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Die Botaniklektion

Überall standen Schilder, wonach der Obstgarten Privatgrund war, aber Kitty Finch beteuerte, sie kenne den Bauern, niemand werde Hunde auf sie hetzen. Seit zwanzig Minuten zeigte sie ihm nun schon Bäume, denen es ihrer Ansicht nach »nicht so gut ging«.

»Haben Sie nur Augen für leidende Bäume?« Joe Jacobs schirmte seine Augen mit von Mückenstichen übersäten Händen ab und blickte unverwandt in ihre strahlendgrauen Augen.

»Ja, vermutlich.«

Er war sich sicher, im Gras ein Tier knurren zu hören, und sagte ihr, es klinge wie ein Hund.

»Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Hunde. Der Bauer besitzt in der Gegend von Grasse 2000 Olivenbäume. Er ist viel zu beschäftigt, als dass er die Hunde auf uns hetzen könnte.«

»Nun, so viele Olivenbäume halten ihn vermutlich ordentlich auf Trab«, murmelte Joe.

Seine schwarzen Haare, die zusehends zu silbernen Locken verblassten, kräuselten sich unordentlich um seine Ohren, und der verbeulte Strohhut rutschte ihm ständig vom Kopf. Kitty musste immer wieder ein paar Schritte zurücklaufen und ihn aufheben.

»Ach nein, 2000 ... das sind nicht viele Bäume ... ganz und gar nicht.«

Sie bückte sich, um die Feldblumen anzuschauen, die zwischen den weißen, kniehohen Gräsern wuchsen.

»Das hier ist Bellis perennis.« Sie rupfte etwas, was wie Blütenblätter von Gänseblümchen aussah, und stopfte es sich in den Mund. »Jede Pflanze gehört zu irgendeiner Familie.«

Sie vergrub ihr Gesicht in den Blumen, um die sich ihre Hände schlossen, und sagte ihm ihre lateinischen Namen. Er war beeindruckt, wie zärtlich sie die Pflanzen zwischen den Fingern hielt und mit welcher Vertrautheit sie über sie sprach, als wären sie tatsächlich eine Familie mit allerhand Problemen und ungewöhnlichen Eigenschaften. Und dann erzählte sie ihm, ihr größter Wunsch sei, einmal im Leben die Mohnfelder in Pakistan zu sehen.

»Wissen Sie«, gestand sie nervös, »ich habe ein Gedicht darüber geschrieben.«

Joe blieb stehen. Deshalb war sie also hier.

Junge Frauen, die ihm nachstellten und wollten, dass er ihre Gedichte las – und er war sich jetzt sicher, dass sie zu dieser Sorte gehörte –, fingen immer so an: Sie hätten da ein Gedicht über ein ganz außergewöhnliches Thema geschrieben. Sie gingen nebeneinander her und trampelten einen Pfad ins hohe Gras. Er wartete, dass sie den Mund aufmachte, ihr Anliegen vorbrachte, dass sie sagte, wie sehr seine Bücher sie beeinflusst hätten, erklärte, wie sie ihn ausfindig gemacht habe, und schließlich fragte, ob er nicht eventuell, sofern seine Zeit es erlaube, bitte, bitte so freundlich sein könnte, ihren bescheidenen, von ihm inspirierten Versuch zu lesen?

»Sie haben also alle meine Bücher gelesen, und jetzt sind Sie mir bis nach Frankreich hinterhergefahren«, sagte er schroff.

Ihre Wangen und ihr langer Hals wurden von einer neuen Welle des Errötens erfasst.

»Ja. Rita Dwighter, die Besitzerin der Villa, ist eine Freundin meiner Mutter. Rita sagte mir, sie hätten das Haus für den ganzen Sommer gebucht. Sie lässt mich in der Nebensaison umsonst hier wohnen. Diesmal konnte ich nicht kommen, weil SIE es in Beh Beh Beh Beschlag genommen haben.«

»Jetzt ist aber nicht Nebensaison, Kitty. Den Juli rechnet man gemeinhin zur Hochsaison, oder?«

Dem Akzent nach kam sie aus dem Londoner Norden. Sie hatte schiefe Vorderzähne. Wenn sie nicht gerade stotterte und errötete, sah sie aus wie in einer dunklen Werkstatt in Venedig aus Wachs geformt. Sie mochte eine Botanikerin sein, aber sie verbrachte offenbar nicht viel Zeit an der frischen Luft. Wer auch immer ihr Schöpfer sein mochte, war sehr geschickt. Sie konnte schwimmen und weinen und erröten und Sachen wie »in Beschlag genommen« sagen.

