Slaughter's Hound

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Finn Hamilton war von Anbeginn verflucht, seit seine Mutter ihm den Namen von Fionn mac Cumhaill, dem großen Helden der irischen Mythologie, gegeben und ihm damit schon von Kindesbeinen an zu verstehen gegeben hatte, dass er ein ganz außergewöhnlicher Mann werden sollte: ein Jäger, ein Krieger, eine Legende, ein König. Nicht der geringste Erwartungsdruck also.

Und dann muss er als junger Mensch mitansehen, wie sein Vater ertrinkt.

Ich schätze, sie können froh sein, dass er nur ein paar Häuser niedergebrannt hat.

Seine Erleuchtung hatte er im Psychiatrischen Krankenhaus in Dundrum, als ihm klarwurde, wie er den Namen Hamilton und die damit einhergehenden Ressourcen nutzen könnte. Er gab seinen Widerstand auf und ließ sich mit dem Strom treiben, reihte sich ein in die Familie, aber als fünfte Kolonne, als Saboteur, der sich nun ausgerechnet der Wohltätigkeit verschrieb. Die Cops drückten ein Auge zu wegen McCool FM, weil es kein kommerzielles Unternehmen war und die Erlöse aus den wenigen Werbeblocks St. Vincent de Paul und dem Lions Club oder ähnlichen Organisationen zugute kamen. Die Website des Senders verlinkte zu denen der Nothilfe für Depressive und Borderline-Patienten, der Samariter-Hilfe für psychisch Kranke, der Model-Arts-Galerie und der Irischen Krebshilfe und zeigte ausgewählte Kunstwerke, die in der Galerie im Erdgeschoss seines Studios angeboten wurden, darunter auch seine eigenen. Von den Erlösen ging ein Drittel an eine vom jeweiligen Künstler ausgewählte Wohltätigkeitsorganisation.

Seine neueste Idee, die immer noch im Anfangsstadium steckte, hieß Spiritus Mundi und sollte ein Kollektiv von Künstlern, Musikern und Schriftstellern umfassen, die alle in diesem Gebäude arbeiten würden, eine urbane Version des Zentrums in Annaghmakerrig, ein Rückzugsort für Menschen mit künstlerischen Neigungen. Zuletzt hörte ich, er hätte Blue Raincoat einen Probenraum angeboten, mit dem Hintergedanken, dass sie ihr Theater aus dem Stadtzentrum in den Hafen verlegen würden. Er lockte sie mit einem langfristigen Mietvertrag zu sehr günstigen Konditionen.

Ich drückte zweimal kurz und einmal lang, wartete auf den Piepton und das Klicken und trat ein. Die kleine Lobby wurde von einem einzigen Scheinwerfer erleuchtet, der ins Dach eingelassen war, eine Überwachungskamera hing in der Ecke. Ich schaute zu ihr hoch, wartete auf den zweiten Piepton und ging dann durch die Tür in die Galerie. Finn hatte das Erdgeschoss entkernen lassen, damit nichts den Blick von den Gemälden ablenkte, die er an die Säulen oder die nackten Backsteinwände gehängt hatte. Da der Raum sehr hoch war, hallte es stark. Ich ließ das Licht aus und schlich zum Fenster, um in den Hof zu schauen. Jimmy saß in der geöffneten Tür des Saab, rauchte und schrieb sich die Nummer des Taxis auf, während er mit dem zwischen Kopf und Schulter eingeklemmten Handy telefonierte.

Ein Meister des Multitaskings, unser Jimmy.

Jetzt fing auch Bear an zu bellen, so laut, dass die Fundamente bebten. Ich ging nach hinten, klopfte zweimal gegen die Metalltür, machte besänftigende Geräusche und schob mich rein. Bears Krallen klackerten über den Betonfußboden, dann richtete er sich auf und legte mir rechts und links eine Pfote auf die Schulter. Ein reinrassiger irischer Wolfshund. Auf den Hinterbeinen hätte er beim Rugby ganz allein den Fänger in der Gasse machen können. Unter seinem Gewicht geriet ich ins Wanken, stolperte ein Stück zurück, hob ihn runter und kraulte ihm die Ohren.

