Seewölfe Paket 13

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Der alte Mann, der auf ihn eingesprochen hatte, fuhr zu den hinter ihm Stehenden herum.

„Der Regen weicht ihnen das Zündkraut in den Waffen auf“, raunte er. „Sie werden keinen einzigen Schuß auf uns abgeben.“

„Was hast du vor?“ flüsterte der Mann, der Antos’ linken Arm hielt. „Willst du dich gegen sie wehren? Sie sind in der Überzahl.“

„Fliehen müssen wir!“ zischte der Alte. „Fort, nur fort, zu den Olivenhainen! Sie töten uns Männer, treiben die Kinder ins Meer und vergewaltigen die Frauen, wenn wir nicht den Durchbruch wagen.“

„Geht zurück in die Häuser!“ rief Selim. „Das Dorf ist in unserer Gewalt! Seid nicht töricht, wagt es nicht, euch gegen uns aufzulehnen! Wir schießen jeden nieder, der … He, ihr zwei dort! Was habt ihr zu tuscheln?“

Er hob den Kopf und sah zu dem Alten und dem anderen Mann, der dicht neben ihm stand.

Doch jetzt war es Antos, der der Situation eine unerwartete Wende gab. Die Dorfbewohner hatten ihn losgelassen. Er wankte auf Selim, Jella, Dobran, Ali und Osman zu und sagte verblüfft: „Was sagst du da, Sohn des Poseidon? Was sind das für Worte? Ich begreife dich nicht mehr? Warum lächelst du nicht mehr?“

„Zur Seite, du Narr!“ fuhr Selim ihn an.

Die Männer des Dorfes hatten untereinander Blicke getauscht. Die kurze Ablenkung der Piraten, durch Antos ungewollt herbeigeführt, genügte ihnen. Sie duckten sich, rissen ihre Messer aus den Gurten und gaben den Frauen und Kindern durch Gebärden zu verstehen, sie sollten sich in Sicherheit bringen.

„Achtung!“ schrie Jella mit spitzer Stimme.

Selim stieß den völlig verstörten Antos von sich fort. Antos taumelte, verlor die Lyra und den Bogen aus seinen Händen und verfolgte fassungslos, wie Selim und seine Kerle das Instrument mit ihren Füßen zertraten.

Die Männer des Dorfes warfen sich mit gezückten Messern auf die Piraten. Die Frauen schrien, die Kinder kreischten und weinten. Iris wollte Melania mit sich fortziehen, doch Melania streckte die Hand nach Antos aus.

„Fort!“ schrie der alte Mann. „Flieht in die Hügel!“

Zwei oder drei Schüsse krachten doch, und der Alte sank plötzlich auf dem groben Pflaster der Gasse zusammen. Seine Freunde schrien erbost auf und warfen sich auf die Seeräuber. Im Nu tobte das wildeste Handgemenge.

Selim und seine Kumpane warfen die nassen, unbrauchbar gewordenen Feuerwaffen fort und zogen ihre Krummsäbel, ihre Entermesser und Dolche. Mit Gebrüll erwiderten sie die Attacke der Insulaner.

Über allem Geschehen orgelte und pfiff der Sturmwind, und Blitze fuhren auf Rhodos nieder. Antos wimmerte und hielt sich die Ohren zu, denn er glaubte das Gelächter Poseidons in seinem Kopf dröhnen zu hören.

4.

Der Bugspriet löste sich plötzlich vom Vorsteven der „Isabella“ – trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, die der Seewolf und seine Männer getroffen hatten. Er brach ganz einfach ab und nahm die Blinde mit, die jetzt wie verrückt hin und her schlug. Halb im Wasser, halb in der Luft, hing das schwere Holz vor dem Bug der Galeone und wurde nach wie vor vom Stag und den übrigen Tauen festgehalten.

