Der Mann, der alles sah

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5

In meinem Wohnblock ging irgendetwas vor. Menschen liefen in Panik aus dem Gebäude. Der Ingenieur, der im dritten Stock wohnte, schrie etwas von einem Feuer. Ich konnte keinen Brandgeruch wahrnehmen. Es gab ein Gerücht, dass die Feuerwehrleute streikten, obwohl es nicht offiziell bekannt gegeben worden war. Der Vermieter hatte uns geraten, für alle Fälle einen Eimer Sand bereit zu halten und auch die Stecker der nicht benötigten elektrischen Geräte aus der Steckdose zu ziehen. Mrs Stechler kehrte mit dem angekündigten Mohnkuchen zurück, doch die Plastiktüte in ihren behandschuhten Händen war durchsichtig, und ich meinte, blutige Fleischstücke darin zu erkennen. Als sie ihren Rollator im Hausflur abholte, erzählte sie mir, sie glaube, ob sie ihren Toaster nicht aus der Steckdose gezogen habe, außerdem sei sie nicht sicher, dass sie ihren Heizstrahler ausgeschaltet habe. Warum sollte sie im September ihren Heizstrahler in Betrieb nehmen? Ich erklärte mich bereit, in ihre Wohnung hochzugehen und nachzuschauen. Unter den anderen vor dem Gebäude versammelten Mietern gab es eine Debatte darüber, ob das so klug sei. Es wurde entschieden, wenn es ein Feuer gebe, solle ich es nicht riskieren, würde ich jedoch darauf bestehen, so rieten sie mir, wenigstens nicht den Fahrstuhl zu benutzen.

»Er möchte sterben, also lasst ihn.« Mrs Stechler lächelte tatsächlich, als sie mir ihre Wohnungsschlüssel übergab. Das war das erste Mal, dass ich sie vergnügt sah.

Ich rannte die fünf Treppen nicht hoch; ich ging langsam, weil ich vom Sturz auf der Abbey Road noch hinkte. Als ich ihre Tür aufschloss, bemerkte ich kein Anzeichen von Rauch. In ihrer Wohnung war alles abgeschaltet. Ein schweres schwarzes Telefon war mitten auf dem Teppich platziert. Ein seltsamer Ort für ein Telefon, besonders, wenn sie Arthritis hatte und sich nicht ohne Mühe bücken konnte. Ich folgte der Schnur und sah, dass sie in die Wandsteckdose hinter dem Fernseher führte. Ich ballte die Hand zur Faust und fing an, die Wand abzuklopfen. Ich war nicht sicher, was ich finden wollte, falls ich nach etwas suchte. War die Wand hohl oder solide? Wollte ich das wissen? Ich klopfte wieder. Als würde diese Handlung mir ein Gefühl von Wichtigkeit verleihen, was mich sofort zu der Frage führte, ob ich mich sonst unwichtig fühlte. Kamen sich die Stasi-Leute wichtig vor, wenn sie die Wände mit den Fäusten abklopften? Das Telefon läutete, und ich nahm den Hörer ab.

»Hallo. Bei Mrs Stechler.«

»Wer ist am Apparat?«

»Saul. Ich bin ein Nachbar.«

»Isaac.«

Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte meine Brust.

»Mrs Stechler ist nicht zu Hause. Kann ich etwas ausrichten?«

»Saul wer?«

Die Worte Saul wer? entsetzten mich, ließen Furcht und Bedauern in mir aufsteigen.

Dennoch bemühte ich mich, deutlich und sanft in das Telefon zu sprechen.

»Saul Adler.«

Ich brachte kaum ein Wort heraus.

Ich stellte fest, dass mein Herz gebrochen war. Die Wal-Mart-Tragetasche, die der Wind auf der Abbey Road herangeweht hatte, war mit dem Amerika einer anderen Zeit verbunden, und der Name Isaac war auch mit Amerika verbunden.

Die Verbindung war abgebrochen.

Ganz in meiner Nähe atmete jemand.