»Nicht heute Abend, Bear, tut mir leid.«

Ich kickte den Stock, den er zerbissen hatte, zurück zu dem Haufen in der Ecke, griff nach der Schachtel auf dem obersten Regal, nahm eine Handvoll Kekse in Knochenform heraus, warf sie in seinen Futternapf und füllte den Trinknapf mit Wasser. Finn liebte diesen Hund, er hatte ihn als kleinen verängstigten Welpen aus einem Tierheim geholt, aber er vertrat auch die Theorie, dass nur ein hungriger Wachhund ein guter Wachhund ist. Hinzu kamen Finns erstaunlicher Appetit auf psychotropes Gras und eine Lebenseinstellung, deren grafische Darstellung in einem Koordinatensystem aus Ehrgeiz und Strebsamkeit die Form einer Hängematte hätte. Beides zusammen hatte zur Folge, dass der Hund gelegentlich viel dünner und bösartiger war, als seinem Hundeschöpfer vorgeschwebt war.

Wo ich schon mal dabei war, warf ich noch einen Blick in seine Hütte, um die Streu zu prüfen. Sie schien frisch und sauber zu sein. Als ich mich wieder aufrichtete, hockte Bear in der Ecke und knabberte einen Hundekuchen, spielte sogar damit herum und hatte noch vier weitere in seinem Napf liegen. Was bedeutete, dass Finn fit und der Hund gut genährt war, eigentlich fast schade. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, ihn raus in den Hof zu lassen, um mal zu sehen, wie Jimmy die Herausforderung meisterte, einem Bluthund von achtzig Kilo, der mit vollem Karacho auf ihn zuraste, die Stirn zu bieten.

Es gab keinen Aufzug, nur neun Stockwerke verrostete Metallstufen, die auf der Innenseite der Mauern angebracht waren. Vor langer Zeit hatte es mal vier Treppen gegeben, über die man ins jeweils nächste Stockwerk gelangte, aber das Gebäude war ja entkernt worden. Wenn man jetzt die Galerie im Erdgeschoss verließ, stieg man durch einen leeren Raum bis ins oberste Stockwerk. Eine ordentliche Strecke, aber nichts, was ein halbwegs gesunder Mann nicht schaffen konnte, ohne in Schweiß auszubrechen. Als ich oben ankam, hätte ich eine Sauerstoffmaske gebrauchen können und ein paar Sherpas zur Stütze.

Ich trommelte an die Studiotür.

»Harry?«, hörte ich Finns gedämpfte Stimme. »Komm rein.«

Das Studio nahm den größten Teil des neunten Stockwerks ein. In der hintersten Ecke stand ein Mischpult. Eierkartons klebten unter der Decke und an den Wänden. Finn saß hinter dem Pult, mit Kopfhörern um den Hals. Sogar im Sitzen war er groß, seine Knochen zeichneten sich unter dem weißen T-Shirt ab. Er trug fast immer das Gleiche: weißes T-Shirt, verblichene Levis, braune Wildleder-Mokassins, helle Bartstoppeln. Keine Socken. Die flachsblonden Haare ein struppiger Topfschnitt wie beim späten Brian Jones. Unter dem Pony lugte ein waches Gesicht hervor, mit einem einnehmenden Lächeln und strahlend blauen Augen.

Hinter ihm standen Verstärker, Rechner und jede Menge Vinyl-Schallplatten. Das gedämpfte Scheppern, das zu hören war, kam von The Wedding Present, die leise gestellt waren. Es hörte sich an wie »Brassneck«, aber ein Weddoes-Stück klingt wie das andere, wenn man es leise stellt.

Fast die Hälfte des Studios wurde von einem rohen Holztisch eingenommen, bedeckt von Farbtuben, Pinseln in Gläsern und Spachtelmessern. Zwei Staffeleien standen herum, darauf zwei mit Farbe bekleckste Bilder. Leinwände lehnten in Vierer- oder Fünferreihen an der Wand, manche gerahmt, andere nicht. In der Ecke stand eine Stratocaster mit dem klassischen Yin-Yang-Muster, bei der zwei Saiten fehlten, eine dritte hing nur noch lose herab.

Die hintere Wand war der Grund, warum Finn sich das frühere Hafenamt als Studio eingerichtet hatte: Ein breites Panoramafenster, durch das man auf die Kaianlage, den Tiefseehafen und weiter hinten das Tafelberg-Massiv des Benbulben sehen konnte. Ein Flügel stand offen und eine sanfte Brise wehte herein, die dank der außen eingehakten Tür zur Feuerleiter für einen angenehmen Luftzug sorgte. An manchen Sommerabenden, wenn die Musik ertönte, die Hitze des Tages aufstieg und Finn sein Gras rauchte, wurde es hier im Studio so stickig, dass man die Luft schneiden konnte.