»Setzen wir uns in den Schatten.«

Er deutete auf einen großen Baum mit Felsbrocken drum herum. Eine fette, braune Taube ließ sich drolliger Weise auf einem dünnen Ast nieder, der aussah, als würde er unter ihrem Gewicht jeden Augenblick nachgeben.

»Ja, gut. Das ist übrigens ein Haaah-aselnussbaum.«

Er eilte voraus, ehe sie den Satz zu Ende gesagt hatte, setzte sich und lehnte den Kopf an den Stamm. Da sie zu zögern schien, klopfte er auf den Platz neben sich und wischte Zweige und Blätter zur Seite, bis sie sich neben ihn setzte und ihr ausgewaschenes blaues Baumwollkleid über den Knien glattstrich. Er konnte ihr Herz nicht so sehr hören, als vielmehr unter ihrem dünnen Kleid förmlich schlagen spüren.

»Wenn ich Gedichte schreibe, denke ich immer, dass man sie hören kann.«

In der Ferne klingelte eine Glocke. Es klang wie eine Ziege, die irgendwo im hohen Gras des Obstgartens umherstreifte und graste.

»Warum zittern Sie?« Ihre Haare rochen nach Chlor.

»Na ja, meine Hände sind ein wenig zittrig, weil ich meine Tabletten abgesetzt habe.«

Kitty rückte ein Stück näher. Er wusste nicht recht, wie er das deuten sollte, bis er sah, dass sie einer Karawane roter Ameisen aus dem Weg gehen wollte, die unter ihren Waden hindurch krabbelten.

»Warum nehmen Sie Tabletten?«

»Oh, ich habe beschlossen, sie eine Zeitlang nicht zu nehmen. Wissen Sie ... es ist ganz schön, sich zur Abwechslung mal wieder elend zu fühlen. Wenn ich die Tabletten nehme, fühle ich gar nichts.«

Sie schlug nach den Ameisen, die über ihre Knöchel krabbelten.

»Ich habe auch darüber geschrieben ... Es heißt ›Rosen pflücken auf Seroxat‹.«

Joe tastete nach einem Stück grüner Seide in seiner Hosentasche und putzte sich die Nase. »Was ist das, Seroxat?«

»Sie wissen, was das ist.«

Er hatte die Nase in sein seidenes Taschentuch vergraben.

»Erzählen Sie’s mir trotzdem«, schniefte er.

»Seroxat ist ein sehr starkes Antidepressivum. Ich nehme es seit vielen Jahren.«

Kitty starrte in den Himmel, der gegen die Berge anbrandete. Er ertappte sich, wie er nach ihrer kalten, zitternden Hand griff und sie fest in seinem Schoß hielt. Sie hatte alles Recht, über seine Frage empört zu sein. Ihre Hand zu halten war das stumme Eingeständnis, dass er um ihre Vertrautheit mit seinen Gedichten wusste, denn er hatte seinen Lesern alles über seine Jugendjahre unter Medikamenteneinfluss erzählt. Mit 15 hatte er die Pulsadern seiner linken Hand ganz leicht mit einer Rasierklinge gestreift. Nichts Ernstes. Nur ein Experiment. Die Klinge war hart und kühl. Sein Handgelenk war weich und warm. Man sollte die beiden nicht gegeneinander antreten lassen, aber als Teenager sah er bei diesem Spiel keinen Haken. Etwas hatte bei ihm ausgesetzt. Der Arzt, ein alter ungarischer Mann mit Haaren in den Ohren, war nicht der Ansicht, dass dieses Aufeinandertreffen ein alltägliches Versehen war. Er hatte Fragen gestellt. Der ungarische Doktor wollte biographische Fakten hören.

