Slaughter's Hound

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11

Es könnte Marx gewesen sein. Oder vielleicht auch Engels. Wie auch immer, jedenfalls hat mal jemand gesagt, die Menschheit wäre erst dann befreit, wenn sie den letzten Priester an den Eingeweiden des letzten Bankers aufgehängt hätte. Ungefähr in diesem Sinn. Komischerweise hat er die Anwälte nicht erwähnt. Vielleicht dachte er, es wäre unmöglich, die auszurotten, genau wie Kakerlaken oder die Hoffnung. Ich war mir da nicht so sicher. Eine silberne Kugel, die zuvor in Knoblauch getunkt wurde, ein Holzpflock durchs Herz – es wäre zumindest einen Versuch wert.

Jimmy blieb mir erspart. Gillick fuhr selbst. Der Saab klang wie ein aufgegeilter Engel, still und leise bis auf ein selbstgefälliges Summen. Die Innenausstattung war aus glänzendem Leder und Walnussholz. Die Armaturen leuchteten in Blau und Rot und sahen aus, als hätte man sie aus einem Learjet-Cockpit ausgebaut. Als wir an der Kirche in Drumcliffe vorbeifuhren, brach er endlich das Schweigen. Wie zufällig und ganz locker. »Also, was hat Finn denn nun gesagt?«

»Worüber?«

»Bitte, Mr Rigby. Ich dachte, wir hätten diese Spielchen hinter uns gelassen.«

»Nein, Sie dachten, Sie hätten mich gekauft.«

»Das ist nicht …«

»Und in Wahrheit wollen Sie vor allem wissen, was er über Sie gesagt hat.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

»Einen Scheiß können Sie nicht. Deshalb gurken Sie doch um fünf Uhr morgens durch die Stadt und holen Desperados aus Verhörzellen. Damit Mrs Hamilton mit mir spricht, nicht mit Ihnen, und vergisst zu fragen, warum Sie im Hafengebäude waren und Finn genervt haben.«

»Ich war dort, weil Mrs Hamilton mich darum gebeten hat. Und ich verwahre mich gegen …«

»Sind Sie aus gesundheitlichen Gründen so früh aufgestanden? Was kommt dann als nächstes, ein Sitzbad?«

Ein Seufzen. »Mrs Hamilton ist nicht nur eine langjährige Mandantin aus gutem Hause. Sie ist mit mir befreundet, genauso wie ihr Ehemann mit mir befreundet war. Wenn sie mich zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit anruft, dann ist das nur ein Beweis dafür, wie dringend meine Hilfe benötigt wird.«

»Stets ihr ergebenster Diener.«

Wir erreichten die Kreuzung in Monaneen. Er setzte den Blinker links, schaltete runter und bog ab Richtung Küste. Der Horizont war jetzt grau, die Donegal Mountains schimmerten rötlich im Dunst. »Ein leichter Minderwertigkeitskomplex kann durchaus heilsam sein, Rigby. Er darf Sie nur nicht allzu sehr behindern.«

»Wo ist denn der ›Mister‹ geblieben?«

Das gefiel ihm. »Möchten Sie lieber, dass ich Sie Mr Rigby nenne?«

»Sie werden ja gut dafür bezahlt. Und ich schätze, in Ihrem Fall läuft es wegen der unchristlichen Urzeit auf das Dreifache des Maßlosen hinaus, plus Spesen.«

Er wurde langsamer, weil eine Kreuzung kam, und fuhr geradeaus weiter. »Darf ich fragen, warum Sie unserem Freund Tohill nichts davon gesagt haben, dass ich gestern Abend bei Finn war?«

»Er hat nicht danach gefragt.«

Er lachte vor sich hin. »Jimmy wird das zu schätzen wissen.« Er wartete. »Und das ist definitiv alles, mehr nicht?«

Er hätte Jimmy mitbringen sollen. Je mehr er redete, desto mehr fragte ich mich, warum er Angst hatte, ich könnte etwas gegen ihn in der Hand haben.

Er blinkte links und wir fuhren durch das schmiedeeiserne Tor über den knirschenden Kies hinein in den kleinen Wald aus Eichen und Ahornbäumen. Weiter vorne huschte ein Dachs über die Straße und verschwand im Straßengraben. Seine Augen schimmerten grünlich auf im Licht der Halogenscheinwerfer. »Wie ich hörte, haben Sie mal als Privatdetektiv gearbeitet«, sagte er.