„Verdammter Mist!“ brüllte Big Old Shane über die Schulter des Seewolfs hinweg. „Das hat uns gerade noch gefehlt!“

Hasard kniete ganz vorn auf der verjüngten Spitze der Galionsplattform und hatte sich durch ein Tau gesichert. Hinter ihm kauerten Shane, Ferris und Smoky, die ihm einerseits die Werkzeuge zugereicht hatten und andererseits darauf achteten, daß ihr Kapitän nicht außenbords stürzte.

Hasard fuhr zu ihnen herum.

„Es hat keinen Sinn, den Spriet zu bergen!“ schrie er im Tosen der Urgewalten. „Zur Hölle, wir können ihn nicht wieder befestigen! Unmöglich!“

„Dann muß er weg!“ rief Ferris. „Er behindert uns!“

„Kappen wir die Taue!“ schrie der Seewolf. „Anders geht es nicht! Los, gebt mir ein Messer!“

Ferris nahm aus Smokys Hand ein Entermesser entgegen und drückte es Hasard in die Finger. Hasard beugte sich so weit wie möglich vor, die drei anderen hielten ihn mit vereinten Kräften fest.

Hasard hieb die Taue durch, und der Bugspriet verschwand mit der Binde in dem schwärzlichen, kochenden Wasser. Die „Isabella“ war nun stumpfnäsig und leicht ramponiert – und wegen des Verlustes der Blinde nicht mehr ganz so gut zu manövrieren wie vorher.

„Aber das können wir verkraften!“ rief Hasard seinen Männern zu, als sie wieder auf der Back waren und sich anschickten, in den Manntauen zum Hauptdeck hinunterzuhangeln. „Die Hauptsache ist, daß wir keine Lecks kriegen!“

„Soll ich noch mal runter in die Laderäume?“ schrie Big Old Shane.

„Wir gehen zusammen und nehmen Ben Brighton mit!“ erwiderte der Seewolf.

„Und auf Rhodos holen wir uns dann einen neuen Bugspriet“, sagte Ferris Tucker grimmig. „Ich werde schon einen geeigneten Baum finden, verlaßt euch drauf.“

„Haben wir kein passendes Stück Holz mehr an Bord?“ wollte Smoky wissen.

„Nein, mein Junge“, antwortete der rothaarige Riese. „Sonst hätte ich wohl gleich angefangen, daran herumzuhobeln. Daß wir nämlich ohne Bugspriet durch dieses Scheißwetter segeln müssen, paßt mir gar nicht.“

Während der Rudergänger und die Deckswache an Oberdeck blieben, um das Ruder zu halten und auf die Stellung der Sturmsegel aufzupassen, stiegen Hasard, Ben, Ferris, Shane und Smoky in die Frachträume der „Isabella“ hinunter.

Es war, als würden sie sich in einen unheimlichen Abgrund begeben, in den Vorhof zur Hölle. Draußen grollte die See, jaulte der Wind, tobte sich das Gewitter aus. Im Bauch der „Isabella“ war ein bedrohliches Rumoren, der Widerhall des Sturmbrausens.

Wind und Wasser stießen, zerrten und rüttelten am Schiffsleib. Man mußte aufpassen, nicht auf den Stufen der Niedergänge auszurutschen, das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen.

Eine wirklich heitere Nacht, wie Hasard schon zu Beginn gedacht hatte – und sie hatte gerade erst begonnen.

Mit einem Seufzer der Zufriedenheit wollte sich der Levantiner in seine Koje niederlegen, um ein wenig zu ruhen. Das Schwanken seines Schiffes hatte so weit nachgelassen, daß man es in der Lagerstatt aushalten konnte. Gerade wollte er die Beine von sich strecken und seinen Rükken auf die vielen weichen Kissen senken, mit denen die Koje ausgekleidet war, da riß ihn ein Ruf seines Ausgucks wieder hoch.

„Kapitän! Ein fremdes Schiff! Steuerbord voraus!“

Wütend fuhr der Levantiner hoch, schlüpfte rasch wieder in seine Kleidung und eilte aus dem Achterkastell auf die Kuhl.