Der Typ im maßgeschneiderten Anzug, der sich auf dem Sofa vor dem Fenster fläzte, erinnerte mich an William Conrad ohne Schnurrbart. Finn deutete auf ihn. »Hast du Gillick schon kennengelernt?«

»Daran würde ich mich erinnern«, säuselte Gillick.

Arthur Gillicks Ruf war einmalig. Wenn man einem Cop während der Abschlussparade in Templemore eine Kugel in den Kopf verpasst hatte, wählte man Gillicks Nummer, wenn einem die Bullen endlich den einen Anruf gestatteten. Er hatte sich in den späten Siebzigern und während der Achtziger einen Namen gemacht als Kronanwalt der Provos, auch wenn es übertrieben wäre, ihm politische Motive zu unterstellen. Allerhöchstens einen eklektizistischen Anarchismus, der darin bestand, jeden drogendealenden Mistkerl, notorischen Gewalttäter und diebischen Stadtstreicher auf freiem Fuß zu lassen. Inzwischen hatte er sein Portfolio erweitert und profitierte vom wirtschaftlichen Niedergang, indem er sich mit Schuldeneintreibung und Zwangsräumungen befasste. Die Krönung seiner Laufbahn war aber vor einigen Jahren die Verteidigung eines aufrechten Bürgers gewesen, der seine Tochter erwürgt und ihre Leiche in den See geworfen hatte, nachdem das Mädchen sich im stolzen Alter von dreizehn Jahren entschlossen hatte, von nun an selbst zu entscheiden, wer ihr das Höschen runterzieht.

Jetzt beugte er seinen massigen Rumpf vor und erhob sich mit der schwerfälligen Eleganz eines Bischofs, der weiß, dass ein Bischof ohne Würde auch bloß irgendein fetter Kerl ist. Breiter Schädel unter einem plattgedrückten wuscheligen Haarschopf, ein eher rundes als fettes Gesicht, etwas schlaff, aber gesund. Sogar leicht gebräunt. Seine großen runden Augen verliehen ihm etwas Eulenartiges, sein Mund war leicht spitz wie ein Schnabel, seine Nase sprang deutlich hervor. Er streckte die Hand aus. Sie war klein und pummelig, nicht übermäßig mit teuren Klunkern verziert und fühlte sich erstaunlich kühl und fest an.

»Arthur Gillick«, sagte er.

»Harry Rigby.«

Er wartete eine Idee länger, als angebracht gewesen wäre, bis er wegschaute. Dann ließ er meine Hand los. »Harry«, sagte er, »so nennt man einen Prinzen.«

Ich schenkte ihm ein schiefes Grinsen und fragte mich, was sonderbarer war: dass er mich überhaupt mit so einer Stegreifstichelei provozierte oder dass er andeutete, dass ich ein Anwärter auf den britischen Thron wäre. Nicht, dass Arthur Gillick in der Position gewesen wäre, mit Steinen im Glashaus herumzuwerfen.

 

»Es ist die Kurzform von Harrison«, sagte Finn. »Seine Mutter liebte My Fair Lady und hat ihn nach Rex Harrison genannt.«

»Ernsthaft?« Gillick fand das amüsant.

»Hätte schlimmer kommen können«, sagte ich. »Wenn sie mich Pygmalion genannt hätte.«

»Denn dann«, warf Finn ein, »hätten wir ihn Pyggy genannt. Und es wäre womöglich zu Verwechslungen gekommen.«

Gillicks Lächeln veränderte sich bloß im Nanobereich, aber in seinen Schweinsäuglein ging ein Licht aus.

Seine Sticheleien galten nicht mir. Sie galten Finn, der in England adoptiert worden und aufgewachsen war. Seine Mutter hatte ihm einen irischen Namen gegeben, um diesen Makel auszugleichen, der in ihren Augen ein Kainsmal war.

»Wie ich sehe, wissen Sie die Klassiker zu schätzen, Mr Rigby«, sagte Gillick mit weicher, warmer Stimme, die wie schmelzende Schokolade klang. Er deutete auf die herumstehenden Leinwände. »Sind Sie auch ein Förderer der Künste?«

»Seit meine Aktien abgeschmiert sind nicht mehr, nein.«

»Aber, aber, Mr Rigby …« Allein vom Zuhören wurde ich schon zum Diabetiker. »Große Kunst ist nicht bezahlbar, das steht fest. Ihr Wert besteht darin, die Zerbrechlichkeit des Lebens zu beschwören angesichts der, äh …« Er warf Finn einen Blick zu.