Ich drehte mich um und blickte direkt in die erschrockenen Augen eines Tieres. Ein schwarzer Pudel war auf die Lehne des Sofas gesprungen. Seine Augen waren feucht, und das Tier winselte. Mietern war es nicht gestattet, Tiere in den Wohnungen zu halten. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Mrs Stechler einen Hund hatte. Ihr Kauf von rohem Fleisch anstelle von Mohnkuchen ergab jetzt einen Sinn.

Ich saß auf dem Sofa und hielt den Pudel im Arm. Das Telefon läutete wieder. Während ich den warmen Kopf des Hundes streichelte, wurde ich ruhiger. Unser Atmen hatte sich irgendwie synchronisiert; wir atmeten zusammen, während wir darauf warteten, dass das Telefon zu klingeln aufhörte. Es war sehr beruhigend, den Hund im Arm zu halten und gleichzeitig mit ihm zu atmen.

Ich hatte Hunger. Einen Bärenhunger. Vielleicht hatte ich seit dem Fast-Zusammenstoß auf der Abbey Road zu essen vergessen. Als ich in einer vermeintlich kritischen Situation (dem vermuteten Feuer) auf dem schildkrötengrünen Sofa saß, musste ich an meinen Freund Jack denken, der mir gesagt hatte, er wolle nie Kinder haben. Jack hielt Eltern für seltsame Wesen, die mit komischer Stimme zu ihren Kindern sprachen, und er wollte sowieso stets im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, besonders der sexuellen Aufmerksamkeit seiner Lover. Keinesfalls sollte ihm diese Aufmerksamkeit durch die Bedürfnisse eines Kindes oder die nun kein Ende nehmenden Bedürfnisse des entfremdeten Elternteils gestohlen werden.

Ich hatte ihm von Herzen zugestimmt. Jack war zehn Jahre älter als ich, wirkte aber jünger als seine achtunddreißig Jahre. Er trug modische Leinenjacketts und schwarze Teenager-Sneaker, und dieser Look hat mir immer gefallen.

Ich war mir nicht so sicher, dass ich das an dem Tag dachte, an dem wir in einem französischen Bistro in West London Miesmuscheln mit Pommes frites aßen. Bei diesem Lunch war ich mir bewusst, dass wir uns selbst für kultivierte, niveauvolle, gutaussehende Männer hielten, den erschöpften Vätern überlegen, die vielleicht lange keinen Sex gehabt hatten. Oder jedenfalls nicht mit ihren erschöpften Partnerinnen.

Aber selbst da glaubte ich mir selbst nicht ganz, als ich Jack zustimmte. Obwohl er witzig und amüsant war, mangelte es ihm irgendwie an Gefühl. Das sagte ich laut zu dem Hund, der jetzt auf meinem Schoß schlief.

»Es mangelte ihm irgendwie an Gefühl.«

Als Jack zu meinem Teller Muscheln herübersah, stellte er fest, dass ich einige davon nicht gegessen hatte. Er fragte, ob er sie für mich wegputzen könne, so als würde er mir damit einen großen Gefallen tun. Ich schob meine Schüssel in seine Richtung, sah zu, wie er alles verschlang, die Schalen ausschlürfte und sehr schnell kaute – er glaubte, dieses Schlürfen meiner Essensreste mache ihn besonders liebenswert. Was merkwürdig war. (Das sagte ich wieder laut zum Pudel: »Es war merkwürdig.«) Es gefiel mir, mich an Jack zu erinnern und dabei einen dekorativen, illegalen Hund auf dem Schoß zu haben. Wenn es doch ein Feuer gab, sollte ich ihm vielleicht das Leben retten? Ich konnte tatsächlich etwas Beißendes, Bitteres riechen, aber war es Rauch?

Ich hatte noch mehr Gedanken über den hübschen Jack beizutragen.