»Berater für Recherchen.«

»Natürlich.« Er lachte wieder vor sich hin. »Wissen Sie, eines Tages könnte ich vielleicht die Dienste eines Rechercheberaters benötigen.«

»Ihre Art von Geschäft braucht solche Dienste doch tagtäglich. Was stimmt denn nicht mit den Beratern, die Sie zurzeit beschäftigen?«

»Nichts, die arbeiten alle zur Zufriedenheit. Aber ich habe zu meinem Glück eine sehr große Zahl von Mandanten. Manchmal muss auch etwas ausgelagert werden.«

»Manche zieren sich ein bisschen, wenn’s ums Schuldeneintreiben geht, was?«

»In der jetzigen Situation muss man sich breit aufstellen, Mr Rigby, sonst geht man unter.« Nur der Hauch eines spöttischen Untertons. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie das mehr als die meisten anderen zu schätzen wissen.«

»Und Sie glauben, ich wäre der Richtige, weil ich nicht gleich alles überall hinausposaune.«

»Falls Sie damit fragen wollen, ob Vertraulichkeit für meine Mandanten eine große Rolle spielt, dann lautet die Antwort Ja.«

»Ich hab mich zur Ruhe gesetzt.«

»Auch das kam mir zu Ohren.« Er räusperte sich. »Harry J. Rigby, ehemaliger Berater für Recherchen und freischaffender Journalist. Im Jahr 2004 angeklagt des Mordes an Edward Rigby, genannt Gonzo, jedoch nicht verurteilt, aufgrund der Tatsache, dass Sie auf zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit plädierten und daher anschließend in die psychiatrische Klinik zur abschließenden Beurteilung eingewiesen wurden, wo Sie dann den größten Teil der folgenden vier Jahre verbrachten.« Er warf mir einen Blick zu. »Ich bin kein Fachmann, aber ich könnte mir vorstellen, dass die Ermordung des eigenen Bruders die auf Diskretion angewiesenen Geschäfte eines Privatschnüfflers nicht gerade beflügelt.« Er wartete. »Dass Sie noch hier sind, liegt entweder an dem Jungen oder an Ihrer mangelnden Vorstellungskraft.« Wieder wartete er ab. »Ich wette, es ist der Junge.«

»Wenn Sie meinen Sohn noch einmal erwähnen, schmeiß ich Sie durchs Fenster.«

»Wie dramatisch.« Er rieb sich die Nase, um ein schiefes Grinsen zu kaschieren. Seine Blofeld-Imitation bekam Kratzer. »Ich bin beeindruckt.«

»Bleiben Sie das, dann bleiben auch die Fenster intakt.«

Er kniff die Augen zusammen. »Sehen Sie mal, Rigby, es geht hier nicht um moralische Fragen. Was Sie getan haben, haben Sie getan, und Ihre Handlungen konnten nach unseren zivilisatorischen Standards nicht gebilligt werden. Aber was mich betrifft, haben Sie Ihre Zeit abgesessen und damit Ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft abgezahlt.«

»Aber die Gesellschaft verlangt noch Zinsen.«

»Zweifellos. Andernfalls würden Sie ja nicht Taxi fahren.« Ich ließ das mal so durchgehen. »Ich kann Ihnen natürlich keine feste Anstellung auf Dauer versprechen. Aber Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus, und Ihr Verhalten in der vergangenen Nacht beweist, dass Sie ein vertrauenswürdiger Mann sind, wenn es darum geht, sagen wir mal, potenziell betrügerischen Machenschaften entgegenzutreten, ohne einem zu starken Redebedürfnis nachzugeben.«

»Sie brauchen jemanden mit Durchsetzungskraft. Einen, der schon durch seine Präsenz wirkt, weil er die Aura eines Killers hat, und einen, der die Klappe hält, wenn die Bullen Fragen stellen. So jemanden wie Ihren Freund Limerick-Jim zum Beispiel.«

»Nicht ganz«, sagte er. »Zum einen fehlt Ihnen seine Statur.«

»Zum anderen seine Geschicklichkeit mit der Klinge.«

»Das ist Schnee von gestern, Mr Rigby. Und jemand wie Sie wird Jimmy sicherlich nicht das Recht auf Rehabilitation und Reintegration absprechen.«

