Die Ökonomie der Hexerei

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Der Féticheur

Wir hörten von Coulibaly. Coulibaly ist ein Bambara aus Bamako, Mali. Er war von einem ivorianischen Politiker für die Zeit des Wahlkampfs als Berater engagiert worden. Für drei Monate hatte man ihm, seinen zwei Frauen und dem kleinen Sohn ein Haus in Abengourou zur Verfügung gestellt. Mit Mathurin suchten wir ihn eines Morgens auf.

Die eine seiner zwei Frauen war gerade daran, Schaffleisch vor dem Haus zu braten. Wir traten ein in den kahlen Wohnraum mit einem Fernseher und einer Wolldecke auf dem Boden; darauf saß die andere Frau und der kleine Dauda. Wir setzten uns auf eine Holzbank. Coulibaly, noch jung, sehr freundlich, kam herein und bot uns vom Schaffleisch an.

Wir wuschen uns mit dem Wasser aus einem gereichten Plastikbecken die Hände, zogen die Schuhe aus und folgten Coulibaly in ein dunkles, fensterloses Hinterzimmer. Erst konnte ich fast nichts erkennen; nur durch die halb geöffnete Türe kam etwas Licht, allerdings auch der Lärm eines Radios, sodass ich Coulibaly fast nicht verstand, der zwar Französisch sprach, aber ein sehr afrikanisches. Mathurin musste oft übersetzen.

Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte ich nach und nach eine Matte im Hintergrund, davor eine gespannte Schnur, an der seine Kleider hingen. Der Boden war über und über bedeckt mit Flaschen und Gläsern, gefüllt mit braunen Flüssigkeiten, Kräutern, Samen, Rindenstückchen, Töpfen, Beuteln, Dosen mit (für mich) undefinierbarem Inhalt. Dann erkannte ich ein Huhn zwischen all den Gefäßen und an der Wand angeheftete Blätter, voll gekritzelt mit geheimnisvollen Zeichen. Erst nach längerer Zeit sah ich in der Ecke den „Fetisch“, eine kniehohe Holzfigur, behangen mit Kaurimuscheln und bedeckt mit grauen Federn.

Coulibaly selbst trug inzwischen seine Arbeitskluft, sein chemise de chasseur, bestickt mit mehreren in Leder gefassten Gris-Gris oder Talismanen, und seine Zaubermütze mit der Kaurimuschel. Wir saßen zu dritt auf einer Holzbank, während Coulibaly am Boden kauerte.

Nun musste ich ihm 205 CFA in Münzen geben (ca. 50 Rappen). Er reichte mir eine Hand voll Kaurimuscheln, in die ich „hineinsprechen“ musste, das heißt, denen ich sagen sollte, was ich wollte. Die Sprache, in der ich das sagte, spielte keine Rolle; jedoch sollte ich leise sprechen, sodass mich die andern nicht verstünden.


Was sagte ich den Muscheln? Wiederum muss ich dafür einen persönlichen Exkurs machen: Nadja, meine Begleiterin, ist Diabetikerin. Es nahm uns besonders wunder, ob es Coulibaly möglich sein sollte, die Zuckerkrankheit zu erkennen, ja, ob er vielleicht sogar ein Mittel dagegen verschreiben würde. Diese Problematik teilte ich den Kaurimuscheln mit.

Dann nahm Coulibaly die Muscheln wieder und warf sie mit den Münzen ein paarmal auf den Boden und interpretierte die entstandene Anordnung.

„Du hast viele Träume, die dir Angst machen; du wachst in der Nacht auf und deine Gedanken sind verwirrt. Das sind Geister, die kommen. Du musst ein Opfer darbringen: Einen weißen Hahn, sieben weiße Kolanüsse, Kuhmilch. Ich werde dir in einem Canari (Tontopf) eine magische Portion zubereiten.“

Coulibaly sprach ruhig und nüchtern, sehr konzentriert auf die Verteilung von Muscheln und Münzen nach seinen Würfen, ohne Trance, und Nadja notierte seine Aussagen. (Wir arbeiteten nie mit Tonband; ich hatte mich schließlich als Klient eingeführt und nicht als Ethnograph. Was die Notizen betrifft, so schlug Coulibaly selber vor, wir sollten seine Anweisungen notieren, er könne sich nachher nicht mehr gut an alles erinnern. Ich werde später auf meine Rolle zurückkommen. Nur so viel: Im Magie- und Hexereidiskurs existiert die Position des neutralen Beobachters eigentlich nicht; es gibt nur solche, die „drin“, also involviert sind (als Hexer, Verhexte oder Enthexer) und solche, die „draußen“ sind, die aber auch nichts „Relevantes“ aussagen können. Es bringt nichts, die Leute in einer allgemeinen Art über diese Dinge auszufragen; man muss sich, als zumindest teilweise Betroffener, verstricken lassen, sich – auch emotional – in das System einklinken. Es ist klar, dass diese Feststellung einen Metadiskurs, der eine Synthese der Innen- und der Außensicht wäre, ausschließt oder zumindest schwierig macht. Denn die Welt, um die es geht, ist quasi nur von innen real. Nur der, der subjektiv, als Subjekt (und Objekt) ein Teil dieser ontologischen Halbwelt wird, kann „authentische“ Aussagen darüber machen; die jedoch von einem Außenstehenden notwendigerweise als irreal und unobjektiv [dis-]qualifiziert werden müssen.)