Namen und Orte und Daten. Die Namen seiner Mutter, seines Vaters und seiner Schwester. Welche Sprachen sie gesprochen hätten und wie alt er gewesen sei, als er sie zuletzt gesehen habe? Als Antwort war Joe Jacobs im Sprechzimmer in Ohnmacht gefallen, und so waren seine Jugendjahre in einem einzigen pharmazeutischen Nebel verschwunden. Oder, wie er es in seinem berühmtesten Gedicht beschrieben hatte, das mittlerweile in 23 Sprachen übersetzt war: Eine böse Fee bot mir einen Handel an: »Gib mir deine Geschichte, dann gebe ich dir etwas, was sie dir abnimmt.«

Als er sich zu ihr wandte, um ihr Gesicht zu sehen, aus dem die Röte jetzt gewichen war, waren ihre Wangen nass.

»Warum weinen Sie?«

»Schon gut.« Ihr Ton war nüchtern.

»Ich bin froh, dass ich Geld spare und es nicht für ein Hotelzimmer ausgeben muss, aber ich habe nicht erwartet, dass Ihre Frau mir das freie Zimmer anbieten würde.«

Drei schwarze Fliegen landeten auf seiner Stirn, aber er ließ ihre Hand nicht los, um sie zu verscheuchen. Er gab ihr das Stück Seide, das er als Taschentuch benutzte.

»Wischen Sie sich die Nase ab.«

»Ich will Ihr Taschentuch nicht.« Sie warf ihm das Stück Seide zurück in den Schoß. »Und ich hasse es, wenn jemand zu mir sagt, ich soll mich abwischen. Als wäre ich ein dreckiger Fußboden.«

Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, dass auch das eine Zeile aus einem seiner Gedichte war. Nicht ganz so, wie er es geschrieben hatte, aber ziemlich ähnlich. Ihm fiel auf, dass sie am linken Knöchel einen langen Kratzer hatte, und sie sagte, das sei die Stelle, wo seine Frau sie im Pool am Fuß gepackt habe.

Die Ziege kam näher. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, klingelte die Glocke. Wenn sie stehenblieb, war die Glocke stumm. Sie machte ihn unruhig. Er streifte eine kleine grüne Grille von seiner Schulter und setzte sie auf ihre geöffnete Hand.

»Ich vermute, Sie haben etwas geschrieben und hätten gerne, dass ich es lese. Habe ich Recht?«

»Ja. Es ist nur ein Gedicht.« Wieder sprach sie in nüchternem Ton. Sie ließ die Grille frei und sah zu, wie sie ins Gras sprang und verschwand. »Genaugenommen ist es ein Zwiegespräch mit Ihnen.«

Joe hob einen Zweig auf, der vom Baum heruntergefallen war. Die braune Taube über seinem Kopf spielte mit dem Feuer. Sie hätte jederzeit auf einen dickeren Ast umziehen können, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Er sagte, er werde ihr Gedicht am Abend lesen, und wartete darauf, dass sie ihm dankte.

Er wartete. Auf ihren Dank. Für seine Zeit. Für seine Aufmerksamkeit. Für seine Großzügigkeit. Dafür, dass er sie vor Mitchell in Schutz genommen hatte. Für seine Gesellschaft und für seine Worte, die Gedichte, die sie mehr oder weniger dazu gebracht hatten, ihm im Familienurlaub aufzulauern wie eine Stalkerin. Ihr Dank blieb aus.

 

»Ach ja,« – er starrte auf ihre blassen, mit zerquetschten Ameisen übersäten Schienbeine – »dass Sie, ähm, Medikamente nehmen und so weiter ... behalte ich natürlich für mich.«

Sie zuckte die Achseln. »Also ehrlich gesagt wissen es Jürgen und Dr. Sheridan und alle im Dorf sowieso. Außerdem nehme ich sie ja nicht mehr.«

»Ist Madeleine Sheridan Ärztin?«

»Ja.« Sie verkrampfte die Zehen. »Sie hat gute Kontakte zur Klinik in Grasse. Also tun Sie lieber so, als wären sie glücklich und hätten Ihr Leben im Griff.«

