Verlaufen in Berlin

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DER RETROFLUGHAFEN

Ob es ihn tatsächlich gibt, diesen ominösen neuen Berliner Flughafen? Wenn überhaupt, dann sicherlich von Kletterrosen, Efeu und Wildem Wein umrankt, mit Robinien und jungen Ahornbäumen auf dem Dach, wie eine verfallene Maya-Stadt im Urwald von Yucatán. Dann aber steht er plötzlich kahl und nackt und gar nicht so groß vor mir in der Brandenburger Ödnis.

Sonderlich auffallen möchte er nicht, keine aufragenden Tragflächen schmücken seine Gebäude, es gibt keine Zeltkonstruktionen und keine geschwungenen Dachlandschaften. Verglichen mit dem neuen Flughafen in Peking von Zaha Hadid wirkt dieser hier harmlos, bescheiden, fast ein wenig putzig.

Seit der in letzter Minute abgesagten Eröffnung im Jahr 2012 sind mehr als dreitausend Tage vergangen. Das Licht fällt schön durch die wenigen Wolken am Himmel, kein Jet stört die Ruhe. Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup und die Architekten des Büros Gerkan, Marg und Partner (gmp) stehen auf dem zeppelinfeldgroßen Aufmarschplatz vor dem Terminal 1, dessen auskragendes Dach und tempelartige Kolonnade mir gut gefallen. Es erinnert an die Berliner Neue Nationalgalerie, an den Warschauer Hauptbahnhof und an … noch komme ich nicht darauf.

Der große Meinhard von Gerkan, 85, der als junger Mann mit Volkwin Marg den großartigen Flughafen Tegel baute und viel später den nicht so großartigen Berliner Hauptbahnhof, ist persönlich gekommen, um vorzuführen, wie der Entwurf, mit dem er und sein Büro den Wettbewerb zum Bau dieses Flughafens gewonnen haben, umgesetzt wurde. Wann haben gmp den Wettbewerb gewonnen? Es war 1998, im letzten Jahrhundert, Helmut Kohl war Kanzler. Meinhard von Gerkan sitzt heute im Rollstuhl.

Die jüngeren Architekten Hans Joachim Paap und Hubert Nienhoff sind glücklich, dass der Flughafen endlich fertig ist. Sie sprechen von »unerwünschten Verzögerungen« und von der »Katastrophe 2012«. Ob damals ein Meteorit einschlug? Konnte deshalb nicht eröffnet werden? Nein, »das Terminal hatte die bekannten Probleme«, verrät Flughafenchef Lütke Daldrup, 17 500 (oder waren es doch 175 000?) Mängel mussten einer nach dem anderen geprüft und abgearbeitet werden. »Deshalb hatten wir letztendlich die bestkontrollierte Baustelle der Welt«, sagt er. Da ist sie also, die berühmte deutsche Gründlichkeit. Ich bin beruhigt, es gibt sie noch.

Einer der vielen tausend Mängel war die Rolltreppe aus dem unterirdischen Bahnhof, die leider drei Stufen zu kurz geraten war. Sie wurde ausgetauscht. In diesem Bahnhof, der Krypta des Flughafens, sitzen seit der Fertigstellung vor neun Jahren Wächter und Wächterinnen zwischen den schönen Zwillingssäulen, welche die Decke über den Bahnsteigen stützen. Eine Tempelhüterin, wir nicken uns zu, liest in einer italienischen Taschenbuchausgabe der Göttlichen Komödie. Seit 2011 verkehren auf den Gleisen dieser Station nur leere S-Bahnzüge auf sogenannten Geisterfahrten. Ihr Zweck ist es, die Luftmassen im Tunnel aufzuwirbeln, es soll nicht schimmeln in der ungenutzten Unterwelt.

