Der verborgene Dämon

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„Jamina meint, du sollst jetzt unter die Schriftsteller gehen!“ Gernot schmunzelt.

„Na, eher unter die Chronisten. Mit Poesie hat‘s Vater dann doch nicht so“, spöttelt Lisha und ergänzt: „Aber wir helfen dir auch – wenn du magst!“

„Na ja, Kinder, wenn ich einigermaßen objektiv berichten will, dann werde ich auf eure Hilfe auch angewiesen sein. Die eigene subjektive Sicht kann man mit noch so viel Abstand zur Realität zu schärfen versuchen, aber umfassender wird sie deshalb nicht. Eure Erfahrungen in Lagos, Bukarest oder Tianjin sind doch vielfältiger als das, was ich in dieser Zeit in Deutschland erlebt habe“, und füge leise und mit leicht gesenktem Blick hinzu: „Yvonne kann ich ja nicht mehr fragen.“

„Wie willst du’s denn angehen, Vater?“, interessiert Gernot sich, ohne auf meine vorangegangene Bemerkung einzugehen. „Ich habe noch einige Zeitschriften aus meiner Studienzeit, die du auch auswerten könntest.“

„Na, mal langsam.“ Ich bremse die beiden, die sich offenbar freuen, dass ich der mir von Jamina angetragenen Aufgabe mit Schaffensdrang entgegensehe. Die zwei beargwöhnen jedes Mal meinen gelegentlichen Müßiggang, den die geringe Größe unseres Vorgartens oder auch mein nicht mehr ganz so taufrischer Zustand von Zeit zu Zeit nach sich ziehen. „Ein Tagebuch jedenfalls wird’s nicht. – Was ich aufschreibe, ist ja nicht egal. Aber es ist egal, an welchem Tag.“ Nur fertig werden muss das Buch, bevor mich die Raben holen, murmele ich in mich hinein. Der vertraute Griff des Gehstocks gibt mir beim Aufstehen etwas Sicherheit und Gernot hilft mir bis auf die ersten Stufen der Treppe. „Schlaft gut, Kinder!“ Oben angekommen, gehe ich zum Schlafzimmer. Der Sturz vorhin hat meinen Stolz verletzt, so etwas ist mir seit Ewigkeiten nicht passiert. Immer noch schmerzt der Kopf und die Knie zittern. Beim Zubettgehen wird mir meine Verletzlichkeit bewusst und dass ich womöglich nicht mehr viel Zeit habe. Mann, Mann, ich werde mich anstrengen und zügig arbeiten müssen, wenn ich alles aufzuschreiben will. Auch Methusalems beißen irgendwann mal ins Gras.

Auf der rechten Seite liegend schlage ich die Augen auf. Ein neuer Tag. Mein Blick richtet sich zum Kopfende, wo auf dem Nachttisch ein halbleeres Glas Wasser wartet und der uralte Wecker mit beruhigender Regelmäßigkeit vor sich hin tickt. Viertel nach sieben. Ein Moment vergeht, bevor die letzten Traumwirren aus dem Kopf verschwunden sind. Beide Knie angezogen, stütze ich mich ab und schwenke in den aufrechten Sitz. Die Füße kommen so genau an den ebendort gestern Abend stehen gelassenen Pantoffeln an. Alter Perfektionist, grinse ich und mustere die unförmigen Zehen. Mittlerweile habe ich diese Verstümmelungen akzeptiert, aber Schmerzen sind meine häufigen Begleiter. Na, komm, muntere ich mich auf. Heute Morgen geht’s schon wieder etwas besser. Ich nehme einen Schluck Wasser, stecke die Füße bis über die Sprunggelenke in diese Pantoffel-Konstruktionen, deren Gummisohlen mir Gernot aufgeraut hat, damit ich auf den glatten Holzstufen der Treppe auch wirklich Halt fände, und schließe die Klettverschlüsse über den unteren Schienbeinen. Im Bad schaltet der Bewegungsmelder das Licht an. Rasieren?! Werde ja nicht nachlässig, Methusalem! Beim Blick in den Spiegel fallen mir wieder ein paar neue Falten auf – oder trage ich die schon länger? Zum Glück habe ich über die Jahre kein Doppelkinn bekommen. Nach allen üblichen Prozeduren und dem darauf folgenden Ankleiden gehe ich hinüber in die Wohnküche, von wo aus die Fenster an der Stirnseite des Häuschens in den Vorgarten an der Straße und das kleinere Fenster in der Dachgaube zum Nachbargrundstück blicken lassen. Ich drücke den einzigen Knopf an der Kaffeemaschine, schneide zwei Stück vom leckeren, nigerianischen Bananenkokoskuchen ab und positioniere sie gegenläufig auf einem Teller. Als ich mich mit Tasse, Teller und einer kleinen Gabel bewaffnet am Tisch in der Mitte des Raumes hinsetze und das erste der beiden Kuchenstücke zu zerteilen beginne, fällt mir auf, wie althergebracht alles geblieben ist. Ich schaue mich in meiner Wohnung um. Gemütlich, ja. Aber die Ausstattung, von der ich annehme, dass sie bei anderen Leuten zumindest hier in unserem Ortsteil nicht luxuriöser ausfallen dürfte, ist doch geblieben, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Die Stromversorgung, die Haushaltsgeräte, die Einrichtungsgegenstände, die Kommunikationsmittel sind doch jetzt am Ende des 21. Jahrhunderts im Wesentlichen die gleichen, die meine Eltern und Großeltern auch schon hatten – oder zumindest kannten. Der Kühlschrank arbeitet immer noch mit einer Wärmepumpe und die Waschmaschine immer noch mit einer rotierenden Trommel. Nur was früher als Fernseher bezeichnet wurde, ist heute der 3D-Viewer, der beliebig vielen Personen davor je zwei Bilder in die Pupillen projiziert und damit personalisierte räumliche Eindrücke vermitteln kann. Aber Türen und Fenster haben immer noch ganz normale Drehgriffe und Heizungsthermostate funktionieren immer noch mit Bimetall-Streifen. An diesem ganzen Alltagskrempel hat sich fast nichts verändert. Dabei habe ich mich schon mit knapp dreißig mit ‚Human Interfaces‘, den Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine beschäftigt. Mein gesamtes Forschungsteam war damals euphorisiert und von dem Drang beseelt, die Zukunft zu erfinden. Gedanken, nervliche Impulse sollten genügen, unsere Umwelt bedienen und beeinflussen zu können, den Menschen die Handhabung ihrer Umgebung noch leichter zu ermöglichen. Künstliche Intelligenz! Wie viele Fiktionen von vernetztem Leben, von computergesteuerten Städten oder völlig automatisierter Produktion begeisterten uns damals?!