»Angesichts eines Universums, das zum allergrößten Teil aus toter Materie besteht«, beendete Finn seinen Gedanken.

»In der Tat. Besonders wenn die Kunst selbst aus toter Materie geschaffen wird.«

Finn klatschte träge Beifall.

»Wirklich zu schade«, stellte Gillick fest, »dass es so teuer ist, sich diese unbezahlbaren Wunderwerke an die Wand zu hängen. Wenn überhaupt mal eines verkauft wird.«

Finn schenkte ihm ein süffisantes Lächeln, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Du bringst schon wieder Preis und Wert durcheinander, Arthur.«

Gillick verbeugte sich geziert. »Genau das wollte ich damit sagen.« Seine Geste der Ehrerbietung endete damit, dass er mit ausgestrecktem Zeigefinger und gerecktem Daumen auf Finn deutete. »Ruf mich an«, sagte er. »Ich tue dir gern diesen einen Gefallen.«

Er nahm sich Zeit beim Weggehen, weil er sonst wie ein Erpel gewatschelt wäre. Ich stieg auf das Sofa vor dem geöffneten Fenster, warf ein Bein über den Sims, stellte den Fuß auf den Mauervorsprung und lehnte mich mit dem Rücken gegen den Rahmen. Mit der aufsteigenden Hitze drang der Geruch von Teer nach oben, vermischt mit dem salzigen Hauch des Meeres. Ich drehte mir eine Fluppe und wartete, bis das Klappern auf den Metallstufen verklungen war, nahm Finns Nachtsicht-Fernglas vom Haken und beugte mich vor, um damit die Autos unter uns ins Visier zu nehmen. Jimmy saß weiterhin bei geöffneter Tür auf dem Fahrersitz des Saab.

Von Cartron her drang das leise Dröhnen des Verkehrs übers Wasser. Noch leiser und von der Stadt her war das blecherne Heulen einer Sirene zu hören, ob von einem Bullenauto oder einem Krankenwagen, konnte ich nicht sagen. Eine Alarmanlage sirrte insektenhaft.

»Hat er eben einen Anruf bekommen?«, fragte ich.

»Gillick? Nein. Wieso?«

»Nur so.«

Er legte seine Füße samt Mokassins auf den Tisch. »War’s nix mit dem Gras?«

»Ich hab’s im Wagen gelassen, als ich den Schläger vorm Haus gesehen habe.«

»Limerick-Jimmy.«

»Jimmy ja, aber er klang mehr nach Derry.«

Finn deutete einen Schwerthieb an, dann einen Stich. »Er ist sehr geschickt mit der Klinge. Heißt es.«

»Ah.«

Er zog sich einen Kopfhörer übers Ohr und schob ein paar Regler auf dem Mischpult hoch und runter. Dann legte er sich den Kopfhörer wieder um den Hals, lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch.

»Na, so was«, sagte ich, »hätte nie gedacht, das Gillick schwul ist.«

»Gillick und schwul?« Finn grinste. »Falsch geraten. Der Typ ist der schlimmste Mösenjäger des Abendlandes.«

»Und warum hat er mich dann so komisch angestarrt?«

»Das macht er immer so, so prägt er sich Gesichter ein. Als würde er ein Foto schießen, sagt er.« Er klopfte sich zweimal an die Schläfe. »Klicketi-klick.«

Unten im Hof ertönte ein dumpfes Röhren. Ich schaute durch das Fernglas zu, wie der Saab durch das Tor fuhr. Er verschwand hinter der Mauer und tauchte dann wieder am Kai auf und fuhr Richtung Stadt davon. Ich hängte das Fernglas wieder an den Haken und stieg vom Sofa. »Kaffee?«

»Ich hab schon«, sagte er. »Aber mach dir ruhig einen.«

Ich ging in die kleine Küche und setzte Wasser auf, dann trat ich in das schuhkartongroße Badezimmer, damit der Kaffee genug Platz zum Durchlaufen hatte. Betätigte Spülung und Wasserhahn und zuckte zusammen. Die alte Zisterne klapperte und dröhnte so laut, dass man eigentlich nur dann spülen durfte, wenn Finn gerade Tom Waits aufgelegt hatte, am besten ein Stück von der LP »Rain Dogs«.

