastrophe verursacht hatte und wie man Vergleichbares in Zukunft würde verhindern können, fand kaum statt – und wenn, dann unter Experten und nur hinter vorgehaltener Hand. Man versuchte, wo immer möglich, das gesellschaftliche Leben in Gang zu bringen. Der Monsun des Folgesommers fiel wieder einigermaßen regulär aus, doch Indien und Bangladesch waren in die Steinzeit zurückgespült und durch die gewährten Wiederaufbaukredite in die vollständige politische Abhängigkeit gerutscht.

 

Die Welt fand langsam den Weg in den Modus der alltäglichen Geschäftigkeit wieder. Das Leben musste weiter gehen und die Erderwärmung schloss sich dem an. Das lokale Wettergeschehen hatte sich von der Allgemeinheit unbeobachtet in vielen Regionen der Erde gewandelt, ganz allmählich häuften sich die Extreme. Die jährlichen Tornados über den USA wurden fast nur als F4- oder F5-Stürme auf der Fujita-Skala eingestuft, die Phasen von Trockenheit und Waldbränden im Mittelmeerraum hielten immer länger an und in den gemäßigten Breitengraden nahm der Niederschlag in den Sommermonaten den Charakter ungebremster Sturzregen an, was allerorten regelmäßig zu lokalen Überschwemmungen, Schlammlawinen und geschädigter Infrastruktur führte.

Von all den Geschehnissen sind mir hauptsächlich die Momente in Erinnerung geblieben, in denen ich zusammen mit den Eltern, die die Tränen in ihren Augen oft nicht verbergen konnten, vor dem Fernseher saß und sich die Bilder sterbender Menschen in mein Gehirn eingebrannt hatten. Aber ich erinnere mich auch an andere Momente, in denen weniger dramatische Meldungen als diejenigen über schreckliche Naturkatastrophen meine Aufmerksamkeit fanden. Mit fünfzehn Jahren nimmt man schon große Teile der Erwachsenenwelt bewusst als die eigene wahr und so entging mir nicht, dass die Bienenvölker in Nordamerika ausstarben und man sich zur Bestäubung von Kulturpflanzen mit Zuchtvölkern helfen musste. Interessiert las ich auch Pressemeldungen über die eingeschleppte Unkrautpflanze Ambrosia, die sich im Untergehölz der mitteleuropäischen Mischwälder unkontrolliert ausbreitete und damit den Lebensraum einheimischer Flora und Fauna wesentlich beeinträchtigte. Ich registrierte ebenfalls die alarmierenden Verlautbarungen, dass die Staatsverschuldung mehrerer großer europäischer Staaten auf die sagenhafte Höhe des jeweiligen dreifachen Bruttoinlandsprodukts stieg und dadurch von den Hütern der Finanzen selbst im Nachgang eine schwere Finanzkrise ausgelöst wurde. Obwohl volkswirtschaftliches Gedankengut für mich eher ein Buch mit sieben Siegeln blieb, gingen dennoch die konkreten Auswirkungen auf unseren familiären Geldbeutel auch an mir nicht spurlos vorbei. Mutter klagte häufig über mangelhafte Einlagensicherung, gestiegene Krankenkassenbeiträge, immer höhere Lohnsteuern und immense Energiekosten. Deshalb musste ich mich leider damit abfinden, dass mein Taschengeld um einen nicht unerheblichen Betrag gekürzt wurde. Die Eltern benötigten etwas Geduld, mein Verständnis zu erringen, aber sie erklärten mir die Ursachen. Die Preise auf dem Energiemarkt hatten sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt – und das, obwohl Investitionen in erneuerbare Energiequellen überall auf der Welt schon seit einiger Zeit stagnierten und damit der Anteil nichtfossiler Quellen am Primärenergieverbrauch nicht steigen konnte – was dringend erforderlich gewesen wäre. Der weltweite Mangel an sogenannten seltenen Erden, die man für die Herstellung von Photovoltaikanlagen benötigt, ermöglichte China, als einziger verbliebener Exporteur die hohen Preise zu diktieren, und das führte fatalerweise zu einem erneuten Anstieg der Erdöl- und Kohlenachfrage.