Vom Bahnsteig geht es theoretisch direkt hinauf in die luftige hohe Abflughalle – tatsächlich jedoch erst in eine beängstigend niedrige und »baulich schwierige Zwischenebene«, wie einer der Architekten zugibt. Oben im Terminal 1 erinnern die profilierten Stahlstützen wieder an die Neue Nationalgalerie, mit ihren dreiundzwanzig Metern überragen sie die Berliner Traufhöhe um einen Meter. Meinhard von Gerkan hält eine kleine Ansprache und zitiert einen selbstverfassten Artikel aus dem Jahr 1997, in dem er Flughäfen als »Tore zur Welt« beschreibt. Heute, wir tragen alle Mundschutz, sind Flughäfen Einfallstore für Viren, Start- und Landeplatz für Klimakiller und seit dem 11. September 2001 mehr als je zuvor Orte terroristischer Bedrohung.

»Wohlfühlen soll man sich hier«, sagen die jüngeren Architekten, trotz allem. Und ja, ich fühle mich wohl auf den geschliffenen hellen Jurakalksteinplatten mit interessanten Einschlüssen. Ich fühle mich wohl in der Dezenz zwischen Nussbaumholz, der angenehmen Leitfarbe Rot und den vielen Feuerlöschern. »Alle anderen Farben bringen die Menschen mit«, höre ich. Hoffentlich stören diese Menschen das Farbschema nicht zu sehr, das gmp sich ausgedacht haben.

Wir dürfen durch die Sicherheitskontrolle, ausnahmsweise ohne Bordkarte. Kurz gehören wir so zum Probebetrieb, von dem eine angehende Luftverkehrsfrau im zweiten Lehrjahr erzählt hat: An anderen Tagen werden Komparsen bezahlt, um Passagiere zu spielen; ja, dieser Flughafen ist nicht nur ein Museum seiner selbst, er bietet auch großes Theater.

Im Sicherheitsbereich darf ich nicht mehr fotografieren – auch nicht den wunderschönen blau-schwarz-braun gefiederten Vogel, der tot in der von Glaswänden eingefassten Lücke zwischen Terminal und Flügelbau liegt. Ich fotografiere ihn trotzdem. Wie ist ein Eisvogel in diesen wenige Meter breiten Zwischenraum geraten? Wieso musste er hier sterben? Und was wollten die anderen Vögel dort? Ich sehe zwei Spatzen und weitere Vogelgerippe. Ist dieser Flughafen eine große Vogelfalle? Ein Vogeltotenhaus? Das Sicherheitspersonal scheint es nicht zu stören.

Der Duty-Free-Shop, den alle, die abfliegen wollen, durchqueren müssen, war bereits im Jahr 2012 fertig – wurde jetzt jedoch komplett neu gebaut. Sogar die Bodenplatten haben die Betreiber herausreißen lassen, ästhetisch veralteten Ladenbau kann der Spätkapitalismus sich nicht leisten. Der Flughafenchef sagt, es werde hinter den Sicherheitskontrollen bald hundertzehn Geschäfte geben, Retail und Gastronomie. Dieser Flughafen, aber das wundert niemanden mehr, ist eine Mall. Nur dass der Anteil der Gastronomie sich gegenüber 2012 erhöht habe, so Lütke Daldrup, Grund dafür sei, dass die Fluglinien ihren Passagieren im Flugzeug kaum noch etwas zu essen anbieten.

Die geschmackvollen Sitzgelegenheiten in den übersichtlichen Gates mit großen Fenstern waren damals, als die Architekten sie ausgesucht haben, das neueste Modell von Vitra. Heute sind sie fast Vintage. Steckdosen haben die Bänke leider keine. Als ausgesucht, geplant und entschieden wurde, gab es noch keine Smartphones.

»Mussten nicht ganze Nussbaumwälder sterben?«, erkundige ich mich, weil ich überall das schöne französische Nussbaumholz sehe. Nein, beruhigt man mich, das Furnier sei nur 0,7 Millimeter dick; es sei also quasi eine Nussbaum-Folie, die den Flughafen überall so wohnlich auskleidet. Holz habe darüber hinaus einen weiteren Vorteil, es schütze vor Vandalismus.