Als ich zurückkam, spielten die Stones »Get Off Of My Cloud« auf voller Lautstärke. Finn hielt einen kurzen Joint in der Hand. Ich hockte mich auf die Fensterbank, nippte an meinem Kaffee und wiegte den Kopf im Rhythmus der Musik. So weit oben, mit Blick auf die Docks und weiter hinten den Tiefwasserhafen, konnte man jede Menge von überhaupt nichts sehen: karge Gebäude, vierzig verschiedene Schattentöne, der silbergrüne Glanz des Mondes auf dem öligen Wasser.

Finn schob wieder Regler hoch und runter. Billy Bragg ertönte, »A New England«. Finn drehte die Lautstärke herunter und ich deutete mit dem Kopf zur Toilette. »Tut mir leid wegen der Spülung.«

»Tu das nicht noch mal, Mann«, sagte er leichthin und nahm noch einen Zug. Was mich zum Thema zurückbrachte.

»Hör mal, diese drei Beutel«, sagte ich.

»Ja?«

»Herb wundert sich, weil es auch letzten Monat drei waren. Er meint, das sei ganz schön viel für den persönlichen Gebrauch.«

Freches Grinsen. »Hängt von der jeweiligen Person ab, oder?«

»Ja, aber er macht sich Sorgen, ob du es weitergibst. Das würde ihm in die Quere kommen.«

»Sag ihm, er soll sich entspannen.«

»Ich fürchte, das reicht ihm nicht.«

»Was will er denn machen, mich nicht mehr beliefern?«

»Hey, ich überbringe bloß die Nachricht.«

Er dachte darüber nach, kam zu einer Entscheidung und zuckte mit den Schultern. »Scheiß drauf. Ich hätte es dir sowieso demnächst erzählen müssen.«

»Schieß los.«

»Ich zieh das durch.«

»Ja, schon klar, aber drei Beutel pro Monat, Mann, das ist …«

»Nein, ich meine: Ich zieh das jetzt durch, was ich schon lange vorhatte. Ich haue ab. Brauche das Gras als Vorrat, wie ein Eichhörnchen.«

»Ach?«

»Wir hauen ab, Harry. Fahren weg, in ein paar Wochen, soll aussehen wie Ferien. Aber wir werden nicht zurückkommen, wir sind weg.«

»Scheiße. Ernsthaft?«

»Ich sag dir, was Scheiße ist, ernsthaft«, sagte er. »Ein Kind in diesem Drecksloch aufzuziehen irgendwann innerhalb der nächsten zwanzig Jahre. Das ist Scheiße. Ernsthaft.«

Das hörte ich nicht zum ersten Mal. Die Regierung erzählte uns immer wieder, wir würden die Rezession dank einer neuen exportorientierten Wirtschaftspolitik überwinden. Wobei unser Exportschlager Menschen waren, vor allem solche, die jung, ehrgeizig und intelligent genug waren, die Zeichen der Zeit zu entziffern.

»Wohin soll’s also gehen?«, fragte ich.

»Was glaubst du wohl?«

Jeder hat seinen Fluchtpunkt, einen Ort, den er anpeilt, wenn die Sterne günstig stehen, und seit ich Finn kannte, sprach er davon wegzugehen. Am Anfang war es ihm ziemlich egal gewesen wohin, es ging nur ums Abhauen. Was damals nahe gelegen hatte, genauso wie alles andere, was man sich in Dundrum so ausdachte: Wenn man nicht darüber nachgrübelte, woher man etwas Anständiges zu essen bekam, plante man seine Flucht, war in Gedanken immer fleißig am Tunnelgraben.

Nur dass Finn nie davon runtergekommen war, auch nicht, nachdem er wieder draußen war. Und seit er Maria kennengelernt hatte, ging es ständig um Zypern, vor allem um die in der restlichen Welt wenig bekannte und ebenso wenig geliebte Enklave namens Türkische Republik Nordzypern. Eine Gegend, wo sie, wie Finn behauptete, schon Tempel gebaut hatten, als die übrigen Europäer noch in schmutzigen Höhlen hausten, wo es aber immer noch authentisch und ursprünglich zuging. Vor allem in den Bergen, wo das Licht Gottes Augapfel war, um mit Lawrence Durrell zu sprechen.

Er zog eine LP aus der Hülle und legte sie auf den Plattenspieler. Tim Buckley, »Song to the Siren«.

»Ein großer Schritt«, sagte ich.