Er lachte, und um ihn noch einmal zum Lachen zu bringen, damit er wie jemand wirkte, der glücklich ist und sein Leben im Griff hat, erzählte sie ihm, dass nichts, absolut gar nichts ein Geheimnis blieb, sobald Jürgen davon erfuhr. »Wie alle Menschen, die nichts für sich behalten können, legt er die Hand aufs Herz und beteuert, seine Lippen seien versiegelt. Aber Jürgens Lippen sind niemals versiegelt, weil immerzu ein riesiger Joint dazwischensteckt.«

Joe Jacobs wusste, dass er ihr mehr Fragen stellen sollte. Wie seine Frau, die Journalistin. Nach dem Warum, dem Wie, dem Wann, dem Wer und allem anderen, was das Leben besser verstehen hilft. Aber sie hatte ihm ja ein paar Dinge erzählt. Auf dem Weg zum Obstgarten hatte sie ihm erzählt, ihren Job, im Victoria Park in Hackney Blätter zusammenzurechen und den Rasen zu mähen, habe sie an den Nagel gehängt. Eine Jugendgang habe sie mit einem Messer bedroht, weil ihre Beine gezuckt hätten, solange sie die Tabletten nahm, und sie somit eine leichte Beute gewesen sei.

Wieder klingelte die Glocke.

»Was ist das?« Kitty stand auf und spähte in das hohe Gras.

Joe sah, wie sich unter ihrem Kleid die einzelnen Wirbel abzeichneten. Als ihm schon wieder der Hut vom Kopf rutschte, hob sie ihn auf, klopfte ihn mit ihren grünen Fingernägeln ab und hielt ihn Joe hin.

»Oh!«

Kitty rief »Oh!«, weil sich in diesem Augenblick etwas im hohen Gras bewegte und pink und silbern aufblitzte. Etwas kam auf sie zu. Das Gras schien sich zu teilen, und dann stand, barfuß und im Kirschdruckbikini, Nina vor ihnen. An den Zehen trug sie das Geschenk von Jürgen, die fünf Zehenringe aus Indien, an denen kleine Glöckchen angebracht waren.

»Ich hab dich gesucht.« Sie starrte ihren Vater an, der anscheinend Kitty Finch die Hand hielt. »Mama ist nach Nizza gefahren. Sie sagte, sie müsse ihre Schuhe reparieren lassen.«

Kitty blickte auf die Uhr an ihrem schmalen Handgelenk.

»Aber die Schuster in Nizza haben um diese Zeit geschlossen.«

Drei knurrende Hunde kamen aus dem Gras gesprungen und umkreisten sie. Als der Bauer auftauchte und den schwitzenden englischen Dichter zur Rede stellte, weil er unbefugt sein Grundstück betreten habe, riss die hübsche junge Engländerin das Band von ihrem Hut und reichte es dem finster dreinblickenden Dichter.

»Wischen Sie sich die Stirn ab«, sagte sie, und dann forderte sie den Bauern auf Französisch auf, er solle seine Hunde zurückpfeifen.


Als sie wieder an der Villa ankamen, ging Joe unter den Zypressen hindurch in den Garten, wo er einen Tisch und einen Stuhl aufgestellt hatte, um im Schatten zu schreiben. Seit zwei Wochen bezeichnete er diese Ecke als sein Arbeitszimmer, und alle wussten, dass er hier nicht gestört werden durfte, selbst dann nicht, wenn er auf seinem Stuhl einschlief. Zwischen den Ästen der Zypressen hindurch sah er, dass Laura auf dem ausgebleichten Korbstuhl am Pool saß. Mitchell brachte ihr gerade eine Schüssel Erdbeeren.

Schläfrig schaute er Laura und Mitchell dabei zu, wie sie in der prallen Sonne ihre Erdbeeren aßen, und bald schon fand er sich am Rande des Schlafes wieder. Es war ein seltsames Gefühl, »sich« am Rande des Schlafes »wiederzufinden«. Als ob er sich jemals irgendwo »wiederfinden« könnte. Wenn, dann sollte es gefälligst ein angenehmer Ort sein, ein Ort ohne Kummer oder drohende Gefahr; ein Tisch im Schatten eines alten Baumes, im Kreis seiner Familie; eine Gondel, die durch die Kanäle Venedigs gleitet, während er fotografiert; ein leeres Kino, in dem er, eine Dose Bier zwischen den Beinen, allein einen Film anschaut. Ein Auto auf einer Gebirgsstraße um Mitternacht, nach einem Schäferstündchen mit Kitty Finch.