„Steuerbord voraus?“ fragte er seinen Ersten Offizier, der auch schon zur Stelle war und mit angespannter Miene in die Nacht blickte. „Das heißt also, vom Norden der Insel her?“

„Ja. Unser Schiff liegt jetzt mit dem Vorschiff nach Westen gerichtet zwischen der Landzunge und dem Ufer, so daß das fremde Schiff offenbar auf die Einfahrt unserer Bucht zusteuert. Ich kann es aber noch nicht erkennen.“

„Der Ausguck hat sich getäuscht. Dieser Sohn eines räudigen Schakals!“

„Ich glaube es nicht, o Herr“, sagte der Erste Offizier.

„Herr!“ rief der Mann im Großmars. „Das Schiff hält auf die Einfahrt der Bucht zu!“

„Schrei nicht so herum!“ rief der Levantiner zornig. „Willst du, daß er uns entdeckt?“

„Er muß uns entdecken“, murmelte der Erste Offizier.

„Was sagen Sie da?“ fragte der Kapitän, der immer noch nicht richtig zu begreifen schien. Halb schlaftrunken, halb ungläubig spähte auch er in die sturmdurchwehte Dunkelheit.

„Er segelt genau auf uns zu“, sagte der Erste. „Ich kann ihn sehen.“

„Wie? Brennt seine Laterne?“

„Nein, Herr. Aber die Umrisse des Schiffes und seiner Segel sind recht gut zu erkennen.“

„Der Scheitan soll ihn holen, diesen Hund“, brummte der Kapitän. „Was hat er hier zu suchen? In der Bucht ist kein Platz für zwei Schiffe.“

„Das eigentlich schon, sie wäre geräumig genug. Aber es wäre gut zu wissen, welche Flagge der Fremde führt und welche Absichten er hat.“

Erschrocken wandte der dicke Levantiner den Kopf. „Wie? Sie wollen doch wohl nicht im Ernst behaupten, daß es wieder die Galeone ist, die uns auf See begegnet ist!“

„Das Schiff ist ein Dreimaster europäischer Bauart.“

Der Kapitän bemühte sich, etwas im Dunkeln zu erkennen, und wirklich, jetzt schälten sich auch vor seinem Blick die Konturen des Seglers aus der Schwärze der Nacht.

„Allah steh uns bei, er ist es“, sagte er. „Weht nicht die engliche Flagge in seinem Großtopp? Es ist so, wie ich vorhin schon vermutet habe: Er ist ein Korsar, ein Pirat seiner gierigen Königin, die überall auf den Meeren Jagd auf arme Leute wie uns machen läßt.“

„Ich kann die Flagge nicht sehen“, sagte der Erste.

„Aber es ist offensichtlich, daß er uns hierher gefolgt ist!“

„Das glaube ich nicht, o Herr“, widersprach der Offizier. „Der Zufall wird auch ihn hierher verschlagen haben, und er sucht Schutz vor dem Sturm. Nach wie vor bin ich nicht der Ansicht, daß er uns draußen angreifen wollte.“

„Was denn sonst? Warum hielt er denn plötzlich auf uns zu?“

„Vielleicht, um uns zu warnen“, erwiderte der Erste.

„Geschwätz!“ stieß der dicke Levantiner verächtlich aus. „Das Gewäsch eines alten Weibes. Lassen Sie lieber die Kanonen ausrennen und Klarschiff zum Gefecht rüsten!“

„Ja, Herr.“

Der Erste Offizier kam aber nicht mehr dazu, den Befehl weiterzuleiten. Plötzlich stach ein Feuerblitz in die Nacht, der nichts mit dem Gewitter zu tun hatte, sofort darauf noch ein zweiter. Es waren die vorderen Geschütze des heransegelnden Fremden, die gesprochen hatten. Die Kugeln rasten heran – eine schlug neben der Bordwand des Kauffahrers ins Wasser, die andere fegte über das Hauptdeck und riß den Ersten Offizier fort, dessen Todesschrei durch die Nacht gellte.