»Ein Sprung eigentlich, einer, zu dem wir gezwungen werden.« Er nahm einen tiefen Zug von seinem Joint und atmete ganz langsam aus. »Es ist alles im Arsch, Harry. Die NAMA hat sich eingemischt, und wenn sich diese staatliche Treuhandanstalt erstmal einmischt, wird es echt ernst.«

»So schlimm?«

»Wir können hierbleiben«, sagte er, »uns um eine funzelige Kerze herum versammeln und nur noch Brennnesselsalat essen. Oder wir können jetzt alles verkaufen, unsere Verluste gering halten und ganz von vorn anfangen. Irgendwo anders.« Er deutete mit dem Jointstummel auf mich, um seine Aussage zu unterstreichen. »Dort, wo eine Familie noch etwas gilt.«

Jetzt hatte er es zum zweiten Mal gesagt. Kinder, Familie. Ich merkte, wie etwas in mir verrutschte, und erst da wurde mir klar, wie sehr ich ihn vermissen würde. Seine verrückten Ideen, seine manische Energie. Seine Anrufe in den unmöglichsten Momenten, oder meine Anrufe bei ihm, und wie wir dann Billard spielen oder über Musik, Surfen, Filme oder Bücher reden würden. Oder gar nichts sagen. Das Ungesagte, der schwarze Tümpel, der zwischen uns lag, säuberlich eingedämmt. Bis er wieder Risse bekam und etwas durchsickerte.

»Und, gibt’s einen Plan? Alles schon in die Wege geleitet?«

Er ruckte den Kopf hin und her und dachte nach. »Maria meinte, wir sollten dort was Richtiges tun. Etwas, das eine Bedeutung hat, verstehst du?«

»Einen Schönheitssalon, der wirklich eine Bedeutung hat?«

Er ignorierte die Spitze. »Das würde sich auch lohnen, klar. Aber sie möchte eine Schule aufmachen, eine Art Ausbildungszentrum. Diesen Mädchen Fähigkeiten vermitteln, die sie überall in der Welt nutzen können. Hast du mal zypriotische Frauen gesehen? Mann, die wissen, wie man sich gut präsentiert.«

»Ja, gut, wenn man Maria als Maßstab nimmt …«

»Ich sag dir, worum’s geht. Sie will die Ausbildung auf Englisch machen, weil sie meint, sie hätte da was in Newsweek gelesen darüber, dass die Beherrschung der englischen Sprache weltweit ein wichtiger Faktor ist, wenn man Arbeit finden will.«

»Wahrscheinlich wäre es schlauer, ihnen Mandarin beizubringen.«

»Oder Russisch vielleicht. Aber egal, die Chinesen und die Russen bieten keine Ausbildungsförderung an. Die EU schon, und die EU will die Türkei haben und das bedeutet auch die türkischen Zyprioten. Nur leider hat Maria ziemliche Probleme, ihre hiesigen Qualifikationen dort anerkennen zu lassen.«

»Die EU fällt gerade auseinander, mein Lieber. Du kommst bloß vom Regen in die Traufe.«

»Das könnte vielleicht sein«, sagte er und kam hinter dem Mischpult hervor, »wenn es hier noch um die EU und Irland ginge, wenn es nicht um dich und mich ginge und das erste Kleine …« Er ging zum Notausgang. »Entschuldige mich bitte«, sagte er augenzwinkernd, »das erste kleine Geschäft des Abends.«

Er ging raus auf die Feuerleiter und pisste in die frische Luft, so wie er es immer tat, damit er dann hinterher nicht die Spülung betätigen musste. Ich konnte schon Herbs Kommentar hören, dem bestimmt eine passende zynische Bemerkung einfallen würde über Finn Hamilton als Prinz unter den Armen Zyperns. Über diesen Teilzeit-Philanthropen, der einen Gutteil seiner lang anhaltenden Jugendzeit damit verbracht hatte, Europa mit seinem maßgeschneiderten Wohnmobil zu bereisen, auf der Suche nach der nächsten großen Welle oder dem frischesten Neuschnee, und dabei soff, kokste und Geld verschleuderte, das er nicht selbst verdienen musste. Aber ich konnte Herb einfach nicht davon erzählen, dass ein Psychofritze Finn einmal während einer unserer Gruppentherapiesitzungen gefragt hatte, ob er glaube, er könne gegen den Selbstmord seines Vaters aufbegehren, indem er ihn verdrängte oder ihn in einer eigenen Variation nachahmte.