Eine Gebirgsstraße. Mitternacht.

Es wurde dunkel, und sie sagte ihm, die Bremsen des Mietwagens seien im Arsch, und sie sehe nichts, sie sehe nicht einmal ihre Hände.

Als sie sich über das Lenkrad beugte, rutschte ihr das Seidenkleid von den Schultern. Ein Kaninchen lief über die Straße, und das Auto scherte aus. Er sagte, sie solle sich auf die Straße konzentrieren, auf nichts anderes, und während er sprach, küsste sie ihn und steuerte gleichzeitig den Wagen. Und dann bat sie ihn, sein Fenster zu öffnen, damit sie hören könne, wie die Insekten im Wald einander riefen. Er kurbelte das Fenster herunter und sagte noch einmal, sie solle sich auf die Straße konzentrieren. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und spürte, wie die kalte Bergluft auf seinen Lippen brannte. Einst hatten in diesem Bergwald urzeitliche Menschen gelebt. Sie wussten, dass die Vergangenheit in Felsen und Bäumen zu Hause war, und sie wussten, dass ihr Begehren sie unbeholfen, verrückt, rätselhaft und verkorkst werden ließ.

»Ja«, sagte Kitty Finch, den Blick wieder auf die Straße gerichtet. »Ich weiß, was du denkst. Das Leben ist nur lebenswert, weil wir hoffen, dass es irgendwann besser wird und dass wir am Ende alle wohlbehalten heimkehren. Aber du hast es versucht, und du bist nicht wohlbehalten heimgekehrt. Du hast überhaupt nicht heimgefunden. Deshalb bin ich hier, Jozef. Ich bin nach Frankreich gekommen, um dich von deinen Gedanken zu erlösen.«

Imitiertes Leben

Isabel Jacobs war sich nicht sicher, warum sie gelogen hatte, sie müsse ihre Schuhe reparieren lassen. Schon wieder etwas, worüber sie sich nicht sicher war. Alles, was sie seit der Ankunft von Kitty Finch tun konnte, um durch den Tag zu kommen, war eine Person zu imitieren, die sie einmal gewesen war. Nur dass ihr diejenige, die sie einmal gewesen war, nicht mehr nachahmenswert erschien. Die Welt war ihr mehr und mehr ein Rätsel. Und sie selbst nicht minder. Sie wusste nicht mehr, welche Gefühle etwas bei ihr auslösten, woher diese Gefühle kamen oder warum sie einer Fremden das freie Zimmer angeboten hatte. Als sie die Berge hinter sich gelassen, Kleingeld für die Maut hervorgekramt, sich in Vence verfahren hatte und inmitten des Verkehrs, der die Küstenstraße nach Nizza verstopfte, zu wenden versuchte, fuchtelten andere Fahrer wütend mit den Händen, hupten, kurbelten ihre Fenster herunter und schrien sie an. Von den Rücksitzen trafen sie die spöttischen Blicke gestriegelter kleiner Hunde, als hätten auch sie nur Verachtung für jemanden übrig, der in einem Gewirr von Einbahnstraßen nicht wusste, wohin.

Sie parkte gegenüber einem Strand namens Opéra Plage und ging auf die rosafarbene Kuppel des Hotel Negresco zu, das sie von der Karte her kannte, die an das Merkblatt der Villa geklammert war. Über das Hotel Negresco, das älteste und nobelste Belle-Époque-Hotel an der Promenade des Anglais, stand im Merkblatt jede Menge. Gebaut worden war es offenbar 1912 von Henri Negresco, einem gebürtigen Ungarn, der mit diesem Hotel »die Crème de la Crème« nach Nizza locken wollte.