 

„Nein!“ schrie der Kapitän voll Grauen. „Allah, tu uns das nicht an! Allah akbar, Allah ist groß, Allah ist mächtig!“

Sein Flehen nutzte nichts. Wider grollten die Kanonen des Angreifers, das Schiff fiel vom Wind ab und zeigte dem Levantiner jetzt die Mündungen seiner Backbordgeschütze.

„Ein Überfall!“ schrie der Levantiner. „An die Kanonen! Klar zum Gefecht! Zeigt diesen Hundesöhnen, daß sie sich in uns getäuscht haben! Zeigt ihnen, wer wir sind!“

Doch weder Gebete noch Anfeuerungen halfen etwas. Ehe der Kauffahrer bereit war, sich gegen den Angriff zu verteidigen, war die fremde Galeone nah genug heran. Ihre Siebzehnpfünder krachten und donnerten, die Kugeln saßen fast alle im Ziel, auf dem Deck des Levantiners wirbelten Trümmer und die Gestalten von Menschen durcheinander. Das Chaos war perfekt – es gab keine Hoffnung mehr auf Rettung.

Lagios und eine Gruppe von zwanzig Männern hatten sich von den Olivenhainen aus schon vor einer Stunde auf den Weg nach Pigadia begeben, denn sie wollten die Frauen und Kinder während des Sturmes doch lieber nicht allein lassen.

Als sie die Schüsse vernahmen, die im Dorf fielen, und das Geschrei an ihre Ohren drang, beschleunigten sie ihre Schritte. Lagios eilte allen voran. Er bewegte sich am schnellsten und sichersten auf dem schmalen, jetzt stark ansteigenden Pfad voran.

„Gerechter Himmel!“ stieß er hervor. „Was hat das zu bedeuten?“

Der junge Mann, der hinter seinem Rücken war, rief: „Vielleicht hat ein Blitz eingeschlagen!“

„Das war kein Blitz! Das waren Flinten!“

„Willst du damit etwa sagen …“

„Das Dorf ist angegriffen worden!“ schrie Lagios. „Jemand hat es besetzt, anders kann es nicht sein! Wer von unseren Leuten würde schon eine Flinte abfeuern, nur so zum Spaß?“

„Antos könnte es getan haben“, meinte ein anderer Mann keuchend. „Er ist verrückt genug. Es war ein Fehler, ihn bei den Frauen zurückzulassen.“

„Er kann mit keiner Waffe umgehen“, widersprach Lagios. „Er kann nur auf seiner Lyra spielen, nichts weiter.“ Plötzlich blieb er stehen, so unvermittelt, daß sein Hintermann ihm fast gegen den Rücken prallte.

„Was ist?“ sagte dieser. „Hast du etwas gesehen, Lagios?“

„Ja. Sei still. Sag auch den anderen, sie sollen schweigen. Gib es schnell weiter.“

Die Männer flüsterten miteinander. Lagios duckte sich auf dem Pfad, suchte nach einem Versteck und hielt zu den Felsen hinauf Ausschau. Es war schwer, in der Finsternis und dem Regen auf einige Distanz überhaupt etwas zu erkennen, doch er hatte den untrüglichen Eindruck, über ihnen habe sich etwas bewegt – ein Mensch, halb gebückt, schreckhaft, der sich jetzt rasch in eine Felsspalte zu drücken schien.

Freund oder Feind? dachte Lagios. Wenn Piraten in Pigadia eingedrungen waren – eine Möglichkeit, die man trotz aller Vorsicht der Insulaner nie ganz ausschließen durfte –, dann war damit zu rechnen, daß sie sich auch auf die Umgebung des Bergdorfes verteilten.

Doch es konnte genausogut sein, daß jemand aus dem Ort geflohen war und jetzt Hilfe suchte.

Lagios kauerte sich hinter einen Gesteinsvorsprung und gab den anderen ein Zeichen, sich ebenfalls abwartend zu verhalten. Er legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund und ahmte den Ruf eines Nachtvogels nach, ein Zeichen zur Verständigung, das alle Bewohner von Pigadia kannten.