Wir werden das beobachten in den nächsten Jahren. Und ich werde versuchen, nirgendwo die Namen früherer Mitschülerinnen einzuritzen, wie ich es einst auf den Holzbänken meiner Grundschule getan habe.

Durch geheime Gänge geht es hinunter »ins Herz des Flughafens«, wie Lütke Daldrup die riesige vollautomatische Gepäck-Sortieranlage mit umfangreichem »Frühgepäckspeicher« nennt. Oder handelt es sich, schließlich werden auf der Null-Ebene Koffer verdaut, eher um die Flughafen-Eingeweide? Mitten in dem beeindruckend verwirrenden Förderbandlabyrinth findet sich ein Schreibtisch – noch sitzt dort niemand, heute noch keine Peristaltik im Flughafendarm –, auf dem ein alt und neu zugleich aussehendes Alcatel-Lucent-Festnetztelefon steht. Eine Bedienungsanleitung, noch eingeschweißt, liegt daneben. Eine Wählscheibe hat es nicht.

Aus der Tiefe fahren wir hinauf auf die Terrasse der Plane-Spotter, die auch für Besucher, die nicht abfliegen wollen, geöffnet sein wird.

Auf dem Vorfeld zähle ich etwa zwanzig zwischengeparkte Flugzeuge, ich zähle auch vier tote Vögel, die auf der Terrasse liegen und verwesen. Und muss hier über dem Rollfeld an La Jetée denken (dt. Am Rande des Rollfelds), den berühmten Essay-Film von Chris Marker über einen zeitreisenden Flughafenbesucher, der auf der Terrasse von Paris-Orly seiner eigenen Ermordung zusehen muss.

Meine Zeitreise auf dem Flughafen Willy Brandt verläuft friedlicher. Ich höre viele Zahlen. Lütke Daldrup wünscht sich, dass die richtigen in der Zeitung stehen. Zum Beispiel, dass dieser Flughafen im Grunde eher preiswert gewesen sei, er habe, reine Baukosten, nur knapp fünf Milliarden Euro gekostet. Trotz der Nussbaumfolie. Hinzu seien noch etwa achthundert Millionen Euro für den Schallschutz in der Umgebung gekommen. Von all den Mehrkosten, die durch die jahrelangen Nachbesserungen und die Verzögerung aufgelaufen sind (eine Milliarde Euro, vielleicht auch mehr), soll heute nicht die Rede sein. Es gebe jetzt sieben Entrauchungsanlagen statt einer, »jede so groß, dass ein LKW durchfahren könnte«, sagt er, zudem sei das Gebäude nun eine intelligente Maschine mit zweitausend mindestens ebenso intelligenten Türen, 28 000 Brandmeldern und etwa 78 000 Sprinklerköpfen. Wieviel kostet eigentlich ein Sprinklerkopf? Und wie viele sind es genau? Sprinklerköpfe zählen, das muss dieses berühmte German Engineering sein.

Am Ende unseres langen Rundgangs stehen wir wieder auf dem großen Platz vor dem Terminalgebäude. Die Architekten und der Flughafenchef lassen sich in der mild leuchtenden Abendsonne fotografieren, Meinhard von Gerkan erhebt sich aus seinem Rollstuhl, und ich frage mich, wie viel Lebenszeit sie alle wohl mit diesem Flughafen verbracht haben. Als ich erfahre, dass einer der gmp-Partner, Hubert Nienhoff, sich heute zum ersten Mal seit 2012 auf dem Flughafengelände aufhält, wundere ich mich doch ein wenig. Warum war er so lange nicht hier? Weil, wie ich nun erfahre, den Architekten damals, nachdem der Flughafen nicht eröffnet werden konnte, die Werkverträge gekündigt worden waren. Ach, sie durften zuletzt gar nicht mehr mitmachen? Und dabei wollte ich sie eigentlich fragen, ob sie sich nicht auch ein bisschen schämen für dieses Flughafendesaster. Und wollte daran erinnern, dass der Architekt der Wiener Staatsoper Eduard van der Nüll sich einst (Architektenehre und so) erhängte, weil sein Bau, als er fertig war, einen Meter unterhalb des Niveaus der Ringstraße lag. Aber es scheint ja so – jedenfalls gelingt es gmp, diesen Eindruck zu erwecken – als hätten sie mit der kleinen Verzögerung bei der Eröffnung unseres neuen alten Flughafens gar nichts zu tun.