Über die Straße, die sie von den vollen Stränden trennte, wehte eine Brise herüber. Dieser Schwall schmutzigen Stadtlebens hier fühlte sich besser, viel besser an als die schneidend klare Bergluft, die auch den Kummer klarer vor Augen treten ließ. Hier in Nizza, der fünftgrößten Stadt Frankreichs, konnte sie in der Masse der Urlauber untertauchen, als hätte sie keine anderen Probleme als die unverschämten Preise, die an der Riviera für das Mieten eines Liegestuhls verlangt wurden.

Eine Frau mit einem Helm aus hennarotem, dauergewelltem Haar hielt sie an und fragte, ob sie ihr sagen könne, wie sie in die Rue François Aune komme. Die Gläser ihrer riesigen Sonnenbrille waren mit etwas verschmiert, was wie getrocknete Milch aussah. Der Akzent, mit dem sie Englisch sprach, klang für Isabel nach Russland. Die Frau deutete mit einem Finger voll schwerer Ringe auf einen Mechaniker, der in einem öl-verschmierten blauen Overall unter einem Motorrad lag – als wollte sie Isabel auffordern, für sie nach dem Weg zu fragen. Einen Augenblick verstand sie nicht, warum die Frau das von ihr verlangte, aber dann sah sie, dass sie blind war und gehört hatte, wie der Mechaniker den Motor aufheulen ließ.

Als Isabel sich auf dem Bürgersteig hinkniete und ihm den Zettel zeigte, den die Frau ihr in die Hand gedrückt hatte, deutete er mit dem Daumen auf den Wohnblock auf der anderen Straßenseite. Die Blinde stand in der Straße, nach der sie suchte. »Sie sind da.« Isabel nahm sie am Arm und führte sie durch das Tor hindurch zu dem exklusiven Apartmentblock, dessen Fenster alle von frischgestrichenen grünen Fensterläden umrahmt waren. Drei Sprinkler bewässerten die in fein säuberlichen Reihen gepflanzten Palmen des Gemeinschaftsgartens.

»Ich muss aber zum Hafen, Madame. Ich bin auf der Suche nach Dr. Ortega.«

Die blinde Russin klang ungehalten, als habe man sie gegen ihren Willen zum falschen Ort gebracht. Isabel ging die Messingschilder mit den eingravierten Namen der Bewohner durch und las sie laut vor: »Perez, Orsi, Bergel, Dr. Ortega.« Da war sein Name. Hier wohnte er, auch wenn die Frau anderer Ansicht war.

Sie klingelte bei »Dr. Ortega« und ignorierte die Russin, die jetzt hektisch in ihrer Krokodilleder-Handtasche wühlte und ein abgegriffenes Handwörterbuch hervorkramte.

Eine sanfte spanische Stimme kam aus dem polierten Messinglautsprecher der Gegensprechanlage und fragte auf Französisch, wer sie sei.

»Ich heiße Isabel. Eine Besucherin wartet hier unten auf Sie.«

Sie wurde von einer Polizeisirene übertönt und musste noch einmal von vorne anfangen.

»Sagten Sie, Ihr Name sei Isabel?« Es war eine ganz einfache Frage, doch sie machte sie nervös, als gäbe sie sich als jemand aus, der sie nicht war.

Der Türöffner gab ein Wimmern von sich, und sie stieß die Glastür mit dem schweren, dunklen Holzrahmen auf, die in den marmornen Eingangsbereich führte. Die Russin mit der verschmierten dunklen Brille rührte sich nicht vom Fleck und wiederholte unablässig, sie wünsche zum Hafen gebracht zu werden.

»Sind Sie noch da, Isabel?«

Warum kam der Herr Doktor nicht die Treppen herunter und nahm die blinde Frau in Empfang?

»Könnten Sie herunterkommen und Ihre Patientin abholen?« Sie hörte, wie er lachte.

»Señora, soy doctor en filosofía. Sie ist keine Patientin, sondern eine Schülerin von mir.«

Wieder lachte er. Das tiefe, rasselnde Lachen eines Rauchers. Sie beugte sich vor, um seine aus den Lautsprecherlöchern kommende Stimme besser zu verstehen.