Wieder warf Coulibaly sein Orakel.

„Deine Mutter denkt und denkt. Sie ist sehr unruhig. Sie denkt zu viel“, sagte er, immer noch zu mir gewandt.

„Wann fahrt Ihr zurück? Ihr müsst eine Medizin für sie mitnehmen.“

Als er das Datum hörte, meinte er:

„Das ist zu spät. Es handelt sich um einen dringenden Fall. Ich muss sofort etwas für sie tun. Wir müssen ein weißes Wickeltuch für sie vergraben; dann wird sie ruhiger werden.“

Ich werde später auf meine Mutter, und wie es ihr zu diesem Zeitpunkt erging, zurückkommen.

Coulibaly fuhr fort, zu mir gewandt:

„Eine Frau in deiner Familie ist zuckerkrank.“

Ich bejahte und dachte dabei natürlich an Nadja.

Aber er fuhr weiter:

„Sie magert ab. Sie hat mehrere Kinder gehabt, aber die Ehe ging in Brüche. Ihr Mann ist tot.“

Nun: Diese Beschreibung passte nicht auf Nadja, hingegen sehr wohl auf meine Großmutter, die eine große Bedeutung in meiner Biografie hatte, weil ich zum Teil bei ihr aufwuchs. Sie war tatsächlich seit etwa zwanzig Jahren Diabetikerin, stark abgemagert in den letzten Jahren, Mutter von fünf Kindern und geschieden. Nur eine Aussage stimmte nicht: Ihr Ex-Mann lebte immer noch.

Nach meiner Rückkehr in die Schweiz fragte ich meine Mutter, wie es ihr zu dieser Zeit gegangen sei.

Sie berichtete von ihrer äußerst schlechten Verfassung: Sie war krank gewesen und hatte, nach ihrer eigenen Aussage, die größten Schmerzen ihres Lebens erlitten. Hinzu kam, dass sich der Todestag ihres geliebten Bruders, der unter tragischen und gewaltsamen Umständen ums Leben gekommen war, gerade zum zehnten Mal gejährt hatte und sie intensiv an ihn gedacht und um ihn getrauert hatte. Dann hatte eine ihr nahe stehende Person sie verärgert und enttäuscht, was zusätzlich zu Herzproblemen führte. Es war, wie man sagt, tatsächlich „alles zusammengekommen“. Vor allem aber, und das scheint mir in diesem Zusammenhang besonders interessant, berichtete sie, sie hätte geträumt, ihr Vater – also der Ex-Mann meiner besagten Großmutter – sei gestorben, so wie das Coulibaly gesagt hatte. Tatsache war, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt für eine Operation im Spital lag.

Ich sagte Coulibaly, dass es sich bei seiner Weissagung offensichtich um meine Großmutter handle. Er schlug vor, ihr einen Zaubertrank zu brauen, der ihr den Gatten zurückhole. Ich sagte ihm, dass sich meine Großmutter erstens weigern würde, so etwas zu trinken, und dass sie froh sei, wenn der Mann nie mehr zurückkomme.

Er warf ein weiteres Mal Muscheln und Münzen und sagte mir, ich müsse mir zu meinem Schutz und Glück einen Silberring kaufen.

Noch ein Wurf.

„Vor deinem Studium hast du im öffentlichen Bereich gearbeitet. Dann hast du Streit mit jemandem bekommen und bist von dort weggegangen.“

„Es ist richtig, dass ich vor meinem Studium anderthalb Jahre bei einer Zeitung gearbeitet habe. Ich bin allerdings nicht wegen Streit dort weggegangen. Es gab jedoch tatsächlich einen Chef, von dem ich mich nicht sehr geschätzt fühlte. Wäre das nicht gewesen, wäre ich vielleicht länger geblieben.“

„Ein kleiner, dicker, älterer Mann ist gegen dich. Du kennst ihn schon länger. Ihr seid zusammen gereist. Es gibt Streit mit ihm wegen Geld. Ich werde ein Ei präpieren, das du bei Sonnenuntergang auf einer viel begangenen Straße zerschlagen musst, ohne dass es jemand sieht.“

Dann wandte er sich Nadja zu.