 

Meiner Ansicht nach hatte er sich damit abgefunden, nicht vor ihm weglaufen zu können. Und er hatte begriffen, dass es kein Wettrennen, sondern ein Ringkampf war, bei dem man bestenfalls auf ein ehrenhaftes Unentschieden hoffen konnte. Ich stand vom Sofa auf, ging rüber zu den Gemälden auf den Staffeleien und ließ den Fingernagel über seine neueste Version der Burgruine St. Hilarion gleiten. Von weitem sah es aus wie eine seiner typischen gotisch-impressionistischen Variationen: kahle Klippen, steile Gipfel, unwirtliche Hügel, ein schlampiger Sonnenuntergang, dessen Licht sich ins weindunkle Meer ergießt. Aber wie immer konnte man aus der Nähe jeden einzelnen Pinselstrich erkennen, der wie eine schwärende Wunde in die Haut eines wilden Wesens geätzt war, das kurz davor war, laut zu knurren, der Rahmen des Bildes wie die Gitterstäbe eines Käfigs, der es gerade noch hielt. Sogar ein Blinder hätte, wenn nicht mit dem Krückstock, dann mit Hilfe seines Tastsinns erkannt, dass der Künstler, der in Finn steckte, kein glücklicher Mensch war. Er malte in Öl, sehr pastos und mit einer Oberflächenstruktur, die so grob war, als hätte er die Farben auf seiner Palette aus Blut, Galle und grobkörnigem Schießpulver hergestellt. Eine klebrige Mischung, die man lieber nicht aus der Nähe in Augenschein nahm, weil schon der kleinste Funke Licht, die leiseste Übertragung von Wärme die krude, zur Selbstentzündung neigende Substanz explodieren lassen würde. Er ließ sich von Oscar Epfs inspirieren, aber in meinen Augen sahen seine Landschaftsbilder eher wie ungelenke Variationen der frühen Werke von El Greco oder Caravaggio aus, Künstlern, die beide in ihrer ganz eigenen Hölle Qualen gelitten hatten. Auch wenn seinen Bildern die ausgefeilte Technik fehlte, kündeten sie doch von einer aufgestauten Wut und jenem Moment des größten Drucks, bevor die Welt den Rahmen sprengte.

Finn hatte seine Kunst in sich selbst gefunden. Brachte jeden Tag Stunden damit zu. Es mag abgedroschen klingen, wenn man sagt, jeder Künstler fördert in seiner Kunst die eigene Seele zutage, aber sogar ein naiver Betrachter wie ich konnte erkennen, dass Finn sich hier rücksichtslos preisgab. Ob es sich um gute oder schlechte Kunst handelte, war nebensächlich. Sie war bestürzend und fesselnd, im Ausdruck wie im Inhalt. War sie etwas wert? Ist nicht jedermanns Seele etwas wert?

Ich mochte die Bilder sehr, hätte aber keins davon bei mir zu Hause an die Wand gehängt, selbst wenn ich die zwei oder drei Riesen hätte aufbringen können, die sie normalerweise kosteten. Es hätte mich zu sehr beunruhigt, es ständig im Augenwinkel verstohlen betrachten zu müssen, während es im Rahmen herumschlich, schnaubend und knurrend und immer bereit zum Sprung.

Er kam von der Feuerleiter zurück und legte »Teenage Riot« von Sonic Youth auf.

»Hör mal«, sagte er, »diese Sache mit dem Schönheitssalon.« Er nahm einen letzten Zug von seinem Joint, der fast nur noch aus Mundstück bestand, und drückte ihn aus. »Das ist noch nicht spruchreif im Moment, erstmal müssen wir den Papierkrieg bewältigen.«

»Kein Thema.«

»Ich meine ja nur, so wie die Dinge heutzutage laufen, könnte es Jahre dauern.« Er fummelte an den Bassreglern herum, obwohl mit den Bässen alles in Ordnung war. »Kein Wunder, dass das Land da unten im Arsch ist. Man muss eine Million Typen schmieren, und trotzdem heißt es immer nur, jaja, gleich morgen. Verstehst du?«

»Wirklich zu schade, dass sie nicht ein bisschen irischer sind, hm?«

»Bei denen ist es noch schlimmer, ob du es glaubst oder nicht. Wäre mir ja egal, aber schließlich biete ich hier Jobs, eine echte Investition.«

»Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Schönheitssalons oberste Priorität bei der Investorenanwerbung genießen.«

Er wiegte wieder den Kopf hin und her, und seine wuscheligen Haare fielen ihm ins Gesicht. »Der Salon sicher nicht, das ist ja auch Marias Ding. Ich habe ganz andere Pläne.«