 

Nun, ich habe mich umgedreht und schaue aus einiger Entfernung auf das Terminalgebäude, fällt mir ein, woran die Kolonnaden und das Arrangement mit den Flügelbauten mich auch erinnern: An David Chipperfields Friedhof von Venedig auf San Michele und an Atatürks imposantes Mausoleum in Ankara. Ja, ich sehe auf einmal Friedhofsstatt Flughafenarchitektur, es fehlen nur die Zypressen. Auf den Rendering-Bildern, mit denen gmp den Wettbewerb einst gewann, sind Bäume mit großen Kronen zu sehen; Bäume, die bisher leider nicht gepflanzt wurden; weder vor der geplanten Eröffnung 2012, noch in den Jahren seither. Schade, sie hätten viel Zeit gehabt, in den Himmel zu wachsen.

Vor bald fünfzig Jahren haben Gerkan, Marg und Partner Berlin (West) einen fröhlichen Flughafen gebaut, ja, Tegel war ein fröhlicher Spielzeug-Flughafen mit Konzept, in dem alles zusammenpasste, so wie bei den im Jahr seiner Eröffnung 1974 auf den Markt gekommenen Playmobil-Figuren. Neun auf der ganzen Welt gebaute Flughäfen später hat gmp ein Mausoleum errichtet, für sich selbst, für das Fliegen und für einen toten Eisvogel.

Wenn er am 31. Oktober tatsächlich eröffnet, haben Berlin, Brandenburg und ganz Deutschland den neuen Retro-Flughafen bekommen, den sie verdienen. Einen, der nicht und niemanden überfordert. Einen Flughafen, der heute aussieht, als wäre er über zwanzig Jahre alt. Einen, der keine Euphorie und keine anderen großen Gefühle auslöst. Kurios, dass ausgerechnet im seltsamen Jahr 2020 gleich zwei Symbolbauten der Berliner Republik fertig werden: Ein Replika-Schloss, das niemand braucht und so tut, als hätte es den Zweiten Weltkrieg und die DDR nie gegeben. Und der Flughafen, den wir fast vergessen hatten.

2020

ODERBERGER STRASSE

Paul’s Boutique war schon da, als ich einzog in das Haus Oderberger Straße. Für mich gibt es den Laden also schon immer. Seit mehr als fünfzehn Jahren sehe ich nicht nur Teenager – früher hauptsächlich aus Berlin, dann aus der ganzen Welt – sich dort die Nasen plattdrücken. Hat Paul’s Boutique geschlossen, habe ich Mitleid mit ihnen: Jetzt sind sie extra aus Koblenz, Böblingen und in normalen Jahren vielleicht auch aus Turku oder Wisconsin gekommen – und stehen vor dem Geschäft voller alter Turnschuhe, ihren Traum-Sneakern so nah. Sehnsüchtig starren sie in das Star-Wars-, Spielzeugroboter- und Boombox-Schaufenster. Und stehen sie nicht zu Recht dort? Ist dieses Schaufenster, ach was, der ganze Laden nicht eine Installation?

Ich verstehe sie, ich stehe selbst gern dort, noch immer, immer wieder, seit bald zwei Jahrzehnten. Ich liebe den mittlerweile leicht verblassten lebensgroßen Prinzessin-Leia-Aufsteller – bin ich nicht schon 1980 in sie verliebt gewesen, als ich sie zum ersten Mal im Kino sah?

Manchmal sehe ich, wie neue alte Kleidung – nicht nur Schuhe sind im Angebot – geliefert wird: Riesige Kartons auf Europaletten werden vor dem Haus abgeladen, Pappkartongebirge blockieren die Einfahrt und die Haustür. Und jedes Mal frage ich mich: Wer wird das alles kaufen? Es wird aber gekauft, schnell, es dauert nicht lange, und neue zerrissene Kartons füllen den Altpapiercontainer im Hof.