Ich nahm die Hundepfote und drückte sie. Nachdem Jack meine Muscheln gegessen hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit der Rechnung zu, die jetzt auf einer Untertasse gekommen war. Er prüfte sie, und statt den Preis durch zwei zu teilen, bestand er darauf, dass ich das Extra-Brot bestellt hätte, das man uns nun berechnete, weshalb ich es bezahlen sollte, obwohl er auch davon gegessen hatte. Gleichzeitig beäugte er ein Stück Zitronentorte, das ein Mann, der allein am Nachbartisch saß, auf seinem Teller übrig gelassen hatte. Jack wollte hinüberlangen und es auch noch verschlingen. Als er mich verschwörerisch anblickte, fragte ich mich, warum er so wenig liebenswert war. Ich glaube, diese Frage beschäftigte mich, als ich die Wand mit der Faust abklopfte. Die offensichtliche Antwort lautete: weil Jack selbst lieblos war. Ich hatte die Wand befragt, und die hatte auf ihre Art geantwortet. Ich war plötzlich besorgt, dass Jennifer glauben könnte, ich wäre kein liebenswürdiger Mensch. Jack hatte sich nach unserer Mahlzeit zu einem Tennisspiel verabredet. Er erzählte mir, dass er ein paar Extrastunden bei einem Trainer genommen hatte, um seinen Aufschlag für dieses spezielle Match zu vervollkommnen. Ich konnte nicht herausfinden, warum er vor einem Tennisspiel eine große Mahlzeit herunterschlang, aber er war sehr dünn. Ich vermutete, dass er selbst das Kind war, das er so verurteilte. Ein Kind, das aufgepäppelt werden musste.

Mittlerweile war es möglich, dass der Wohnblock in Flammen stand, während ich auf dem Sofa saß und einen illegalen Hund streichelte. Ich stand auf und setzte den Pudel auf dem Boden ab. Er gab einen unwilligen Laut von sich, als ich die Tüte mit dem Brie aufhob und die Wohnungstür zuwarf. Ich hinkte die Treppe wieder hinunter, konnte aber keinen Rauch riechen. Alle standen dicht gedrängt vor dem Haus beisammen und zeigten auf verschiedene Fenster. Sie waren erleichtert zu erfahren, dass Mrs Stechler das Heizgerät nicht angelassen hatte. Ich sagte ihr, dass jemand sie angerufen habe.

Sie nahm ihre dicke Brille ab und sah verwirrt aus.

»Das glaube ich nicht. Mein Telefon wurde abgestellt.«

Sie blies auf ihre Brillengläser, nahm dann ihren Kleidersaum hoch und wischte sich über die Augen.

»Übrigens bin ich auch jüdisch«, sagte sie. »Ich wurde in Krakau geboren.«

Der Ingenieur tippte mir auf die Schulter.

»Vielen Dank, dass Sie sich um die Sicherheitskontrolle gekümmert haben, Mr Adler«, sagte er ernsthaft. »Das hat uns beruhigt.«

Ich überlegte, warum Mrs Stechler Handschuhe trug und welches Gespenst sich darunter verbarg, aber ich wollte nicht darüber nachdenken, deshalb rannte ich über die Straße und rief Jennifer vom Münzfernsprecher an der Ecke aus an.

»Wie geht’s, Jennifer?«

»Warum rufst du mich an?«

»Weil die Feuerwehrleute streiken.«

»Wer sagt, dass die Feuerwehrleute streiken? Davon höre ich jetzt zum ersten Mal.«

In der Hand hatte ich die Tüte mit dem schmelzenden Brie. Jennifer sprach freundlich und sachlich, als hätte sie meinen Heiratsantrag nicht abgelehnt und mich, nachdem sie meinen Körper benutzt hatte, nicht mehr oder weniger aus ihrem Bett geworfen, noch beschädigt und blutend von dem Unfall.

 

»Die Fotos sind gut geworden, wie?« Sie fing an, über Licht und Schatten zu reden und über den Winkel, aus dem sie fotografiert hatte, und dass auf dem Originalfoto der echten Beatles für das Album Abbey Road ein amerikanischer Tourist, der zufällig gerade dort gewesen war, unter einem Baum gestanden habe. Ich schaute auf die Tüte mit dem in ihr dahinschmelzenden Stück Brie. An der rechten Ecke der Tüte schien eine Art Botschaft zu stehen.