Wir fuhren um den Brunnen herum, vorbei an dem Mercedes und dem Lexus und dem RAV4. Den roten Mini Cooper dahinter hatte ich bei meinem vorherigen Besuch nicht bemerkt. Gillick parkte neben der breiten Treppe und schaltete den Motor aus. Er war viel zu massig, um sich ganz zu mir herumzudrehen, also warf er mir über seine gut gepolsterte Schulter hinweg einen fragenden Blick zu. »Können Sie denn ernsthaft behaupten, dass es Ihnen Spaß macht,Taxi zu fahren?«

»Mehr als alles in der Welt.«

»Es gibt doch noch profitablere Methoden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Ich bin mein eigener Chef. Ich arbeite, wann ich Lust dazu habe. Und ich kann die Rechnungen bezahlen.«

»Und das ist die Summe all Ihrer Ambitionen?«

»Meine fehlenden Ambitionen brechen mir das Herz. Ich wache jeden Morgen weinend auf und sehne mich nach dem Drang, einen Vorschlaghammer zu nehmen, um irgendeinem armen Teufel die Tür einzuschlagen. Was ist daran so witzig?«

»Ihre Selbstdarstellung. Ihre übertriebene Antipathie gegenüber Geld. Dabei brauchte es bloß fünfhundert Euro in bar, um Sie am frühen Morgen hierher zu locken.«

Das Wort »locken« in diesem Zusammenhang gefiel mir gar nicht.

»Geld ist nicht das Thema«, sagte ich. »Geld ist okay. Falls die Sonne irgendwann mal verlöschen sollte, haben wir wenigstens noch was, um die Welt am Laufen zu halten.«

»Also geht es nicht per se ums Geld, sondern darum, wer es anbietet.«

»Und um das Warum.«

»Zweifellos. Aber Geld ist ein wunderbares demokratisches Konzept, Mr Rigby. Es interessiert sich nicht im Geringsten für die Geschichte oder die soziale Position der Person, die es ausgibt.«

»Geld ist eine Waffe. Es ist so lange harmlos, bis es geladen in den falschen Händen landet.«

»Geladen?«

»Mit Einfluss, Zugangsmöglichkeiten, Eigennutz. Dieses schöne demokratische Konzept scheint sehr darauf angewiesen zu sein, die richtige Krawatte am richtigen Ort zu tragen.«

»Wer wählen will, muss eine Wahlkabine betreten«, säuselte er. »Und man wird Sie kaum hineinlassen, wenn Sie nackt dort auftauchen, oder?«

»Keine Ahnung. Hängt wohl davon ab, wie wichtig es für die Deutschen ist, dass das nächste Referendum durchgeht.«

Er nickte und lächelte nachsichtig. »Ich fordere Sie nicht auf, für mich zu arbeiten, Mr Rigby. Ich deute nur an, dass Sie, gesetzt den Fall die Gelegenheit ergibt sich, eventuell …«

 

»Ich bin allergisch gegen Zwangsräumungen, Gillick. Wenn ich weinende Kinder sehe, kriege ich einen Ausschlag.«

Er neigte den Kopf und warf mir ein weiteres öliges Grinsen zu. »Denken Sie darüber nach. Sprechen Sie mit Jimmy darüber, wenn Sie möchten. Falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, steht meine Tür Ihnen immer offen.«

»Bei allem Respekt für Jimmy, meine Bewährungsauflagen verlangen von mir, dass ich mich nicht wissentlich mit Kriminellen zusammentue.«

»Jeder, der zu mir kommt, gilt als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen wurde. So steht’s im Gesetz.«

»Im Gesetz steht das, was die Justiz behauptet.«

»Zu Ihrem Nachteil.«

»Ich komm drüber weg.«

»Ja«, sagte er und verzog entschuldigend das Gesicht. »Aber wie gut?«

12

Eine Steintreppe führte hinauf zu einer Galerie im ersten Stock, aber wir gingen nicht nach oben. Simon und Gillick verloren sich im Schatten weit hinten in der Eingangshalle und ließen mich vor der Tür des Herrenzimmers stehen, ganz allein, ohne auch nur eine einzige sehr fette Giraffe zur Gesellschaft. Ich hörte, wie Simon an die Mahagoni-Türen am Ende der Halle klopfte. Sie warteten auf eine Antwort und verschmolzen mit den Schatten.