Ich nehme mir genüsslich das zweite Kuchenstück vor.

Fast nichts von diesen Fiktionen ist in den letzten sechzig Jahren im Alltag angekommen. Freilich hielt technischer Fortschritt Einzug und natürlich – obwohl, so natürlich ist das gar nicht – begeisterte man sich über Erfindungen und Entdeckungen und Entwicklungen in verschiedenen Bereichen der Grundlagenforschung. Doch vieles davon ist in den Schubladen der Militärs verschwunden und war von Anbeginn nicht für den kleinen Mann gedacht – jedenfalls nicht, solange moralischer Verschleiß noch keine Rolle spielte. Wie mein Großvater mir in jungen Jahren mal erzählte, muss es damals in vielen, auch alltagsrelevanten Bereichen immense wissenschaftliche Neuerungen gegeben haben, die die Menschen dazu verführten, an eine gloriose Zukunft zu glauben. Tatsächlich aber wurden bereits im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts ganz allmählich die Bedingungen geschaffen, unter denen der Dämon begann, aufzuwachen.

Ich hole mir noch eine Tasse Kaffee, der Kuchen war wieder lecker. Das muss ich Lisha unbedingt heute noch mal sagen. So, und nun wird mir langsam klar, welche Mühe auf mich zukommt. Derart ungeordnet, wie mir die Gedanken durch den Kopf schwirren, kann ich sie nie und nimmer aufschreiben. Ich muss das alles besser systematisieren. Woran liegt das eigentlich, dass der erste Gesamteindruck, der im Kopf entsteht, sobald ich mich auf die Vergangenheit konzentriere, meist mit einem Gefühl der Verbitterung einhergeht?

„Vater?“, höre ich meinen Sohn unten rufen.

Ich stehe auf und gehe langsam zur Treppe. „Was ist, Gernot?“

„Ich fahre jetzt in die Stadt. Lisha ist mit Federico draußen!“

„O.k., und sieh mal zu, dass du ein paar Schreibblöcke mitbringen kannst!“

„Wird gemacht!“ Die Haustür fällt ins Schloss und ich wende mich mit dem Gehstock von der Treppe hin zur Seitentür, die in mein Arbeitszimmer führt. Ein massiver Schreibtisch aus hellem Holz und eine übergroße Regalwand dominieren den Raum. Allerdings ist in etlichen Fächern, die keine Bücher beheimaten, mehr oder weniger wichtiger Kleinkram einsortiert, teilweise nur beiläufig abgelegt. Auf dem Schreibtisch häufen sich verstreut liegende Zettel, ein Stapel mit unerledigter Post und das halbherzig angefangene Tagebuch mit seinen ersten Einträgen. Die Lesebrille liegt oben darauf. Ich lasse mich in meinen etwas seitwärts des Schreibtisches stehenden alten Ohrensessel fallen und versuche, eine Strukturierung zu entwerfen. Trotz der hochwichtigen Obliegenheiten im Vorgarten, die ohne größere floristische Verluste auf den halben zeitlichen Aufwand würde reduziert werden können, nehme ich mir vor, täglich mehrere Stunden für mein Projekt zu verwenden. Vormittags Erinnerungen, Notizen, Systematisierungen und Recherchen. Und nachmittags werde ich „den Griffel spitzen“. Ab und zu können die Kinder ja mal Korrektur lesen. Mir hilft das im Sprachgebrauch und sie nutzen die Gelegenheit, ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen mit einzubringen. Außerdem benötige ich Plätze für Papier, Entwürfe und Korrekturen – ich schaue mich im Zimmer um und dann bleibt mein Blick an dem kleinen Bild im silbernen Rahmen neben der Schale mit Stiften und Büroklammern hängen. Yvonne! Na, meine Liebste? Wo treibt sich deine Seele gerade herum? ‚In den Köpfen einiger Menschen‘, würdest du jetzt sagen. Ich weiß. Deswegen hat dein Bild keinen schwarzen Flor an einer der unteren Bildecken. In mir und den Kindern lebst du weiter. Ich muss lächeln und werde doch wieder nachdenklich.