»Geht es dir gut, Saul?«

Der Verkäufer mit den sanften Händen hatte den Preis für den Käse mit Kuli darauf geschrieben und ihn zweimal unterstrichen.

»Nein, mir geht es nicht gut, ganz und gar nicht.«

»Die Sache ist die, Saul Adler: Verpiss dich.«

»Die Sache ist die, Jennifer Moreau: Genau das werde ich tun.«

Als ich an diesem Abend meine Tasche für Ostberlin packte, stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, die Dose Ananas zu kaufen.

6 Ostberlin, September 1988

Mit Walter Müller lachte ich viel. Es war eine Erleichterung, die Zeit mit jemandem zu verbringen, dessen Leben sich nicht um materiellen Gewinn drehte. Walter beherrschte mehrere Sprachen. Er unterrichtete Ostdeutsche, die vorhatten, in anderen sozialistischen Ländern zu arbeiten, in osteuropäischen Sprachen und sprach auch fließend Englisch. Ich mochte ihn auf Anhieb, als ich ihn im Bahnhof Friedrichstraße auf mich warten sah. Er stand am Bahnsteigende und hielt eine Pappe mit meinem Namen darauf hoch. Er war ungefähr dreißig, hochgewachsen, mit schulterlangem mattbraunem Haar, blassblauen Augen, breiten Schultern. Muskulös. Sein Körper strahlte eine gewisse Energie aus, eine Vitalität, die entspannt und doch aufregend war. Ich berichtete ihm von meiner albtraumhaften Zugfahrt zum britischen Flughafen, wie dem Zug der Kraftstoff ausgegangen war und ich auf einen Ersatzbus hatte warten müssen. Walter Müller schüttelte auf leicht spöttische Weise den Kopf, um die Tiefe seines Mitgefühls zum Ausdruck zu bringen. Offenbar ruderte ich seiner Ansicht nach im seichten Bereich der Lebensprobleme.

»Das ist eine sehr schlechte Verkehrspolitik Ihres Landes.«

Er führte mich aus dem Bahnhof Friedrichstraße und fragte, ob ich zur Wohnung seiner Mutter laufen oder lieber mit der Straßenbahn fahren wolle. Ich erklärte mich einverstanden, zu laufen. Sein Englisch war steif, ein wenig verkrampft, und bildete einen Kontrast zu dem Selbstvertrauen und der Energie in seinem Körper.

»Das ist unsere Stadt an der Spree«, sagte er und deutete in Richtung des Flusses. Wir liefen am grauen Wasser der Spree entlang, vorbei am Theater des Berliner Ensembles, gegründet von Brecht, der während der Nazizeit im Exil gewesen war. Er hatte in mindestens vier Ländern gelebt, die ich für Walter aufzählte.

»Schweden, Finnland, Dänemark, schließlich Amerika.«

»O ja, Brecht«, sagte Walter. »Wussten Sie, dass Bruce Springsteen im Juli hier ein Konzert gegeben hat? Er hat drei Stunden lang gespielt.« Er korrigierte sich. »Nein. Vier Stunden.«

Ich wusste, dass Brecht von der Obrigkeit mit Misstrauen betrachtet worden war, weil er sich entschieden hatte, in Amerika zu leben, nicht in der Sowjetunion. Dennoch war er nach Ostdeutschland zurückgekehrt, um seine Stücke zu schreiben, in der Hoffnung, eine Rolle beim Aufbau eines neuen sozialistischen Staates zu spielen. Anscheinend interessierte ich mich mehr für Brecht als mein Dolmetscher, deshalb erzählte ich ihm nicht, dass ich den ganzen Text der Dreigroschenoper (»eine Oper für Bettler«) auswendig kannte und in der Badewanne oft »Surabaya Johnny« sang. Ich schaute hinunter auf zwei weiße Schwäne, die Seite an Seite auf der Spree schwammen.