»Ach wirklich?«

»Du bist noch nicht dort gewesen, Harry. Dort ist es so wie hier vor zwanzig Jahren. Jede zweite Hausnummer ist eine Baustelle, nur dass es dort auch noch Sonne und ein Superklima gibt. Letzten Sommer bin ich dort ein bisschen unterwegs gewesen, hab mir ein paar Musterhäuser angeschaut, solche Neubau-Villen. In einem bin ich mit dem Verwalter ins Gespräch gekommen, ja? Dreihundertzwanzig Riesen pro Villa, zwölf Villen pro Bauplatz inklusive Meerblick, die werden dort für ein Viertel des Kaufpreises errichtet, und sogar das alles schwarz, alles Cash und Handschlag. Die Türken sind wie eingebunkert, es gibt mehr Russen als Fliegen, die Grenze wird durchlässiger, alle wissen, dass die EU im Anmarsch ist. Diese Insel ist eine Ölquelle kurz vor dem Anstich.

»Machst du dich selbstständig?«

»Sozusagen, ja. Das Grundkapital kommt von Hamilton Holdings, aber ich bin derjenige, der es dem Aufsichtsrat präsentiert hat, also hab ich den Daumen drauf.«

Er breitete es vor mir aus, sein ganzes hochklassiges Investmentprojekt mit zweistöckigen Apartmenthäusern direkt am Strand, ungefähr zwölf Kilometer östlich von Girne, jeder Block mit einem Swimmingpool, Spielplatz, Fitnessraum, Minigolf, Restaurants mit Aussicht und Bars. Marias Salon natürlich auch. Er gestikulierte wild, während er mir das ausführte und erklärte, dass es nicht nur ein Spekulationsobjekt sei, also bauen und gleich verkaufen, sondern eine langfristige Investition. Das Unternehmen für ausländische Investoren verwalten, vielleicht noch eine Autovermietung dazu nehmen und eine Art quasi-offizielle Fremdenführung, ein Teil des Profits könnte dann abgeschöpft werden für einen mediterranen Anlaufpunkt für Zeitgeist-Anarchisten, die sich auch mal bräunen lassen wollen. Dabei grinste er die ganze Zeit wie ein Vollidiot, dem jemand gerade eine Reise ins Schlaraffenland spendiert hat, ohne Rückfahrkarte. »Das Einzige, was uns noch fehlt«, sagte er, »ist eine Direktverbindung mit Ryanair nach Ercan und wir sind fein raus.«

»Du ziehst das also für Hamilton Holdings durch«, sagte ich. »Und Maria freut sich wie eine Schneekönigin, dass sie für dich arbeiten darf, indem sie den Schönheitssalon leitet.«

»Der Salon ist eine andere Sache. Er wird auf dem Gelände sein, aber als eigenständiges Unternehmen. Marias ganz eigenes Ding.« Er grinste verlegen und fasste sich an die Nase. »Ich meine, man kann ja niemandem ein Hochzeitsgeschenk machen und die Nutzung einschränken, oder?«

Jetzt war es raus.

»Scheiße«, sagte ich. »Und wieder muss eine tolle Frau dran glauben.«

Sein breites Grinsen entgleiste kurz. »Wenn sie mich nimmt. Eigentlich ist das mit dem Salon gar nicht so genial. Ich könnte sie sonst auf diese zypriotischen Mistkerle ansetzen, die die Sache bremsen. Diese Drecksäcke haben mich schon fast dreihundert Riesen gekostet, und kein Ende abzusehen.«

»Meine Güte, dass ist aber ziemlich viel Schmiergeld.«

»Nein, ich meine wegen Gillick. Vor genau einem Jahr hat er mir neunhundert Riesen für das Gebäude hier inklusive sechzehn Morgen Grundstück angeboten. Sein letztes Angebot war nur noch sechshundert und ein paar Zerquetschte.«

»Mach bloß keine Geschäfte mit dem. Bist du verrückt geworden?«

»Gillick ist ein beschissener Erbsenzähler. Wenn ich die Flatter mache, wird er so tun, als sei er gerade knapp bei Kasse, überschuldet oder sonst was. Also wird er mir, keine Ahnung, die Hälfte anbieten, vielleicht auch weniger. Fünfzig Riesen Vorschuss, dem Rest kann ich dann hinterherjagen, und das von Zypern aus.«

»Dann scheiß doch auf ihn. Mach’s mit einem anderen.«

»Das tue ich ja. Gillick ist nur der Mittelsmann, er repräsentiert ein Konsortium. Und so wie es im Moment aussieht, stehen die Leute nicht gerade Schlange wegen sechzehn Morgen Hafengrundstück in Sligo.«