Der Laut war kaum im Sturmwind verklungen, da kehrte er zu Lagios zurück – etwas höher und schwächer, jedoch deutlich genug.

Lagios stand auf und lief zu den Felsen hinauf. Vor ihm erhoben sich durchnäßte Gestalten, denen die Panik und Verzweiflung in den Gesichtern geschrieben stand. Iris löste sich aus der Gruppe und stürzte auf ihn zu. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und preßte sich zitternd an ihn. Er legte ihr die Hand auf das nasse Haar und hielt sie fest.

Melania, Kanos und die beiden kleinen Mädchen traten näher, aus dem Hintergrund schoben sich immer mehr Gestalten heran, Frauen und Kinder.

„Was ist geschehen?“ fragte Lagios. „Wo sind die anderen?“

„Die Männer sind tot“, stammelte Iris an seiner Brust.

„Einige Mädchen und junge Frauen sind gefangengenommen worden“, erklärte Melania mit müder, brüchiger Stimme. „Wir haben sie nicht retten können, sonst wäre es auch unser Verderben gewesen. Wir müssen froh sein, daß uns die Flucht bis hierher gelungen ist. Wir dachten schon, ihr wäret auch Piraten, die uns auflauern wollten.“ Sie berichtete, was vorgefallen war.

„Antos“, sagte einer der Männer hinter Lagios. „Er hat diese Teufel also geradewegs ins Dorf geführt. Dieser erbärmliche Narr. Das wird er mir büßen. Er hat unseren Vätern den Tod gebracht.“

„Er ist vom Bösen besessen“, sagte eine alte Frau. „Seit der Pope gestorben ist, der sich immer um ihn gekümmert hat, ist es ständig weiter bergab mit ihm gegangen. Er hat das Unglück über uns alle gebracht, aber vielleicht ist es unsere eigene Schuld. Die Strafe des Himmels – wir hätten einen neuen Popen holen sollen. Wir sind alle Sünder.“

„Das ist doch Unsinn.“ Lagios trat dicht vor sie hin und hielt Iris, die sich wieder halb von ihm gelöst hatte, an der Hand fest. „Außerdem kommen wir mit solchem Gerede nicht weiter.“

„Ich hätte alles verhindern können“, sagte Melania. „Antos erschien beim Dunkelwerden im Dorf und erzählte mir von den Schiffen. Ich hätte ihm glauben sollen und begreifen müssen, was bevorstand.“

„Wir alle haben nicht daran geglaubt, daß es die Schiffe wirklich gab“, warf Iris ein und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen und das Regenwasser aus dem Gesicht. „Du brauchst dir also nichts vorzuwerfen, Melania.“

„Nie hätten die Piraten unser Dorf gefunden, wenn Antos nicht zu ihnen gegangen wäre!“ rief eine andere Frau. „Er allein hat die Schuld an allem!“

„Still“, sagte Lagios. „Wenn ihr herumschreit, lockt ihr diese Kerle noch an. Wir müssen einen, klaren Kopf behalten und versuchen, das Dorf zurückzuerobern.“

„Aber wie?“ fragte Iris und blickte ihn entsetzt an.

„Wir schleichen uns an sie heran. Wir kennen unsere Häuser besser als diese Hundesöhne. Wir steigen von hinten ein und fallen über sie her, wenn sie es am wenigsten erwarten.“

„Es sind zu viele“, sagte Melania. „Und sie haben viele Musketen und Pistolen, deren Pulver sie jetzt an den Öfen trocknen werden. Sie schießen uns alle tot, wenn wir jetzt nach Pigadia zurückkehren.“

„Aber wir müssen etwas tun!“ stieß Lagios leidenschaftlich hervor. „Sie plündern unsere Häuser und verschleppen die Frauen!“

„Lagios“, sagte einer seiner Freunde. „Hast du nicht selbst gesagt, daß wir ruhig bleiben müssen? Hör zu. Sie werden zumindest die Nacht noch auf der Insel verbringen, denn es ist viel zu stürmisch, um an ein Auslaufen aus der Bucht zu denken. Bringen wir zuerst die Frauen und Kinder in den Häusern der Olivenhügel in Sicherheit.“

„Und dann?“

„Dann beratschlagen wir, was zu tun ist.“

„Du meinst, wir sollten uns eine List einfallen lassen?“ fragte Lagios.