»Schwäne leben gern zusammen«, sagte ich. »Sie gehen starke Bindungen ein.«

Walter bemühte sich, Interesse vorzutäuschen. »Besten Dank für die Information.« Seine Stimme war ernsthaft, doch seine Augen lachten.

Wie Walter mir erzählte, war er gerade aus Prag zurückgekehrt, wo er für Kameraden, die einen Ingenieurkurs belegten, vom Tschechischen ins Deutsche übersetzt hatte. Als ich ihm dafür dankte, dass er mich vom Bahnhof abgeholt hatte, obwohl er gerade erst von seiner eigenen Reise heimgekehrt war, lachte er. »Dieser Spaziergang mit Ihnen ist ein Glücksfall. Ich kann etwas Nützliches tun, Sie zum Beispiel zu einem Bier einladen.« Eine Fliege summte vor seinen Lippen herum. Er wedelte sie fort und stampfte dann mit dem Stiefel auf, um sie zu verscheuchen.

»Magie.« Er lachte und stampfte wieder mit dem Stiefel auf.

»Magie«, wiederholte ich. Ich wusste nicht, was vor sich ging oder warum er lachte.

»Was Sie auch tun«, sagte er, »wenn Sie Ihren Bericht über unsere Republik verfassen, schreiben Sie nicht, dass alles grau und bröckelig war, mit Ausnahme der farbenfrohen Unterbrechung durch an Gebäuden angebrachte rote Fahnen.«

»Auf keinen Fall.« Ich blickte mit meinen tiefblauen Augen in seine blassblauen Augen. »Ich werde erwähnen, dass es Fliegen gibt. Und dass die Straßenbahnen oft von Frauen gefahren werden.« Ich kannte ihn noch nicht gut genug, um ihm mitzuteilen, dass ich mich daran gewöhnt hatte, zensiert zu werden, weil Jennifer mir verboten hatte, sie mit meinen alten Worten zu beschreiben.

Wir setzten unsere heitere Unterhaltung fort. Walter ging flott in seinem dicken Wintermantel, während ich in meiner leichten Jacke mitzuhalten versuchte. Er erzählte mir, wie sehr ihm der Name eines bestimmten Gebäcks in Prag gefiel. Es hieß »Kleiner Sarg« und bestand zum größten Teil aus Sahne. Ich nahm an, er sprach von einem Eclair.

Er fragte mich, ob ich das Werk der tschechischen Künstlerin Eva Švankmajerová kennen würde. Ich kannte es nicht. Er bewunderte einen Satz, den sie geschrieben hatte; er würde ihn jetzt für mich zu übersetzen versuchen. Er schloss die Augen – »Also« – und runzelte lange die Stirn, während er die Worte über drei Sprachen hinweg, Tschechisch, Deutsch, Englisch, zu erfassen versuchte, dann öffnete er die Augen wieder, boxte mich gegen den Arm und warf sein Haar zurück. »Es lässt sich nicht übersetzen.« Was er in Prag wirklich gern tat, war, ein Gläschen Sliwowitz zu kippen, »einen sehr alten, aus Mähren«. Bald würde er mich dem Universitätsrektor vorstellen, der mir sehr wahrscheinlich einen guten Schnaps anbieten würde.

Nach einer Weile fragte er mich, warum ich hinken würde. Ich erzählte ihm auf Deutsch vom Fast-Unfall auf der Abbey Road, und er sagte auf Englisch: »Sprechen wir nun deutsch oder englisch miteinander?«

»Nun, vielleicht halbe-halbe«, sagte ich auf Deutsch.

»Wie kommt es, dass Sie fließend Deutsch sprechen?«, fragte er auf Englisch.

»Meine Mutter wurde in Heidelberg geboren.«

»Dann sind Sie zur Hälfte Deutscher?«

»Sie kam mit acht Jahren nach Großbritannien.«

»Hat sie zu Hause deutsch gesprochen?«

»Nie.«

Dieses Mal bedankte er sich nicht bei mir für die Information.