Könnte es sein, nur so ein Verdacht, dass die gebrauchten Kleidungsstücke, die in Paul’s Boutique verkauft werden, inzwischen in China hergestellt und industriell gealtert und vorabgenutzt ausgeliefert werden? Wo soll das ganze Vintage-Zeug sonst herkommen? Sind nicht alle bunten Trainingsjacken längst verkauft? Oder ist es ein Kreislauf, kommen die Jacken nach einigen Jahren in irgendeinem westdeutschen Mittelzentrum wieder zurück nach Berlin?

In und um Paul’s Boutique war und ist immer etwas los. Bands spielen, Schauspielerinnen, sonst nur im Kino zu sehen, hängen herum; Mädchen, die Models werden wollen oder es schon sind, lümmeln auf der gelben Bank vor dem Laden.

Ich erinnere mich an die Fußballweltmeisterschaft 2014, vor Paul’s Boutique steht – muss dieser mysteriöse Paul organisiert haben – ein Kuckmobil: ein riesiger Fernseher auf der Ladefläche eines kleinen, rückwärts eingeparkten LKWs. Unser Fußballkino vor dem Haus. Dort sitzen wir am 13. Juli 2014. Und nach der 113. Minute nicht mehr.

Während ich mich an meine Jahre mit Paul’s Boutique erinnere, muss ich mich fragen: Habe ich dort je etwas gekauft? Ich bin oft im Laden gewesen, habe durch das Kleiderstangenlabyrinth hineingefunden, um Pakete abzuholen oder Pakete, die bei uns abgegeben worden waren, zu übergeben. Aber habe ich je gut eingetretene Sneaker erstanden? Eine gebrauchte, mit dem Logo eines Provinzsportvereins bedruckte Adidasjacke? Eine abgewetzte Barbourjacke? Vielleicht bin ich mal in Versuchung geraten; gekauft aber habe ich, glaube ich, nie etwas. Im Gegenteil, seit Jahren phantasiere ich, Jacken aus meinem überquellenden Kleiderschrank und Schuhe – zumindest einige der circa zwanzig Paar, die mir seltsamerweise nicht mehr passen – in den Laden zu bringen.

Paul’s Boutique ist ein Ort, der an die Neunziger und die ersten Jahre im neuen Jahrtausend erinnert. Und das nicht nur, weil er nach dem Album der Beastie Boys benannt ist, mit dem die neunziger Jahre einst begannen. Der Laden steht für eine Zeit, in der nicht nur der Prenzlauer Berg ein großer Möglichkeitsraum war, eine Zeit, in der in Berlin alles möglich schien. Zum Beispiel einen Laden zu eröffnen, der gebrauchte Sneaker verkauft. Praktischerweise lässt die Erinnerung an diese Vergangenheit sich eben dort erwerben, in Form von Schuhen und gebrauchten Kleidungsstücken. Trotz dieses, wie es scheint, aktuell sehr erfolgreichen Geschäfts mit dem Style der Vergangenheit, ist Paul’s Boutique ein historischer Ort, das Monument eines Berlins, von dem nicht viel geblieben ist.

Dass die Oderberger, diese zu Mauerzeiten zwangsweise verkehrsberuhigte Straße, sich in den letzten Jahrzehnten so sehr verändert hat und so viele Besucher, so viel Publikum anzieht, hat vielleicht auch mit Paul’s Boutique zu tun. Als ich einzog in unser Haus, nahm das Geschäft noch nicht die ganze Verkaufsfläche im Vorderhaus ein. Im kleineren, rechten, einst vom PDS-Büro besetzten Ladenlokal befand sich das Café Kombini. Von Kundschaft überrannt war es nicht, trotz des guten selbstgebackenen Kuchens. Oft saß ich alleine dort. Bis Paul’s Boutique eines Tages auch die Räume des Cafés übernahm. Der Fahrradständer des Kombini, ein selbstgeschweißtes improvisiertes Monstrum, stand noch jahrelang auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Und rostete vor sich hin.