Soll ich den Eid brechen? Selbst auf die Gefahr hin, dass die Amerikaner mich vorzeitig ins Jenseits bugsieren? Ja, ich weiß: Yvonne, du würdest mein Projekt unterstützen. Oder meintest du: Blicke nicht in die Vergangenheit, sondern kümmere dich um die Zukunft? Ist das in diesem Fall nicht sogar das Gleiche? Nur nach vorn schauen – das ist für junge Menschen richtig. In meinem Alter darf man aber zurückblicken, denn da liegt ein Erfahrungsschatz auf dem silbernen Tablett, der denjenigen, die noch tätig sein können, erst teilweise zur Verfügung steht. Vielleicht müssen die Alten weiterkämpfen und mit ihrer Erfahrung den Jungen helfen, anstatt in Erinnerungen zu versinken. Auch du, Yvonne, hattest einen immensen Erfahrungsschatz – was bist du nicht in der Welt herum gekommen, bis dein Engagement dir in Isfahan zum Verhängnis wurde. Du hattest keine Chance. Ich konnte mich nicht einmal von dir verabschieden, für uns warst du einfach nicht mehr da. Spüre ich da einen vorwurfsvollen Unterton? Nicht ungerecht werden, Methusalem, sage ich zu mir selbst. Das hätte sie nicht verdient. Ich glaube, sie spräche mir Mut zu: Nicht so viel sinnieren, dazu ist der Rest deiner Zeit zu knapp. Komm schon, Methusalem. Ich beginne meine Aufzeichnungen.

 

CHANCEN

Alles schien wie immer, und nur wenige Wissenschaftler und Spezialisten schrieben in internen Berichten von einigen rätselhaften Beobachtungen. In Nordamerika hatte bei Gewittern die Anzahl der Blitze stark zugenommen und in manchen afrikanischen Küstenstädten standen plötzlich überall riesengroße schmutzige Pfützen in den Straßen. In Bolivien war Anfang des Jahres 2016 der zweitgrößte See des Landes, der Lago Poopó, merkwürdigerweise ausgetrocknet. Monatelang herrschte akute Wasserknappheit in vielen großen Städten des Landes. Aber sonst ging alles seinen Gang.

Bei uns Zuhause spürte man davon offenbar nichts. Wie die meisten Menschen in Europa machten sich meine Eltern über solche Dinge keine Gedanken. Beide waren verbeamtet, hatten ein Niedrig-Energie-Haus gebaut, trennten gewissenhaft und ordentlich den Hausmüll und brauchten die Zukunft nicht fürchten. So sah die Welt aus, als ich laufen lernte und die Windeln hinter mir ließ. In meinen frühesten Kindheitserinnerungen sehe ich mich noch inmitten einer unübersichtlichen Menge Steckbausteine knien, mit denen ich höchst interessante Konstruktionen erschuf. Papa thronte in einiger Entfernung mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sessel der Couchgarnitur und las Zeitung, Mama hörte ich aus Richtung des in der offenen Küche platzierten und wegen seiner Lautstärke durchaus furchteinflößenden Kaffeeautomaten über die auf allen Kanälen ins Unendliche anwachsende Werbung schimpfen. Man hat wohl in dieser Zeit, in der Informationsüberschuss chic und zur Mode geworden war, die Welt mit Unwichtigem geflutet, um wichtiges - wo gewollt - gezielt untergehen lassen zu können. So war es offenbar auch Opa ergangen. Er hatte eine Berechnung angestellt, die die wichtigsten Faktoren berücksichtigte. Auf diese Art und Weise war er trotz der positiven Annahme, dass im Jahr 2100 mehr als die Hälfte aller Primärenergie aus CO2-neutralen Quellen stammen werde, zu einem wahrscheinlichen Temperaturanstieg von mehr als sieben Grad im Verhältnis zum Anfang des Jahrhunderts gekommen. Aber seine Botschaft hatte niemanden interessiert.