Als ich weiter hinkte, fragte er mich unverblümt, ob ich lahm sei.

»Ich bin nicht lahm. Ich habe nur eine geprellte Hüfte.«

Ich sagte das laut und mit Gefühl. Ich wollte auf Walter Müller nicht wie ein Jammerlappen wirken. Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich wollte ganz anders wirken, aber die Wahrheit war, dass ich Bauchschmerzen hatte. Es fühlte sich an, als würde etwas mit einem Messer aus meinen Eingeweiden herausgeschnitten.

Er bot an, meine Tasche zu tragen. Ich lehnte ab, doch er nahm sie trotzdem und schlang sie sich über die Schulter, während wir eine Straße mit Kopfsteinpflaster entlanggingen, die Marienstraße hieß. Nach einer Weile zeigte er auf das Krankenhaus, in dem seine Schwester als Krankenschwester arbeitete. »Die Ärzte sind sehr gut«, sagte er, »aber man bleibt besser nicht über Nacht dort. Sie könnte eine Röntgenuntersuchung für Sie organisieren, wenn Sie möchten.«

»Nein!« Ich schlug ihm so heftig auf die Schulter, dass er lachte.

»Sie sind stärker, als Sie aussehen.«

Das hatte er wohl nicht ernst gemeint, weil er mich wegstieß, als ich ihm meine Tasche abzunehmen versuchte.

In einiger Entfernung ratterte eine Straßenbahn vorbei.

»Setzen Sie sich, Saul.« Walter zeigte auf eine Steinstufe vor dem Eingang eines der Wohnblöcke.

Wie befohlen setzte ich mich auf die Stufe. Er setzte sich neben mich, meine Tasche zwischen den Knien. Alles war friedlich und ruhig. Ich bemerkte, dass Walter jetzt eine Brille aufgesetzt hatte und seine Zeitung las. Der Himmel hatte sich verdüstert, und sein linker Arm ruhte auf meinen Schultern. Ich war glücklich. Unerklärlich glücklich. Es fühlte sich an wie in dem Moment, als ich mit dem illegalen Pudel auf dem Schoß auf Mrs Stechlers Sofa gesessen hatte. Wir saßen lange dort.

Nach einer Weile klopfte er mir auf die Schulter.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Unfall.«

Ich fing an zu reden. Ich hörte mich Gedanken äußern, von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie hegte. Ich erzählte Walter, was mich auf der Abbey Road wirklich beunruhigt hätte, sei der Umstand, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben sei, als ich zwölf war. Irgendwie, irrationalerweise, kam mir der Gedanke, dass Wolfgang – so hieß der Fahrer, teilte ich ihm mit – dieselbe Person sein könnte, die auch sie getötet hatte.

»Das ist eine verständliche Befürchtung«, sagte Walter.

Ich erzählte ihm, dass meine Hände zu zittern begonnen hätten, als ich zum Ort des Unfalls zurückgekehrt sei, und dass ich mit der Frau, die mich um Feuer für ihre Zigarette gebeten hatte, auf der Mauer gesessen hätte. Das Zittern, so erzählte ich ihm, habe mit der Erinnerung an die ersten Sekunden zu tun, nachdem ich die Nachricht bekommen hatte, dass meine Mutter gestorben sei und nie wieder nach Hause kommen würde. Und mit einer weiteren Erinnerung an das Begreifen, dass das bedeutete, ich musste mit meinem Vater und meinem Bruder ohne meine Mutter leben, die ihren Körper wie eine menschliche Mauer benutzt hatte, um mich vor ihnen zu schützen.