„Wir müssen sehr klug sein. Diese Türken schrecken vor nichts zurück, sie bringen uns alle um, wenn wir auch nur einen Fehler begehen.“

„Ja. Du hast recht.“ Lagios blickte zu den Frauen und Kindern. „Also, gehen wir jetzt zu den Olivenhainen. Wir wärmen uns auf und stellen Wachen auf. Melania, was ist aus Antos geworden? Wird er noch mehr Torheiten anstellen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er ist tot. Ich wollte ihn zu mir heranziehen, doch Iris riß mich mit sich fort. Seine Hand entglitt mir, dann sah ich ihn zusammensinken. Mehr habe ich nicht gesehen.“

„Nun wird er wohl wirklich zu den Seinen reisen – ins Reich der Toten“, murmelte Lagios, dann drehte er sich um und zog seine junge Frau mit sich fort.

5.

In Todesangst wich der Levantiner zurück. Die Leichen seiner Männer lagen zwischen den Trümmern an Deck, die Rufe der Verletzten gellten in seinen Ohren. Eben war durch einen Kanonenschuß der Fockmast geknickt worden, die Rah war hinuntergestürzt und hatte drei oder vier Männer erschlagen. Erschrekkend schnell hatte sich die fremde Galeone neben die Bordwand geschoben, die Enterhaken flogen und krallten sich an den Rest des Schanzkleides fest. Die Piraten enterten, und es gab niemanden mehr, der die Geschütze des Kauffahrers zu bedienen vermochte.

Ein Riese von Mann, blond und mit hellem Zeug bekleidet, stürmte quer über das Hauptdeck auf den Levantiner zu und hielt ihm seinen Schiffshauer vor die Gurgel.

„Streich die Flagge, Dickwanst!“ rief er auf spanisch. „Für dich ist die Partie verloren! Wo hast du dein Geld versteckt?“

Der Levantiner beherrschte die spanische Sprache recht gut, weil er schon des öfteren bis nach Italien gefahren war und mit den Kontoren der spanischen Handelshäuser in Palermo und Neapel zu tun gehabt hatte.

„Wer bist du?“ fragte er heiser.

„Mein Name ist Lord Henry.“

„Töte mich nicht! Hab Erbarmen mit mir! Ich gebe dir alles, was ich besitze!“

Henry lachte, wandte den Kopf und rief über die Schulter zurück: „Tim! Joe! Kommt her und hört euch an, wie dieser Hund um Gnade bettelt!“

Tim Scoby, der schnauzbärtige Sechs-Fuß-Mann mit den Ohrringen und dem roten Kopftuch, und Dark Joe, der kleine Schwarzhaarige mit den krummen Beinen, stiegen über die Körper der Toten und die Planken- und Balkenreste. Grinsend näherten sie sich ihrem Kapitän.

Henry drängte den Levantiner bis an die Querwand des Achterkastells zurück. Der Mann rang die Hände, seine Augen schienen aus ihren Höhlen hervortreten zu wollen.

„Auf die Knie!“ schrie Henry ihn an.

Der Mann sank auf die Knie und stammelte Worte in seiner Muttersprache, die sie nicht verstanden.

„Sprich Spanisch!“ herrschte Lord Henry ihn an. „Was hast du gesagt? Willst du mir wohl dein Geldversteck verraten?“

„Ja, ja – gewiß. Läßt du mich dann leben?“

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“

„Unter meiner Koje in der Kapitänskammer läßt sich eine Planke lösen und herausnehmen.“ Der Levantiner schluckte heftig, er war den Tränen nahe. „Darunter liegen all meine Münzen und mein Schmuck in Leinenbeuteln versteckt.“

„Sehr gut. Nun weiter. Deine Ladung?“

„Sie besteht aus Stoffen und Gewändern, aus Duftsalben und Spezereien des Vorderen Orients.“

„Zum Teufel damit“, sagte Henry. „Damit können wir nichts anfangen. Tim, du gehst sofort in die Kapitänskammer und holst diese Leinenbeutel. Joe, du steigst in den Frachtraum runter und siehst nach, ob er uns angelogen hat.“

„In Ordnung“, sagten die Männer und wandten sich ab.