Ich wurde zu einer Zeit eingeschult, in der nach Öffnung der türkischen Grenze Richtung Balkan die zweite größere Flüchtlingswelle Mitteleuropa erreichte. Uns Erstklässler betraf dies aber nur dadurch, dass eines Tages mehrere, eher fremdartig aussehende und aus dunklen Augen ängstlich um sich schauende Neulinge, einige Jungen und mehrere Mädchen die Klassengruppe verstärkten. Aber es machte Spaß, mit ihnen zu spielen und zu toben – nur sprechen wollten die mit uns nicht so viel. Erst als die Lehrerin allen erklärte, dass die Neuen einfach unsere Sprache nicht kannten, haben wir verstanden, warum die untereinander immer so ein komisches Kauderwelsch redeten. Erst viele Monate später, als sie schon ein bisschen Deutsch konnten, haben sie uns erklärt, dass sie aus einem Land kämen, wo Flugzeuge alle Häuser kaputt gebombt und fremde Männer mit schwarzen Tüchern um den Kopf und schwarzen Fahnen ihren Müttern, Vätern oder den Geschwistern die Köpfe abgeschnitten hätten. Ungläubig lachten wir, dann weinten ein paar von ihnen und andere fingen an, sich wütend mit uns zu prügeln. Nachdem die Klassenlehrerin, eine kleine zierliche, aber energische Frau, das mitbekam, zeigte sie uns im Unterricht ausgewählte Fotos von schier endlosen Trümmerlandschaften und erklärte: Das waren einmal bunte Städte, in denen Kinder wie ihr gespielt und gelernt haben. Die Väter und Mütter sind jetzt tot. Vielleicht erschien ihr selbst das im Nachhinein zu hart, aber diese Konfrontation erzeugte Gefühle. Und sie lehrte uns, dass es außerhalb der für uns so friedlichen und glücklichen Erlebniswelt noch viele andere Regionen auf der Erde gab, in denen statt dessen Krieg, Hunger, Armut, Not und Krankheit zu den Selbstverständlichkeiten zählten. So standen uns Hiesigen die Tränen in den Augen und wir lernten, dass wir den Neulingen Respekt entgegenzubringen hatten und ihnen würden helfen müssen. Das wollten wir dann auch wirklich und so wuchs langsam etwas Vertrauen zwischen uns. Sie erzählten mehr von ihrer ehemaligen Heimat und davon, wie Kämpfer aus verschiedenen anderen Ländern sich dort gegenseitig ermordet haben. Aber obwohl sich die Lehrerin Mühe gab, einiges auf kindgerechte Art verständlich zu erläutern, wollten wir von Krieg nichts wissen. Natürlich nicht. Krieg passt nicht in die Köpfe von Kindern. Nur in die von skrupellosen Erwachsenen. Und so drehte sich unsere Welt einfach weiter. Wir lernten neue Zahlen und Buchstaben, ohne etwas von den Ereignissen zu ahnen, die sich in fernen Teilen der Welt anbahnten.

Auch ein Jahr danach bekam ich als wohlbehütet aufwachsendes Kind von diesen politischen Geschehnissen nicht viel mit. Erst viel später als Jugendlicher hat mir Vater mal erzählt, dass das Eingeständnis von 2020 eine Zäsur von Weltbedeutung gewesen sein musste: Damals hatte die UN zugeben müssen, dass hinsichtlich der Senkung der CO2-Emissionen bis dato nichts, aber auch gar nichts erreicht worden war. Alle Bemühungen, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen, zunehmend auf Kohlekraftwerke zu verzichten, insgesamt weniger Energie zu verbrauchen, hatten die jährlichen Emissionsmengen an Kohlendioxid nicht reduzieren können. Die internationale Zusammenarbeit an diesem Thema ließ daraufhin nach, viele Staaten zogen nun mehr und mehr nationale Alleingänge vor. An meiner Schule zuckten die Lehrer nur ratlos mit den Schultern, wenn sie sich darüber unterhielten. Für viele Menschen mit erhalten gebliebenem gesellschaftlichem Gewissen und Problembewusstsein war das ein Schock. Alles vergebens? Wirklich alles umsonst? Selbst unter Umweltaktivisten breitete sich Resignation aus. Die virtuelle Gemeinde der an Nachhaltigkeit und Ökologie Interessierten zerfiel. Kernkraftgegner mutierten zu Kernkraftbefürwortern, andere gaben auf oder wandten sich in spirituellem Frohlocken der neu entstandenen Sekte der „Lichtmenschen“ zu. Aber all das spielte für einen Zweitklässler keine Rolle. Ich interessierte mich vielmehr für Papas neuen Globus. Eine riesengroße Kugel, die wunderschön leuchten konnte, war mit feinsten Linien und Buchstaben bemalt. Ich wusste schon, dass sie unsere Erde darstellt mit all den fernen Ländern, Meeren und Gebirgen. Sie drehte sich in einem Halbkreis, der auf dem wuchtigen Sockel komischerweise etwas schräg befestigt war. In einem Display konnte man Namen von Flüssen oder Städten eingeben und dann leuchtete die jeweils richtige Stelle. Papa nahm sich viel Zeit, mir auf dem Globus Länder, Gebirge und Flüsse zu zeigen. Da gab es unseren Heimat-Kontinent Europa. Fast auf der anderen Seite lag Nordamerika mit den USA, die mit den übrigen Ländern nichts mehr zu tun haben wollten. Noch eine halbe Umdrehung weiter umfuhr Papa mit dem Zeigefinger eine große Fläche. Das war Russland, das in der Raumfahrt und im Cyberwar unbedingt die Macht haben wollte. Darunter zeigte er mir, wo die großen chinesischen Ballungsgebiete liegen, in denen jährlich Millionen Menschen nur an den Folgen der Luftverschmutzung starben. Anschließend drehte Papa die Kugel wieder etwas zurück und legt den Finger auf den Mittleren Osten. Hier bekriegten sich immer noch die Länder Iran und Saudi-Arabien. Ohne mit meinen knapp acht Jahren viel davon zu verstehen, erzählte Papa noch, dass Russland sich in der Zwischenzeit aus dem Konflikt in Syrien zurückgezogen hat. Das bewog im Frühjahr 2022 die USA, in einer Blitz-Intervention große Teile des ehemaligen Syriens zu besetzen und diesen Staat kurzerhand zu einem amerikanischen Protektorat zu erklären. Kurz nach dessen Ausrufung wurden die USA von den schlimmsten Busch- und Waldbränden der jüngeren Geschichte heimgesucht. Zwölftausend Quadratkilometer südkalifornischer Fläche standen rund um Los Angeles in Flammen. Die Behörden sahen sich veranlasst, zehn Prozent des Stadtgebietes zu evakuieren. Für zirka dreihundertachtzigtausend Menschen mussten in entfernten Gebieten Notunterkünfte gebaut, die dazugehörigen Versorgungsverbindungen etabliert sowie die Umsiedlungsmaßnahmen durchgesetzt werden. Die Kosten des Löscheinsatzes, der Umsiedlungsaktion und der wirtschaftlichen Folgen hatten Kalifornien und damit die gesamte USA fast an den Rand einer Wirtschaftskrise gebracht. Viele Amerikaner sprachen damals von Sabotage oder Brandstiftung durch die Chinesen oder Russen. Diesmal wollte Papa, dass ich die geographischen Orte, an denen die großen Feuer brannten, selber auf dem Globus finde. Ich suchte lange nach Kalifornien und fand sogar Australien. Auch dort brachen etwa zum gleichen Zeitpunkt durch lang anhaltende Trockenheit nördlich der Millionenstadt Sidney großflächige Buschbrände aus. Hohe Temperaturen und starke Winde hatten dafür gesorgt, dass die Feuer sich soweit ausbreiteten, dass sie mit den zur Verfügung stehenden Löschmitteln nicht mehr bekämpft werden konnten. Die Konsequenzen für die Landwirtschaft waren unüberschaubar. Australien musste in der Folge Unmengen an Lebensmitteln importieren und rutschte so in eine fatale Staatsüberschuldung. Das Land wurde mit dem Problem allein gelassen und musste hilflos zusehen, bis sich das Inferno von selbst aufgezehrt hatte.