»Sie mussten vor Ihrem Vater und Bruder beschützt werden?«

»Ja. Es waren große Männer. Sie hätten ihnen gefallen.«

Er schüttelte den Kopf und lachte. »Das glaube ich nicht.«

»Walter«, sagte ich, »wo ist die Mauer? Ich sehe sie nicht.«

»Sie ist überall.«

Ich sagte ihm, dass der tödliche Unfall meiner Mutter und mein kleinerer Unfall sich in meinen Gedanken vermischt hätten und dass ich immer noch unstillbar zornig auf den Fahrer sei, der sie überfahren hatte. Für mich sei er ihr Mörder. Der Tod meiner Mutter sei durch die vergangene Zeit nicht verblasst. Trotzdem hätte ich beim Überqueren der Straße nicht richtig aufgepasst.

»Ach ja.« Walter faltete seine Zeitung zusammen, zuerst zur Hälfte und dann noch einmal. Als ich seine Finger dabei beobachtete, wie sie die Ecken glattstrichen, bemerkte ich Druckerschwärze von der Zeitung an ihnen. Zufällige Wörter waren aschgrau auf seinen Fingerspitzen verschmiert. In meinem Kopf vernahm ich Tippgeräusche. Auf eine Seite hämmernde Tasten. Als berichtete ich über mich selbst. Herr Adler ist ein unvorsichtiger Mann. Aber das war nicht, was Walter jetzt zu mir sagte.

»Vielleicht mussten Sie es wiederholen oder so etwas in der Art?«

»Was wiederholen?«

»Die Geschichte.«

Er beugte sich vor und fragte, ob er mir helfen könne, den linken Schnürsenkel zu binden. Er hatte sich auf unserem Spaziergang gelöst. Ich schämte mich unendlich. Er war freundlich und vorurteilsfrei, wie es Fremde manchmal sein können, für gewöhnlich, weil die Geschichte nicht dazwischenfunkte. Ich erhob mich und lief ohne ihn weiter. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, doch ich wollte nicht, dass er meine Tränen sah. Ich war gerade erst angekommen, und da war er, trug meine Tasche und band mir die Schnürsenkel, und jetzt weinte ich. Als er mich einholte, hatte er seine Brille abgesetzt. Auf seinem Nasenrücken war eine Kerbe, dort hatte sich das Plastikgestell eingedrückt.

»He, Saul, warten Sie auf mich.«

Er stand neben einer Frau, die eine Holzkiste trug. Es stellte sich heraus, dass darin kleine Blumenkohlköpfe waren. Walter sprach in einem Dialekt mit ihr, den ich nicht verstand. Ich glaube, er gab mir Zeit, mir diskret die Augen zu wischen. Das Problem war, dass meine Augen nicht trocknen wollten. Ich wischte sie ab, und noch mehr Tränen schossen heraus. Ich war äußerst beschämt, weil ich einen so großen Teil meines Kummers in die DDR mitgebracht hatte. Ja, es war wirklich eine große Portion. Ich brauchte meinen Freund Jack, der jedermanns Essen aufaß, um mir etwas abzunehmen. Jacks egoistisches Naturell war das Gegenteil von Walters, obwohl Walter nicht weniger anspruchsvoll war. Er war ganz sicher weniger elegant und weniger aggressiv. Allmählich verstand ich mehr von dem, was er zu der Frau mit der Kiste im Arm sagte. Er redete von Kirschen. Irgendetwas über den Kirschbaum im Garten seiner Familiendatsche. Er hatte auch Blumenkohl gepflanzt, doch der war nicht gediehen. Alle Pflanzen waren eingegangen. Sie schaute in die Luft, irgendwo über meinen Kopf hinweg, doch ich wusste, dass sie mich ansah.

 

Ich winkte ihr zu. Sie reagierte nicht, ihr Gesicht war eine steinerne Fassade. Ich begriff plötzlich, dass es gefährlich für sie sein könnte, Kontakt zu Leuten aus dem Westen zu haben. Jemand würde berichten, dass sie zurückgewinkt hatte. Ich konnte keine Bettler oder Junkies oder Zuhälter oder Diebe oder irgendjemanden entdecken, der auf der Straße schlief. Doch der Ausdruck ihrer Augen prägte sich mir ein, wie auch ihre roten Lippen. Würde es mir lieber sein, dass man mir meine Brieftasche stahl, wenn das bedeutete, dass ich einen Fremden ohne Angst begrüßen durfte? Sie und Walter schienen sich zu kennen, weil er sie auf die Wange küsste und sie ihm einen Blumenkohl gab. Walter holte ein rotes Netz aus seiner Manteltasche. Er ließ den Blumenkohl in das Netz fallen und warf es sich über die Schulter.