»Meine Schülerin möchte zum Hafen, weil sie nach St. Petersburg zurückwill. Sie hat keine Lust, zu ihrer Spanischstunde zu kommen und glaubt deshalb nicht, dass sie da ist. Ella no quiere estar aquí

Er war charmant und zu Scherzen aufgelegt, ein Mann, der die Zeit hatte, aus der sicheren Distanz der Gegensprechanlage in Rätseln zu sprechen. Sie wünschte, sie könnte mehr wie er sein und herumalbern und sich einen Spaß mit dem machen, was der Tag ihr brachte. Wie war sie dort gelandet, wo sie jetzt war? Wo war sie eigentlich? Wie immer auf der Flucht vor Jozef. Bei diesem Gedanken brannten in ihren Augen Tränen, die sie wütend machten. Nein, nicht schon wieder, nicht Jozef, nicht schon wieder. Sie wandte sich ab und ließ die Russin stehen, die im marmornen Treppenhaus nach dem Geländer tastete und noch immer darauf beharrte, dass sie hier falsch und der Hafen ihr eigentliches Ziel sei.

Der Himmel hatte sich verdunkelt, und sie konnte riechen, dass das Meer nicht weit war. Über ihr kreischten Möwen. Von der Boulangerie auf der anderen Straßenseite wehte über die geparkten Autos hinweg süßer Hefegeruch herüber. Familien kamen mit aufblasbaren Bällen, Plastikstühlen und farbenfrohen Handtüchern vom Strand zurück. Die Boulangerie war plötzlich voller Jugendlicher, die sich ein Stück Pizza kauften. Gegenüber ließ der Mechaniker triumphierend sein Motorrad aufheulen. Sie war noch nicht bereit, nach Hause zu gehen und eine Person zu imitieren, die sie einmal gewesen war. Stattdessen ging sie eine gefühlte Stunde die Promenade des Anglais entlang und setzte sich in eines der Strandrestaurants in der Nähe des Flughafens.

 

Die startenden Flugzeuge flogen dicht über das schwarze Meer hinweg. Eine Gruppe Studenten trank auf den Kiesböschungen Bier. Rechthaberisch, auf Flirts aus, riefen sie sich Dinge zu, genossen den Sommerabend am Strand. Das ganze Leben lag vor ihnen. Neue Jobs. Neue Ideen. Neue Freundschaften. Neue Liebesbeziehungen. Sie dagegen stand mitten im Leben, war fast 50 Jahre alt und hatte durch ihre Arbeit zahllose Massaker und Konflikte erlebt, die ihr das Leid auf der Welt hautnah vor Augen geführt hatten. Sie war nicht nach Ruanda geschickt worden, um über den Völkermord zu berichten, wie zwei ihrer erschütterten Kollegen. Sie hatten ihr von einer menschlichen Tragödie unglaublichen Ausmaßes erzählt, selbst verstört, hätten sie in die verstörten Augen der Waisenkinder gestarrt. Ausgehungerte Hunde seien daran gewöhnt gewesen, Menschenfleisch zu fressen. Sie hätten über die Felder streunende Hunde beobachtet, die menschliche Teile zwischen den Zähnen gehabt hätten. Auch wenn sie die Schrecken von Ruanda nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, war sie zu tief in das Unglück dieser Welt eingetaucht, als dass sie noch einmal von vorne anfangen könnte. Wenn sie die Wahl hätte, all das wieder zu vergessen, was sie eigentlich hätte weise machen sollen, dann würde sie noch einmal ganz von vorne anfangen. Unbedarft und voller Hoffnung würde sie noch einmal heiraten und noch einmal ein Kind bekommen und mit ihrem gutaussehenden jungen Mann abends am Strand Bier trinken. Sie wären noch einmal bezauberte Anfänger, die sich unter dem strahlenden Sternenhimmel küssen. Das war das Beste, was man im Leben sein konnte.

Eine aus Frauen und Kindern bestehende Großfamilie saß an drei zusammengeschobenen Tischen. Sie hatten alle die gleichen borstigen braunen Haare und hohen Wangenknochen und aßen in Halblitergläsern aufgeschichtetes, kunstvoll vermengtes Eis. Der Kellner zündete die Wunderkerzen an, die er in die Schlagsahne gesteckt hatte, und alle machten Ah und Oh und klatschten in die Hände. Sie fröstelte in ihrem rückenfreien Kleid, das für diese Nachtzeit zu luftig war. Die Frauen, die mit langen Silberlöffeln ihre Kinder fütterten, warfen der stumm grübelnden Frau mit den nackten Schultern misstrauische Blicke zu. Sie schienen ihr ihre Einsamkeit ebenso übelzunehmen wie der Kellner. Sie musste ihm zweimal sagen, dass sie auf niemanden warte. Als er ihren Espresso auf den leeren, für zwei gedeckten Tisch knallte, schwappte das meiste davon in die Untertasse.