Ich drehte mir eine Fluppe und flanierte über den plüschigen Perserteppich. Diese Eingangshalle auszustatten hatte mehr gekostet, als ich in meinem ganzen Leben verdienen würde, und trotzdem gab es hier kein einziges wirklich notwendiges Objekt. Der Kronleuchter war eine Milchstraße aus Kristall, die Wände waren übersät mit therapeutischem Gekleckse der amputierten Blinden, die die moderne Kunst repräsentieren. Zwei Porträts von Graham Knuttels, die einander schlitzäugig drohende Blicke zuwarfen, ein paar Kleckse stellten möglicherweise Sonnenauf- oder untergänge dar oder psychedelische Kuhfladen bei reduzierter Hitze. Palmen mit ausgelichteten, sorgfältig abgewischten, glänzenden Blättern standen in regelmäßigen Abständen in Töpfen aus poliertem Kupfer. Die Kübel waren zumindest nützlich, weil man hineinaschen konnte. Die spindeldürren Beine von zwei antiken samtbezogenen Sofas, die sich gegenüberstanden, sahen aus, als wären sie entworfen worden, um Glöckchen und ihren kleinen Freunden Platz zu bieten, auch wenn die kleinen Freunde sich beim Sitzen abwechseln müssten.

Ich fand es merkwürdig, dass sich kein Platz für zumindest eines von Finns Landschaftsbildern gefunden hatte. Aber das Dekor war nun mal exquisit und kultiviert, ein diskret geflüsterter Hinweis, dass man hier ein Heim betrat, in dem Eleganz Vorrang vor Leidenschaft hatte und Geschmack mehr zählte als Gefühl. Diese Innenausstattung entsprach den Unterhaltungen auf einer Abendgesellschaft, voller hinterhältiger Höflichkeiten und exzessiver Zurückhaltung, deren ultimatives Ziel ein Konsens ohne Konsequenz war, damit kein Gast sich beleidigt fühlte. In dieser Eingangshalle hätte ein Bild von Finn Hamilton gewirkt wie ein Scheißhaufen auf einer Hostie.

Ja, und vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass Saoirse Hamilton nicht daran erinnert werden wollte, dass ihr Sohn in einem Irrenhaus malen gelernt hatte.

Er war monatelang schlafwandelnd die graugrünen Korridore entlanggegangen, während die Ärzte versuchten, die richtige Dosierung zu finden. Manchmal stand er stocksteif in irgendeiner Nische, leer und stumpf, mit einem tausend Jahre alten Blick aus leeren blauen Augen. Wie eine Wachsfigur als Allegorie der Sinnlosigkeit. Ein Terrakotta-Soldat, geflüchtet aus der Verbotenen Stadt, absolut fügsam, aber unfähig einen Befehl auszuführen, dem Untergang geweiht in einer ewigen Warteschleife vor dem letzten vernichtenden Angriff. Sogar die Perversen gingen ihm aus dem Weg.

Aber auch wenn er an depressiven Tagen ein hoffnungsloser Fall war, waren die manischen Phasen nicht weniger schlimm. Diese grausame Energie brachte ihn dazu, gegen Wände zu hämmern oder in der Dusche auf den Knien die Kacheln zu bearbeiten. Irgendetwas Dunkles durchzuckte seine Adern, schlug alle Warnungen und Angstgefühle in den Wind und hatte ihn in seiner Jugend zu einem Skateboard-Wunderkind gemacht und zu einem BMX-Champion. Das alles erzählte er mir, während er auf dem unteren Bett lag und nicht in der Lage war, mir in die Augen zu sehen. Seine Notaufnahme-Protokolle dokumentierten Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen, zweifachen Schädelbasisbruch, eine Netzhautablösung. Opfergaben auf dem Altar des Finn, Geschenke, die er darbrachte, während er immer wieder seine Grenzen überschritt und anstürmte gegen eine herzlose Welt, in schnellen Autos, auf Skiern und Snowboards, auf Wellen reitend oder von Klippen springend, die nie hoch oder steil genug sein konnten.