»Glück gehabt«, rief er mir zu.

Wir gingen weiter. Es fiel mir jetzt leichter, weil der Schmerz in meinem Bauch nachgelassen hatte. Ich fragte ihn nach seinem Garten. Er erzählte mir, dass er sich mit Bienenzucht beschäftige, und lud mich ein, ein Wochenende in der Datsche am Stadtrand zu verbringen und es mir selbst anzusehen.

»Das würde ich sehr gern tun, vielen Dank.« Offenbar waren wir noch weit von der Wohnung seiner Mutter entfernt. Ich fragte ihn, warum seine Schwester Luna hieß.

»Der Mond ist eine Lichtquelle. Und Luna ist die Lichtquelle für meine Mutter. Ihre erste Tochter hat nicht überlebt.«

Diese Worte berührten einen Schmerz, der tief in mir war, zusammen mit all den anderen Schmerzen. Wie ein Teich mit schwarzem Wasser. Vom Mond beschienen.

Wenn ich nicht hinkte, weinte ich. Es war ein schrecklicher Anfang.

»Ist nicht mehr weit bis zur Kneipe«, sagte Walter, »aber zuerst muss ich den Blumenkohl wegbringen.« Er führte mich durch den Innenhof eines alten steinernen Gebäudes und wies mich an, im Treppenhaus zu warten.

Wieder saß ich auf den Stufen. Diesmal band ich mir die Schnürsenkel selbst.

Die Wände des Wohnblocks hatten Einschusslöcher vom letzten Krieg. Mein Vater hätte sich sofort darangemacht, die Wände der DDR zu verputzen. Mich beschäftigte Walters Beschreibung des verdorrten Kirschbaums, der im Garten seiner Datsche wuchs. Obwohl ich auf einer Steinstufe in Ostberlin saß, erhielt ich Bilder von anderswo. Sie waren alle in Schwarz-Weiß, wie Jennifers Fotos. Ein holzverschaltes Haus auf Cape Cod, Amerika. Das Haus war aus Kiefern- und Zedernholz errichtet. Drinnen befand sich ein großer Kamin. Vor den Fenstern hingen Holzläden. Irgendwo in diesem Haus war Jennifer, und ihr Haar war weiß geworden.

Ich hörte die Schreie der Möwen vor der Küste von Cape Cod und an den Ufern der Spree in Ostberlin.

Als Walter die Treppe herunterkam, hatte er einen winzigen holzgeschnitzten Spielzeugzug in der Hand.

»Den muss ich reparieren.« Er steckte den Zug in seine Manteltasche. »Der Leim ist bei meiner Mutter.«

Auf Deutsch versuchte er, mir etwas Kompliziertes zu erklären. Es ging offenbar darum, warum er nicht bei seiner Mutter und Schwester wohnte. Ich verstand nicht und fragte, ob wir siebzig Prozent Englisch sprechen könnten statt fünfzig, bis ich mich hineingefunden hätte.

Ich legte ihm meine Hand auf die Brust und lehnte mich an ihn, während ich nach dem Schock, den mir der Anblick des Holzzuges versetzt hatte, wieder zu Atem kam. Eines der Räder, rot lackiert, guckte aus Walters Manteltasche. Ich hatte diesen Zug schon einmal gesehen, oder von ihm geträumt, oder ihn sogar begraben, und hier war er, zurückgekehrt wie ein Gespenst, um mich zu quälen.

»Geht es Ihnen gut, Saul?«

»Aber ja doch«, antwortete ich.

Walter schlug vor, mit der Straßenbahn zur Kneipe zu fahren.

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