„Ich lüge nicht“, stammelte der Levantiner. „Ich spreche die Wahrheit.“ Seine Miene veränderte sich, er hatte die Frau bemerkt, die neben Henry aufgetaucht war.

Sie war nicht sehr groß und auch nicht sehr schlank, ihre üppigen Brüste zeichneten sich deutlich unter ihrem Gewand ab. Ihre schwarzen Haare reichten ihr bis auf die Schultern. Der Physiognomie nach zu urteilen, mußte sie eine Orientalin sein.

Kalt blickte sie auf den knienden Kapitän.

„Steh auf“, sagte sie auf arabisch. „Es geziemt sich nicht für einen Mann deiner Herkunft, einem Ungläubigen die Füße zu küssen.“

Er musterte sie aus seinen geweiteten Augen, halb furchtsam, halb erstaunt.

„Kannst du mir nicht helfen?“ fragte er schließlich, ebenfalls auf arabisch. „Du kommst aus Ägypten, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ich werde dich mit Geschenken überhäufen, wenn du ihm sagst, daß er mich nicht töten soll.“ Der Levantiner wurde aus der Frau nicht klug, aber er begriff, daß sie die Geliebte dieses Lord Henry sein mußte. Aus welchem anderen Grund wohl hielt sich sonst eine Frau wie sie auf einem Piratenschiff auf, dazu noch unverschleiert, was gegen die Gesetze des Korans verstieß?

„Sprecht gefälligst Spanisch“, sagte Henry. „Was will er von dir, Dalida?“

„Nichts, was dich dazu verleiten sollte, ihm den Kopf abzuschlagen“, versetzte sie mit hämischem Lächeln. „Er bangt nur um sein Leben. Siehst du nicht, wie er zittert?“ Sie sah wieder den Levantiner an. „Du – steh auf. Ich befehle es dir!“

Der Mann erhob sich, aber seine Knie waren so weich, daß er jeden Moment wieder hinzusinken drohte.

 

„Ich gehe jetzt auch in den Laderaum hinunter“, sagte Dalida. „Ich will mir ein paar hübsche Sachen aussuchen. Wehe, wenn mir keines der Gewänder paßt, mein Freund.“

„Es sind alle Größen darunter“, beeilte sich der Levantiner zu versichern. „Du wirst deine helle Freude daran haben, schöne Königin von Ägypten.“

Sie lachte und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Hörst du, wie er mir schmeichelt, Henry? Endlich mal ein Kavalier.“

Lord Henry warf ihr einen wütenden Seitenblick zu. „Verschwinde. Ich kann dich hier nicht gebrauchen. Nimm dir, was du willst, aber laß uns in Ruhe.“

Sie zuckte mit den Schultern, verschwand im Achterkastell und kletterte über die schwankenden Niedergänge tief in den Schiffsrumpf hinunter – zu Dark Joe, der bereits dabei war, die Stoffballen mit dem Messer aufzuschlitzen.

„Ich bin ein Narr gewesen“, sagte der Levantiner hastig. „Ich hätte mich dir gleich ausliefern sollen, Lord Henry. Ich bin keine Kämpfernatur. Ich liebe den Frieden und bin nur ein armer Handelsmann.“

„So arm nun auch wieder nicht!“ rief Tim Scoby, der soeben aus der Hütte zurückkehrte und die Leinenbeutel mit den Besitztümern des Levantiners schwenkte. „Mir scheint, daß in diesen Säcken mehr steckt als im ganzen Laderaum des Kahns, Henry!“