Einige Monate später, als ich mich auf die dritte Klasse freute, wurde Mitteleuropa von einer Hitzewelle geplagt. Ich kann mich noch an die heißen Sommermonate erinnern. Meine schulischen Leistungen waren in dieser Zeit ganz ansehnlich, weil der Umgang mit den kryptischen Symbolen des Alphabets und der Algebra mir eine Menge Spaß bereitete. So musste ich nicht allzu viel meiner nachmittäglichen Freizeit in die Erledigung von Hausaufgaben und Übungen investieren, sondern trieb mich stattdessen häufig irgendwo draußen herum. Die glücklichen Ferienwochen verbrachten meine Kumpels und ich – darunter auch einige von den Neuen – oft ganztägig im Schwimmbad, wir unternahmen Fahrradtouren oder stundenlange Exkursionen in das von unserem Haus nicht weit entfernte Waldstück, wo sich das dichte Unterholz mit ein wenig Geschick in kaum zu entdeckende Geheimquartiere umfunktionieren ließ. Uns Kindern haben die extremen Temperaturen offensichtlich kaum zugesetzt. Aber ich kann mich auch erinnern, dass viele Leute gestöhnt und gejammert haben. Mehr als zehn Wochen lang herrschten damals Tagestemperaturen von über fünfundvierzig Grad und nachts kühlte die Luft sich nicht mehr unter fünfundzwanzig Grad ab. Wir hörten oft das Martinshorn der Rettungswagen und die Eltern erzählten mir später, dass in diesen Monaten in ganz Europa Zehntausende älterer oder kranker Menschen an Schwäche gestorben sind. Versorgungsengpässe müssen den Leuten das Leben schwer gemacht haben, zum Beispiel bei den begehrten Kühlaggregaten, die dann nicht mehr frei gekauft werden durften, sondern nur für Krankenhäuser und die öffentliche Verwaltung reserviert worden sind. Und trotz der Proteste, die allein dieser Umstand auslöste, stiegen zudem auch noch die Preise, was zu berechtigtem Unmut in der Bevölkerung führte. Viele Leute wollten das nicht mehr hinnehmen und gaben sich der angeblich „selbstbefreienden“ Lebensweise hin. Sie sahen ihr Heil in der schon zuvor entstandenen Sekte der „Lichtmenschen“, die mit ihrem neuen Zentrum in den USA in dieser Zeit einen Zulauf von Millionen Begeisterten verbuchte.

Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte Opa mir die dicke, von einem gewaltigen Einweckgummi zusammengehaltene Mappe voller Berechnungen mit den Worten: Leon, bewahre dieses Geschenk gut auf. Auch wenn du das noch nicht verstehst, du wirst die Niederschriften irgendwann gebrauchen können! Seinen bedeutungsvollen Blick habe ich bis heute nicht vergessen. Dennoch vertraute ich den Packen Unterlagen dann ohne größeres Verlustgefühl meinem Papa an, war aber mächtig stolz, nunmehr Besitzer irgendeines, wie auch immer gearteten Schatzes geworden zu sein. Und als „Schatzbesitzer“ kann man seine Kinderzeit genießen, obwohl auch für unsere Familie damals die Lebenshaltungskosten immens gestiegen sein mussten. Ich bekam das mit, weil sich die Eltern um die Bezahlung meiner Schulbücher für die vierte Klasse zankten. Doch meistens versuchten sie, die Sorge um ihren Schützling vor mir zu verbergen, so gut sie konnten. Außer bei dem Netz, das sie über meinem Bett anbrachten und das ich so über alle Maßen scheußlich wie unnötig fand. Ich bin doch kein Mädchen, das einen Schleier über der Bettdecke haben möchte! Aber diese Maßnahme müsse sein, hatte Mama gesagt und Papa verbot mir mit aller Strenge, drüben noch einmal in den Wald zu gehen. Was ist los? Nein, ich hätte nichts Falsches getan und das wäre um Gottes willen auch keine Strafe. Zur Schule musste ich neuerdings auch bei warmem Wetter nur noch mit langärmeliger und langbeiniger Kleidung gehen und befürchtete, dafür von den Anderen voll „gedisst“ zu werden. Komisch war nur, dass es vielen meiner Schulkameraden ähnlich ging. Die trugen plötzlich auch so voll uncoole Klamotten und dann lachten wir uns alle gegenseitig aus. Aber das Lachen verging uns, als eines Morgens unsere Klassenlehrerin und der Schuldirektor mit ernsten Gesichtern den Klassenraum betraten und uns bekannt gaben, dass Elvira S., wir nannten sie immer Elvis, nicht mehr in unsere Schule käme. Elvis war schon seit über einer Woche nicht mehr zum Unterricht gekommen und jetzt sagte die Klassenlehrerin, sie hätte mit einer schlimmen Krankheit im Krankenhaus gelegen. Wir waren alle tief betroffen und fragten nach. Der Direx erklärte, dass seit mehreren Wochen in Deutschland die asiatische Buschmücke gehäuft aufgetreten ist, sich nun mit hoher Geschwindigkeit vermehrt und weiter schnell ausbreitet. Diese Mückenart überträgt das Virus des sogenannten Dengue-Fiebers, an dem man sterben kann. Und Elvis war von solch einer Mücke gestochen worden. Da niemand mit diesem Krankheitsbild rechnete, obwohl - was wir Kinder nicht wussten - das Robert-Koch-Institut Monate zuvor eine bundesweite Warnung herausgegeben hatte, war Elvis falsch behandelt worden und ist dann an den Folgen des Mückenstiches erkrankt. Wir sollten sie nicht mehr wieder sehen … Doch nun ging die Angst um an der Schule. Freiwillig setzten die meisten Schüler auch an anderen Schulen und auch in den höheren Klassen schon im September die Kapuzen ihrer Anoraks auf. Unsere Blicke streiften jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn alle Wände des Klassenraums, ob sich nicht eines von diesen „Aliens“ auf die Lauer gelegt hätte und gnadenlos zu töten wäre. Jedenfalls waren wir Schüler aufgefordert worden, unsere Augen offen zu halten und jeden noch so kleinen Vorfall sofort zu melden. So war auch meine Aufmerksamkeit in diesen Herbstwochen des Jahres 2024 – außer immer noch auf das Lernen – hauptsächlich auf die unmittelbare Umgebung gerichtet und ich bekam nur am Rande oder über Gesprächsfetzen meiner Eltern mit, was sich draußen in der großen weiten Welt so alles abspielte.

 

Schon im Frühjahr war auf vormals irakischem Gebiet das wahhabitische Kalifat ausgerufen und in den nördlichen Restgebieten der Region das freie Kurdistan gegründet worden. Das Nebeneinander des Kalifats mit dem amerikanischen Protektorat verlief seltsamerweise recht konfliktfrei und der Handel entwickelte sich prächtig. Warum Russland diese Konstellation hinnahm, stiftete in der Welt zwar Verwunderung, aber dieses Wohlwollen hatte seine Gründe, wie sich einige Jahre später herausstellen sollte. Europa wusste wieder einmal nicht, wie auf diese unklare Gemengelage zu reagieren sei und verfiel erneut in einen tiefen Streit über das weitere Vorgehen zur Sicherung der eigenen Energiebasis. Im Ergebnis dieser verbittert geführten Auseinandersetzung riefen Polen, Ungarn, die Slowakei und Österreich gemeinsam den Artikel fünfzig des EU-Vertrages auf und traten aus der Europäischen Gemeinschaft aus. Interessanterweise hatte dies lediglich eine Entspannung des Brüsseler Haushaltes nach sich gezogen und blieb zunächst ohne direkte politische Folgen.

Im Jahr danach wurde die „Lichtsekte“ immer mächtiger. Sie umfasste bald mehr als fünfhundert Millionen Mitglieder und war mittlerweile von Teilen der Scientology-Bewegung unterwandert worden. In einem Akt der Verzweiflung hatten sich nach langwierigen Geheimverhandlungen der Papst, der oberste islamische Gelehrte der Universität Kairo, die orthodoxen Patriarchen und israelischen Oberrabbiner auf eine gemeinsame Position geeinigt und zusammen mit der evangelischen und anglikanischen Kirche die Grundsatzerklärung ‚Kehret um‘ veröffentlicht. Darin wurden die Menschen inständig dazu aufgerufen und ermutigt, auf den Pfad der Tugend und der Vernunft zurückzukehren und sich der Bewältigung der Gegenwartsprobleme zuzuwenden, anstatt irrationalen Heilsversprechen zu folgen. Dem schlossen sich der iranische Wächterrat, die Führung der kommunistischen Partei Chinas sowie die Staaten Tadschikistan, Finnland, Uruguay und Gambia an. Trotz aller medialen Aufmerksamkeit, die das Papier weltweit erlangte, half aber auch dieser Versuch nichts mehr. Das geschätzte Vermögen der „Lichtsekte“ war im Jahr 2025 auf über achthundert Milliarden Dollar angewachsen und ermöglichte deren grauen Eminenzen, massiv Einfluss auf die anstehende US-Präsidentschaftswahl auszuüben. So wunderten sich nur wenige, dass dieses Mal ein religiöser Fanatiker in das Amt des bis dahin mächtigsten Politikers der Welt gehoben wurde. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, die immer noch in Streit stehenden Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer in einer Nacht- und Nebelaktion militärisch zu besetzen, um auf das zwei Jahre zuvor erlassene Exportverbot Chinas für seine einheimischen Waren zu reagieren. Die Bedeutung all dessen konnte ich selbst als Sechstklässler nicht annähernd einschätzen. Mama und Papa hatten tagelang nur noch Nachrichten verfolgt, wenn sie nicht auf Arbeit oder zum Einkaufen waren und entsprechend besorgte Mienen aufgesetzt. Ich sprang auch ganz aufgeregt umher und natürlich fragte ich, was denn los sei und wie das alles zusammenhänge. Sie erklärten alles geduldig, aber vieles – insbesondere die Hintergründe der akuten Gefahr – blieben mir schleierhaft. Wann würden die Chinesen zurückschlagen? Das kann nicht gut gehen. Würden sie Amerika mit Atomwaffen angreifen? Aber China griff trotz der Versetzung seiner Streitkräfte in den höchsten Alarmzustand und der Anordnung der Generalmobilmachung nicht ein, sondern brach stattdessen wenige Tage später die diplomatischen Beziehungen zu den USA vollständig ab. Deren Ansehen in der Welt war durch diese Aktion endgültig ins Bodenlose gerutscht. Die britischen und französischen Abfangjäger, die – ebenfalls mit Atomwaffen bestückt – mit schon laufenden Motoren in den europäischen Hangars bereitgestanden hatten, wurden wieder geparkt und unter ihren Planen versteckt. Man atmete auf und auch ich atmete mehrfach gut hörbar durch, obwohl ich nichts verstanden hatte. Nur die Bilder der zerstörten Städte in Syrien kamen mir erneut in Erinnerung.