Die Psychologin meinte, dieser Drang würde sich in den abgefackelten Gebäuden manifestieren. Die wären so was wie Strohmänner seiner selbst, Selbstprojektionen, gegen die er anging. Für mich klang das arg simpel. Aber Finn meinte, sie könnte vielleicht recht haben, schon allein deshalb, weil es sowieso nur schlecht ausgehen konnte, sich gegen eine Frau zu stellen, an deren Hüften die Zellenschlüssel klimperten, metaphorisch gesprochen oder auch nicht.

Vor allem aber stimmte er ihr zu, weil sie ihn zum Malen anspornte, dazu sich selbst auszudrücken, sich zu läutern im Rahmen der Grenzen, die die Gesellschaft uns freundlicherweise zugesteht. Schließlich gelang es ihm, sich zu beherrschen, sich vielleicht sogar zu zähmen, sich zwischen Hochs und Tiefs einzuspannen wie eine Leinwand, gespachtelt und geglättet und so fest auf den hölzernen Rahmen genagelt wie ein Trommelfell, das bei der leisesten Berührung vibrierte.

»Sie sind hier leider am falschen Ort.«

Als ich die Treppe hochschaute, war sie schon halb nach unten gestiegen, gleitend, eine Hand auf dem Geländer, bekleidet mit einer Latzhose mit zahlreichen Farbspritzern und nicht besonders viel darunter. Barfuß und kurz davor laut loszukichern, auch wenn das möglicherweise nur der Eindruck war, den die genetisch bedingte Form ihrer babyrosafarbenen Lippen nun mal erweckte. Ich sah zu, wie sie die Stufen hinabschritt, und sie wirkte kein bisschen überrascht.

»Der Tote ist im Leichenschauhaus«, sagte sie. »Jedenfalls das, was von ihm übrig geblieben ist.«

Sie war noch zwei Meter entfernt und näherte sich rasch. Schüchtern wie Gilda, das kleine Pony. Sie hatte kein Makeup aufgelegt, aber ihre Haut hatte einen makellosen Latte-Macchiato-Ton, ihre mandelförmigen Augen waren von dem schwer fassbaren Blau, das man im Innern eines Diamanten findet. Sie musste gerade noch in den Teens sein, wenn ich mich richtig erinnerte, vielleicht auch ein bisschen älter.

»Ich bin nicht der Bestatter.«

»Sind Sie nicht?« Sie war jetzt nahe genug gekommen, um zu sehen, was es mit meiner Hose, dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte tatsächlich auf sich hatte. Der Latte-Teint bekam einen Hauch von Rot, es war ihr peinlich, dass sie mich für einen Dienstboten gehalten hatte. »Kannten Sie Finn?«

»Ganz genau. Ich bin Harry.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass er Sie erwähnt hat.« Sie hielt mir ihre zierliche Hand hin. »Ich bin Grainne.«

»Ich weiß.« Ich gab der zarten Hand einen ganz sanften Druck. »Wir haben uns schon mal gesehen. Bei der Hochzeit von Paul und Andrea. Es tut mir sehr leid.«

»Warum?« Ein kobaltfarbenes Lodern. »War es Ihre Schuld?«

»Ich war jedenfalls dort.«

»Sie meinen, Sie hätten ihn davon abhalten können?«

»Wenn ich es geahnt hätte, wohl schon.«

»Gegen seinen Willen?«

»Wenn es nötig gewesen wäre.«

»Sie sind ja ein schöner Freund.«

»Jedenfalls würde ich mich jetzt besser fühlen.«

Das Lodern flackerte und verlosch. »Es ist durchaus üblich, dass man sich persönlich verantwortlich fühlt. Sie kommen darüber hinweg.«

»Freut mich, das zu hören.«

»Halten Sie mich für kalt?«

Ich hielt sie für leer. Noch immer unter Schock und Beruhigungsmitteln. Wenn man das kobaltfarbene Lodern hinter sich hatte, wirkten die Augen ein bisschen zu geweitet und ihr Blick leicht desorientiert, wenn sie versuchte, ihr Gegenüber direkt zu mustern. Es waren tatsächlich Diamantenaugen, kalt und glitzernd und alterslos.