Die Oderberger, die schöne breite Straße – sie ist so breit, weil dort, wo einst die Mauer stand und wo sich heute der Mauerpark erstreckt, einmal ein Güterbahnhof war –, ist heute auch Opfer ihrer Attraktivität. Nicht nur sonntags, wenn Touristen in Horden und Pärchen in Kolonne die Straße auf und ab und zum Flohmarkt hin marschieren, sondern auch werktags, wenn die geführten Fahrradgruppen schwärmen, Reisebusse sich durch die Straße schieben und die Löschwagen der Feuerwehr nicht mehr durchkommen, weil all die LKW, die Frischfleisch und Getränke liefern oder Fett absaugen, die Straße blockieren. Heute wäre ein Café neben Paul’s Boutique eine Goldgrube. Vielleicht.

Es gibt kein unsaniertes Haus mehr in der Oderberger und zu viele Ferienwohnungen. Sonntags gegen zehn – ich bestaune sie auf dem Weg zum Schrippen holen – ist die Schlange vor dem Café Krone nicht selten vierzig Meter lang. Die Frühstückshungrigen, viele von ihnen aus Übersee, warten vor einer Tafel, auf der »You will be seated« zu lesen ist. Sie werden platziert, denke ich und muss lachen: Die DDR ist wieder da.

Noch gibt es keinen Starbucks und keine echte Systemgastronomie in der Oderberger. Vielleicht ist aber auch das nur eine Frage der Zeit. Wie viele asiatische Restaurants passen auf eine Straße, die gar nicht besonders lang ist? Zurzeit sind es acht oder neun, ich verliere den Überblick.

Symbolisch und sehr schlau, dass auf der Fassade des Hauses, in dem Paul’s Boutique von Kundschaft überrannt wird, so lange schon der Schriftzug »Berlin« zu lesen ist. Das gibt Halt und erinnert alle daran, wo sie sich befinden. Hier ist es also, dieses Berlin! Und hier lässt sich etwas davon kaufen. Zum Anziehen.

Paul heißt gar nicht Paul, fand ich bald nach meinem Einzug heraus, Paul heißt Frank. Wir sind einander gute Nachbarn, wir grüßen uns, wir plaudern, er lacht, und oft fragt er, wann das nächste Buch fertig werde. Bald, Frank, dauert nur noch ein paar Jahre. Mein Nachbar ist mir so sympathisch, ich würde sogar getragene Turnschuhe bei ihm kaufen.

2020

ENDE EINES SUPERMARKTS

Erst am Kühlregal bemerke ich’s: Mein Kaiser’s ist kein Kaiser’s mehr. Statt meiner Lieblingsjoghurts stehen da andere; es gibt die Vanille- und Naturjoghurts der Bio-Handelsmarke von Kaiser’s-Tengelmann nicht mehr. Wie viele Jahre habe ich sie gekauft und gelöffelt, oft abends spät, während ich auf den Küchencomputer glotzte, das Vanillejoghurt immer mit einer Prise frisch gemahlenen Espressopulvers verfeinert, das Naturjoghurt morgens mit Müsli und Honig?

Nun stehe ich hier in diesem Supermarkt, in dessen Nähe ich schon so lange wohne, er trägt den Kaiser’s-Schriftzug und das Kaiser’s-Logo (auf dem ich lange Jahre keine Kaffeekanne erkannte, weil Kaffeekannen einfach nicht mehr so aussehen wie auf diesem Logo) noch auf dem Flachdach, über meinem Arm hängt einer der alten, leicht angestoßenen Kaiser’s-Einkaufskörbe aus Kunststoff – und ich weiß nicht, was ich kaufen soll. An den Kassen, ich habe sie Kaiser’s-Rot leuchten sehen, liegen, wie zum Hohn, Kaiser’s-Einkaufstüten, die gewohnten Produkte jedoch fehlen.