„Ich hätte mich schon bei unserer ersten Begegnung ergeben sollen“, sagte der Levantiner unterwürfig. „Das wäre vernünftiger gewesen. Aber ich habe nicht richtig verstanden, was ihr eigentlich …“

„Augenblick“, unterbrach ihn Henry. „Von was für einer Begegnung sprichst du, zum Teufel?“

„Du erinnerst dich nicht? Draußen auf See, vor Karpathos – in der Dämmerung. Rund zwanzig Meilen von der Küste entfernt segelten wir genau aufeinander zu.“ Der Levantiner wies auf die Dreimast-Galeone mit den dunkel gelohten Segeln, die groß und wuchtig neben seinem Schiff lag. „Natürlich habe ich euer Schiff wiedererkannt.“

„Vor der Küste?“ wiederholte Henry verblüfft. „Wo genau?“

„Im Südosten.“

„Unmöglich. Wir sind vom Nordufer gekommen und haben die Insel auf der Suche nach einer Bucht zum Schutz vor dem Sturm gerundet.“

„Aber – aber das kann nicht sein“, stotterte der Levantiner.

Lord Henry wies auf seine Galeone. „Sieh dir unser Schiff genau an. Das ist die ‚Cruel Jane‘. Sie ist aus solidem Holz gebaut und kein Gespenst, das hier und da herumgeistert.“

„Henry“, brummte Tim Scoby. „Was soll denn das? Halte dich doch nicht unnötig lange mit diesem Schwätzer auf.“

„Ihr seid Engländer!“ stieß der Levantiner hastig hervor. „Ihr führt die englische Flagge! Das ist der Beweis!“

„Schau mal richtig hin“, sagte Henry. „Da oben in unserem Besantopp weht eine schwarze Flagge mit zwei gekreuzten Säbeln. Sag mir nicht, daß du blind bist.“

Der Kapitän hob den Kopf, kniff die Augen ein wenig zusammen und erkannte nun das schwarze Stück Tuch, Lord Henrys Flagge, die sich heftig im Sturmwind bog und wand.

„Wie paßt das zusammen?“ sagte er verwundert.

Lord Henry ließ den Schiffshauer sinken und trat noch einen Schritt auf den Mann zu. „Dieses Schiff, von dem du sprichst – beschreibe es mir, so gut du kannst. Dein Leben hängt davon ab. Was fiel dir besonders daran auf? Denk an die Masten.“

„Sehr hohe Masten.“

„Und die Aufbauten?“

„Flach. Ein schönes Schiff, vielleicht dreihundert Tonnen groß,“ Der Levantiner verhaspelte sich fast, so schnell sprach er. „Das richtige Schiff für einen englischen Korsaren oder Piraten, dachte ich.“

„Und es führte den White Ensign, die weiße Flagge mit dem roten Georgskreuz darauf?“

„Ganz bestimmt. Ich schwöre es bei Allah und dem Propheten.“

Lord Henry drehte sich zu Scoby um. „Mann, geht dir da kein Licht auf?“

„Doch, allerdings. Das ist sie.“

„Wer?“ fragte der Levantiner verwirrt und verzweifelt zugleich.

„Die ‚Isabella‘“, sagte Lord Henry. „Das Schiff von Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf. Welchen Kurs nahm es?“

„Zuerst Ostkurs, dann segelte es nach Nordwesten ab.“

„Wohin?“

„Vielleicht nach Rhodos, um dort das Abklingen des Sturmes abzuwarten.“

Lord Henry tippte dem dicken Levantiner mit dem Finger gegen die Brust. „Du bist begnadigt. Kannst hier auf deinem Elendskahn zurückbleiben und später an Land gehen. Du hast mich auf eine wichtige Spur gebracht.“ Er blickte wieder zu seinen Männern. „Leute, wir segeln weiter nach Rhodos.“

Der Levantiner lehnte sich erschöpft mit dem Rücken gegen die Wand des Achterkastells. Der Schweiß brach ihm aus, ihm wurde schwindlig. Ohnmächtig sank er an der Holzwand zu Boden.