»Ich fürchte aber, Sie werden sich erkälten«, sagte ich, »wenn Sie so herumlaufen. Bemalen Sie auch noch was anderes als Latzhosen?«

Sie kicherte, aber nicht wegen meiner Anspielung. »Ich weiß jetzt, wer Sie sind«, sagte sie. »Sie waren auf der Hochzeit.« Sie stutzte. »Wessen Hochzeit war das noch mal?«

»Die von Paul und Andrea.«

»Genau die, ja. Sie hat dieses Retrokleid angehabt.«

»Hat sie.« Ich fragte mich, wo Simon und Gillick blieben.

Grainne kicherte wieder. »Geht’s Ihnen gut?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und blinzelte mehrmals. »Ich versuche mir vorzustellen«, erklärte sie, wobei sie die Worte sehr deutlich aussprach wie eine Betrunkene, die gerade einen klaren Moment hatte, »ob es so etwas wie die Angst vor dem Nicht-Fallen gibt. Wäre es nicht witzig, wenn Finn an so etwas wie umgekehrter Höhenangst gelitten hätte?«

Ich dachte an den verkohlten Fleischklumpen, der mal ihr Bruder gewesen war. »Von hier aus betrachtet vielleicht schon.«

»Obwohl ja, genau genommen, Höhenangst nicht die Angst vor der Höhe ist, sondern die, von dort herunterzufallen. Ich will nur hoffen, dass er es genossen hat.«

Jeder geht auf seine Weise mit dem Tod um. Manche weinen und jammern, gehen in Sack und Asche. Andere tun cool, begegnen ihm mit billigen Scherzen und hoffen, dass sie dafür geschlagen werden, damit sie endlich weinen können.

Wir hatten uns immer noch an den Händen gefasst. Ich ließ jetzt los.

»Sie sind sentimental«, sagte sie. Es war eine Anklage. »Sie sind genau wie die anderen, Sie wollen die Wahrheit nicht hören.«

»Vielleicht wollen die anderen ja bloß Sie nicht hören.«

Das schwer fassbare Blau flammte erneut auf. Sie gab einen Laut von sich wie eine neugierige Katze. »Oh, Sie sind anders. Wir beide sollten uns mal unterhalten.«

»Jederzeit. Rufen Sie einfach die Telefonseelsorge an, ich bin immer im Dienst.«

Ich hätte ihre Hand nicht loslassen sollen, aber es war bereits zu spät. Ich war total erschöpft, da macht man nun mal Fehler. Ihre Fingernägel kratzten über meine Wange. Ohne weitere Körperbewegung. Sie streckte einfach die Hand aus und bohrte ihre Krallen in mein Fleisch.

In einer einzigen, flüssigen Bewegung. Es war nicht das erste Mal.

Ich schnellte zurück und legte eine Hand an die Wange, betastete die Wunde. Ich blutete. Genau darauf hatte sie es abgesehen. Wegen des Anblicks oder vielleicht auch des Geruchs, irgendwas erregte sie daran. Beim zweiten Mal sprang sie auf mich zu. Ich stemmte meine flache Hand gegen ihre Stirn. Sie schlug wild um sich, streifte meine Brust und versuchte dann, mit ihren nackten Füßen nach meinem Schienbein zu treten, stöhnte laut auf und bleckte die Zähne, während sich weißer Schaum in den Winkeln ihrer babyfarbenen Lippen bildete.

Ich hörte, wie eine Tür aufging.

»Wenn Sie so freundlich wären, Mr Rig- … Grainne

Sie prallte zurück wie ein überdehntes Gummiband, das sich zusammenzieht, sackte in sich zusammen und flitzte die Treppe hinauf. Eine Tür wurde zugeschlagen.

Ich fand eine Serviette mit aufgedruckten bunten Luftballons in meiner Tasche und tupfte mir die Wange ab, während Simon sich in Grainnes Namen entschuldigte.

»Sie ist völlig verstört, wie Sie sich denken können. Der Arzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, aber …« Er brach ab und zuckte mit den Schultern. »Sie ist recht eigenwillig, selbst wenn es ihr gutgeht.«

Sinnloses Geschwätz. Simon redete sich heraus, anstatt sich zu entschuldigen.

»Können wir das jetzt bitte hinter uns bringen?«, sagte ich. »Ich hatte eine anstrengende Nacht.«

»Selbstverständlich. Hier entlang, bitte.«

Ich folgte ihm, die Serviette an die Wange gedrückt, und hoffte nur, die trauernde Mrs Hamilton würde mir nicht in einem Anfall von überschwänglichem Schmerz ein Auge ausreißen.

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