Sie sah zu, wie die Wellen sich an den Kieselsteinen brachen, wie der Ozean die an jenem Tag am Strand zurückgelassenen Plastiktüten in sich aufnahm. Während sie versuchte, den verbliebenen Kaffee, der ihr das Anrecht auf einen Platz an diesem Tisch für zwei verschaffte, möglichst lang zu strecken, kehrten die Gedanken, die sie wegzuschieben versuchte, ebenso regelmäßig zurück wie die Wellen auf den Steinen.

In ihrem Haus in London war sie eine Art Gespenst. Wenn sie aus irgendeinem Kriegsgebiet zurückkehrte und feststellte, dass in ihrer Abwesenheit die Schuhcreme oder die Glühbirnen einen neuen Aufbewahrungsort erhalten hatten, in der Nähe, aber eben nicht genau dort, wo sie sonst immer gewesen waren, dann wurde ihr klar, dass auch sie keinen festen Platz im Haus der Familie hatte. Um das zu tun, was sie sich in diesem Leben vorgenommen hatte, riskierte sie es, ihren Platz als Ehefrau und Mutter zu verwirken – ein verwirrender Platz, an dem ihr all die Erwartungen im Nacken saßen, die an einen gestellt wurden, wenn man sich für ihn entschied. Sie hatte versucht, etwas zu sein, was sie nicht ganz begreifen konnte. Eine starke und doch zerbrechliche Frauengestalt. Sie wusste zwar, dass Stärke nicht dasselbe war wie Durchsetzungsfähigkeit und Zerbrechlichkeit nicht dasselbe wie Einfühlsamkeit, aber sie wusste nicht, wie sie dieses Wissen für ihr eigenes Leben fruchtbar machen könnte, worauf es hinauslief, oder wie es ihr wenigstens helfen könnte, sich besser dabei zu fühlen, an einem Samstagabend allein an einem für zwei gedeckten Tisch zu sitzen. Wenn sie aus Afrika, Irland oder Kuwait nach London kam, dann war es Laura, die ihr manchmal ein Bett im Lagerraum über ihrem Laden in Euston anbot. Es war eine Art Rekonvaleszenz. Sie legte sich am helllichten Tag hin, und wenn es im Laden ruhig war, brachte Laura ihr eine Tasse Tee. Sie hatten nichts gemeinsam, außer dass sie sich schon so lange kannten. Die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, bedeutete viel. Sie mussten nichts erklären oder höflich sein oder die Gesprächspausen füllen.

Sie lud Laura ein, den Sommer über die Villa mit ihnen zu teilen, und war überrascht, wie schnell ihre Freundin Ja sagte. Normalerweise brauchten Laura und Mitchell mehr Vorlauf, um den Laden zuzusperren und ihre Angelegenheiten zu regeln.

Die Wunderkerzen in den Eisbechern verloschen zischend. Eine der Mütter schrie plötzlich ihren fünfjährigen Sohn an, der sein Glas fallen gelassen hatte. Aus ihrem Schrei sprach ungezügelte Wut. Isabel sah ihr an, wie erschöpft sie war. Die Frau war im Lauf der Jahre verbissen geworden, weder unglücklich noch glücklich. Sie kroch jetzt auf allen vieren auf dem Boden herum und wischte mit den Servietten, die der Rest des Clans ihr hinhielt, das Eis auf. Sie spürte, wie missbilligend die Frauen sie anblickten, weil sie so alleine dasaß, aber sie war ihnen dankbar. Sie würde Nina mit in dieses Restaurant nehmen und ihr einen Eisbecher mit Wunderkerze kaufen. Die Frauen hatten für ihre Kinder etwas Schönes geplant, etwas, was sie imitieren würde.

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