Und dann wurde es Zeit, sich einer anderen Großwetterlage zuzuwenden, denn „Silke“ kam. Das Tiefdruckgebiet mit dem sympathischen Namen braute sich in den Wochen, in denen alle Aufmerksamkeit auf das Südchinesische Meer gerichtet war, fast unbemerkt über dem Atlantik zusammen. Durch das warme Ozeanwasser konnte das Tief Unmengen an Energie aufnehmen und war völlig unerwartet binnen weniger Stunden nach Osten bis an die europäische Westküste herangezogen. Am Abend zuvor flimmerten die eindringlichen Warnungen des Deutschen Wetterdienstes und die Aufforderung der Bundesregierung, die Bevölkerung solle zuhause zu bleiben und sich schützen, über die Mattscheibe. Den Eltern wurde angst und bange. Ich dagegen freute mich diebisch über einen schulfreien Tag und war gespannt, was passieren würde. Morgens gegen acht – tatsächlich wehte bereits ein sehr kräftiger Wind – fuhr Papa in den Baumarkt, um einige Holzbohlen zu kaufen, mit denen er die großflächigen Fenster unseres Hauses zu sichern gedachte. Aber es war nichts mehr zu holen. Er versuchte sein Glück in einem weiteren Baumarkt, aber hier hatten die Leute bereits in den Nachtstunden die verschlossenen Türen mit Gewalt aufgebrochen und den ganzen Laden gestürmt und ausgeräumt. Entnervt und wütend wegen der Verkehrsstaus in der Stadt und der Vergeblichkeit seiner Bemühungen kam er erst am späten Vormittag zurück. Derweil herrschte richtiger Sturm mit extremen Windstößen und uns blieb nur, die Gartenmöbel zu sichern und mit ein paar zusätzlichen Schrauben den Carport zu verstärken. Überall in der Nachbarschaft rannten die Leute mit zerzausten Frisuren umher, trugen irgendwelche Gerätschaften beiseite oder werkelten wie besessen an ihrem Hab und Gut. Gegen Mittag verdunkelten sich die Wolken immer mehr und die Orkanböen wurden unberechenbar. Unter verwehten Haaren und Klamotten zog Mama unterdessen mit letzter Kraft ein Fahrrad und einen alten Blumentopf ins Haus. Die Leute ringsum waren plötzlich alle verschwunden und schon flog mit einem großen Knall die Haustür ins Schloss. Papa rief mich. Alle im Haus? Gut. Der Himmel war mittlerweile fast schwarz. Überall begann ein bedrohliches, lautes Pfeifen. Einige Minuten später waren von draußen ohrenbetäubende Geräusche und mehrere gewaltige Schläge zu hören. Mir wurde die ganze Sache jetzt unheimlich. Papa rannte zum Fenster und ich behände hinterher. Dachziegeln waren auf die Terrasse gestürzt. Im gleichen Moment löste sich eines der recht undurchlässigen Zaunfelder an der Grundstücksgrenze aus seiner Verankerung, kam auf uns zu geflogen, krachte mit brachialer Gewalt genau neben dem Fenster, hinter dem wir standen, gegen die Hauswand. Das ohrenbetäubende Zerbersten und Kratzen war selbst bei dem mittlerweile heulenden Orkan zu vernehmen. Glück gehabt! Papa lief zum anderen Fenster und wurde blass. Das Auto stand schräg, schaukelte gewaltig hin und her und hatte etliche Kratzer und Beulen, in der Einfahrt polterte ein Haufen Müll umher und – das Dach vom Carport fehlte. Wahrscheinlich flatterten seine Reste zerborsten auf einem Nachbargrundstück oder auf der Straße herum. Der Orkan wurde immer stärker. Wieder rannte Papa, diesmal zum Notausschalter der Heizungs- und Elektroanlage. Draußen flog in etwa einem Meter Höhe ein Kinderwagen die Straße entlang, Mama schlug die Hände vors Gesicht. Panik übermannte mich. Ich flitzte die Treppe hinauf ins Kinderzimmer. Niemand sollte mein Zittern bemerken. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Und dann setzte plötzlich Stille ein. Ich lauschte auf, wartete einen Moment angespannt und hörte dann Mama rufen. Okay. Schon kam sie die Treppe herauf und beruhigte mich. Sie und Papa hatten zuvor unendliche Minuten lang unter Aufbietung ihrer ganzen Kräfte die aus den Scharnieren gesprungene Terrassentür in ihrem Rahmen gehalten. Wenn der Sturm ins Haus gedrungen wäre, hätte er vermutlich etliche Fenster nach außen gedrückt und große Teile der Inneneinrichtung in Kleinholz verwandelt. Es war vorbei. Langsam kehrte das Tageslicht zurück, aber unsere Umgebung blieb gespenstisch leise. Ich ging mit Mama hinunter, um zu inspizieren, was hier alles zu Bruch gegangen war. Die Eltern setzten sich erstmal kurz an den Esstisch und atmeten durch. Papa hatte die lose Terrassentür mittlerweile an die Wand gelehnt und durch die Türöffnung hörte man, dass draußen zwar immer noch der Wind rauschte, aber keine Gegenstände mehr durch die Luft polterten. So plötzlich der Orkan gekommen war, so plötzlich war er wieder verschwunden. Wir schauten uns um. Im Haus war bis auf die Türscharniere an der Glaswand zur Terrasse nichts weiter kaputt gegangen, aber vor dem Haus und im Garten ruhte friedlich und unbewegt das Chaos aus Geröll, fremden Gerätschaften, Holzplanken, zerschlagenen Blumenkübeln und Resten von Dachziegeln. Papa meinte, das kriegen wir schon wieder hin. Aber das zerschrammte Auto und den Rest vom Carport musternd, schien Mama zu resignieren. Werden wir so viel Geld für all die Reparaturen aufbringen können? Erst am späten Nachmittag kamen dann auch die Nachbarn langsam wieder aus ihren Häusern. Die Straße belebte sich etwas, aber die Leute waren noch immer außer sich. Dabei sollte dies noch nicht alles gewesen sein, denn als Papa den Strom einschalten wollte, tat sich nichts. Noch einmal. Nein. Noch mal. Wieder nichts. Da erst wurde meinen Eltern bewusst, in welcher Lage wir uns befanden. Mama rannte in die Küche und öffnete den Wasserhahn an der Spüle. Wasser kam, die Erleichterung war förmlich greifbar. Wir hatten wenigstens etwas zu trinken und die Toiletten konnten benutzt werden. Dann beratschlagten sich Mama und Papa ausgiebig. Ich war immer noch aufgeregt, wollte auch mit helfen, konnte aber im Moment nicht viel tun. Bis zum Abend musste erstmal die Terrassentür wieder befestigt werden, um im Haus sicher zu sein. Der Strom könne jetzt tagelang wegbleiben, gab Papa zu bedenken und erwähnte, dass der Tank im Auto noch zu ungefähr einem Drittel gefüllt sei. Ohne Strom kein Kochen, kein Kaffee, kein Fernsehen, kein Radio, keine Information, kein Geld am Bankautomaten, aber auch kein Tanken, denn an den Tankstellen würden die Pumpen nicht mehr arbeiten. Wir versuchten, herauszufinden, ob die Versorgung mit Elektrizität sogar großflächig ausgefallen war. Dann würde auch die Versorgung mit Lebensmitteln in den Supermärkten nicht mehr reibungslos funktionieren und Tumulte und Plünderungen könnten entstehen. Mama prüfte die Vorräte in Kühlschrank und Gefrierfach – leider nicht sehr ergiebig, meinte sie. In der Zwischenzeit war Papa im Wohnzimmer dabei, einige Schrankfächer nach Batterien zu durchwühlen. Jetzt konnte ich helfen und brachte flugs aus meinem Kinderzimmer den kleinen Radiowecker, den ich vergangenes Jahr von Oma zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Er wurde unsere einzige zuverlässige Informationsquelle, denn unter den Leuten in der Nachbarschaft kreisten mittlerweile die wildesten Gerüchte. Jemand hatte erzählt, die Bundeswehr käme, ein anderer meinte, bis auch das Wasser wegbliebe, wäre nur eine Frage von wenigen Augenblicken. Die Batterien aus dem Wohnzimmerschrank gaben noch etwas her und so warteten wir auf die volle Stunde, um gemeinsam vor dem kleinen Radio die Nachrichten zu hören. Tief „Silke“ war von der französischen Atlantikküste aus nach Ostnordost gezogen und hatte dabei in ganz Mitteleuropa eine breite Spur der Verwüstung hinterlassen. In Frankreich, den Beneluxstaaten und in Deutschland waren weite Teile der Infrastruktur in Mitleidenschaft gezogen worden. Müde gingen wir zu Bett, konnten aber alle nicht so richtig schlafen. Immer wieder waren von der Straße laute Rufe und aus der Ferne die Sirenen der Rettungswagen und Polizeiautos zu hören. Noch während der Nacht richtete der Orkan schwere Schäden an der polnischen Ostseeküste an.