Traurig – wie war das noch mit dem Glücksversprechen des Kapitalismus? – bewege ich mich durch die Gänge und finde nicht mehr, was ich suche. Was sonst mit schlafwandlerischer Sicherheit in meinen Korb wanderte, ist aus dem Sortiment verschwunden. Und mir kommt es vor, als wäre damit etwas von mir verschwunden – denn bin ich nicht eigentlich das, was ich kaufe? Bin ich nicht das Produkt all der Produkte, die ich über die Jahre nach Hause getragen und aufgegessen habe? Muss ich nun, mit neuen, ungewohnten Produkten, nicht ein anderer werden? Möchte ich das überhaupt? Womit habe ich das verdient? Ist der Verlust meines Lieblingsjoghurts vielleicht die Strafe dafür, dass ich in den letzten Jahren oft supermarktfremdgegangen bin, in Berlin und anderswo? Habe ich Kaiser’s vernachlässigt?

Als ich mit den lieblos gestalteten Bio-Joghurtbechern an der Kasse stehe, fällt mir ein, dass ich wohl nie wieder die Kaiser’s-Frage nach den Herzen hören werde: »Sammeln Sie Herzen?« – wie oft hat eine Kassiererin das zu mir gesagt? Ich habe fast immer ja gesagt, ja, ich sammle Herzen, ein Hobby, und meine Tochter liebte es, sie in die Sammelbroschüre zu kleben. Verdanken wir nicht die halbe Ausstattung unserer Küche den Kaiser’s-Rabattaktionen? Den großen Bräter, die Wok-Pfanne, zwei Stielkasserollen, mindestens drei Töpfe? Und die Teelöffel, mit denen ich die Vanillejoghurts aß, kamen die nicht auch von Kaiser’s?

Von meiner Lieblingskassiererin – ich kenne und verehre sie seit Jahren, sie kennt mich und weiß wahrscheinlich, was ich sonst immer kaufe – erfahre ich nicht nur, dass es die gewohnten Produkte nicht mehr geben wird, sondern darüber hinaus, dass dieser unser Kaiser’s, in dessen Hülle nun ein Edeka steckt, bald, vielleicht noch in diesem Jahr abgerissen werden soll. Statt des Flachbaus mit der asphaltierten Rampe – die Architektur verrät es, dieses Gebäude stand einst in einem anderen Land und beherbergte eine Ost-Berliner Kaufhalle; Nachbarn, die diesen Kaiser’s »Kaufhalle« nennen, wohnen jedoch nur noch sehr wenige hier – soll eine weitere Luxus-Wohnanlage entstehen. Ob sie »Kaiser’s Hofgarten« heißen wird?

Zuhause, als ich den kargen Einkauf verstaue, finde ich weit hinten im Kühlschrank einen vergessenen Becher Kaiser’s-Naturkind-Vanillejoghurt. Sein Mindesthaltbarkeitsdatum ist schon ein paar Tage überschritten. Ich werde ihn dort stehen lassen. Zur Erinnerung.

2017

P. S. Der Kaiser’s-Supermarkt, für mich noch immer Kaiser’s, obwohl er zuletzt von Edeka betrieben wurde, war die letzte der Kaufhallen, die vom Ost-Berliner Wohnungsbaukombinat zwischen 1971 und 1980 im Prenzlauer Berg errichtet worden waren. Fast baugleiche Exemplare standen am Teutoburger Platz, Marienburger Straße / Ecke Winsstraße und an der Pappelallee. Heute sind sie alle abgerissen und mit Wohngebäuden überbaut.

 

Von Matthias Dell weiß ich, dass die kleinkriminellen Jungs aus Thomas Heises Prenzlauer-Berg-Dokumentarfilm Wozu denn über DIESE LEUTE einen FILM? um 1976 herum in genau diese Kaufhalle in der Fürstenberger Straße einstiegen, um Alkohol zu klauen, die viel später, erst nach dem Ende der DDR, zu meinem Kaiser’s werden sollte. Seinen letzten Öffnungstag hatte dieser Supermarkt im April 2020. Dann rückten die Bagger an.

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