Er sagte ihr voraus, sie werde eine Tochter und einen Sohn haben. Dann: „Du hast drei Schwestern und zwei Brüder.“

„Nein. Ich habe eine Schwester und einen Bruder.“

Er warf die Muscheln abermals und sagte:

„Das ist nicht möglich. Du hast nur einen Bruder?“

„Ja.“

„Ein Bruder ist gestorben. Seine Krankheit begann im Kopf.“

„Ja, das stimmt. Ich habe ihn vergessen. Er ist kurz nach der Geburt gestorben.“

„Du träumst oft davon, dass du mit David schläfst. Es ist aber in Wirklichkeit ein Geist, der sich als David ausgibt. Du hast bis jetzt nicht viel Geld. Du brauchst eine goldene Halskette, das wird dir Glück bringen. Du hast eine Maschine nicht gekauft, die du kaufen wolltest vor der Abreise. Du musst hundert Kauris darbringen, dann wird es ein gutes Jahr werden.“

Dann fragte Nadja nach ihrer gesundheitlichen Situation.

Coulibaly sprach von Blähungen und Völlegefühl, von zu viel Speichel, Erbrechen, Geräuschen im Bauch, kleinen Würmern und versprach Medizinen dagegen.

Nadja sagte ihm, sie sei Diabetikerin. Er fragte sie, unter was für Symptomen sie leide.

„Unter keinen, im Prinzip, solange ich Diät halte und regelmäßig die Spritzen mache.“

„Dann ist die Krankheit auch nicht sichtbar für mich, beziehungsweise es ist dann gar keine Krankheit. Du hast ja keine Schmerzen, und alles funktioniert. Ich kann Dir aber trotzdem eine Medizin machen. Wir brauchen vor allem Erdnüsse und Bohnen.“

 

(Das war insofern interessant, als wir ein halbes Jahr vorher eine Heilerin in Jerusalem konsultiert hatten, die gegen Diabetes ebenfalls das Einreiben von Erdnussöl und häufiges Essen von grünen Bohnen empfohlen hatte.) Er versicherte sich nochmals, ob wir alles Benötigte aufgeschrieben hätten, und damit war die Konsultation zu Ende.

Ich fragte ihn, ob ich ein Foto „nehmen“ könne – „Je pourrais prendre une photo?“

Er missverstand mich, holte einen Briefumschlag mit alten Fotos und wollte mir freudestrahlend eines schenken, das ihn mit einer Ziege vor dem Haus zeigte.

Ich erklärte ihm, ich würde gerne selber ein Foto von ihm machen und ihm eine Kopie schicken.

Er nahm seinen Fetisch und posierte damit, stolz lächelnd.

Nun zog er sein Zauberhemd aus, und wir gingen zusammen auf den Markt zu einem „magischen Einkauf“.

Ein weißer Hahn für 1700 CFA, sieben weiße Kolanüsse und eine Plastikflasche Kuhmilch gegen meine Angstträume.

Ein weißer Stoff gegen die Sorgen meiner Mutter.

Eine Goldkette für Nadjas Reichtum, für umgerechnet etwa 40 Fr.

Langsam wurde es uns etwas zu teuer, und bei meinem Silberring (für Glück und Schutz) gab es eine längere Diskussion darüber, welches Modell adäquat sei. Coulibaly beharrte darauf, es müsse ein großer Ring mit einer flachen, glänzenden Fläche sein, wie ein Siegelring, aber ohne Verzierung.

Die Ausgaben summierten sich und es kamen mir Zweifel, wie viel ich wirklich auszugeben bereit war. Mich beruhigte allein der Gedanke, dass der Gewinn Coulibalys dabei eigentlich minimal und eigennützige Interessen von ihm deshalb ausgeschlossen seien. Klar wurde mir allerdings bei diesem Marktgang, wie sehr Magie, Opfertiere, Glücksbringer und Nahrungsmittel für rituelle Zwecke auch ein beträchtliches Marktsegment in Afrika darstellen. Weiter hatten wir einzukaufen: ein Ei (gegen meinen kleinen, dicken Widersacher), hundert Kaurimuscheln für Nadja, Erdnüsse, Bohnen und diverse andere Zutaten für die Medizin.

Inzwischen war es etwa 1 Uhr mittags. Wir kehrten zurück und Coulibalys Frau bot uns Reis und Schafleber an.

Als er unsere Einkäufe überblickte, stellte er fest, dass wir doch einiges vergessen hatten. (Der ganze Einkauf war etwas chaotisch gewesen. Wir hatten ihn zum Beispiel wiederholt auf die Kauris aufmerksam gemacht, was er jeweils mit einer wegwerfenden Geste quittierte, sodass wir schließlich nicht mehr darauf insistierten, weil wir dachten, er hätte vielleicht noch genug davon zu Hause. Nun, als er sah, dass sie fehlten, ärgerte er sich über seine Vergesslichkeit. Wie Ahissia hatte er etwas Zerstreutes und Geistesabwesendes an sich und der Marktrundgang schien ihn viel Nerven gekostet zu haben).

Nach etlichem Hin und Her zog er schließlich wieder sein Zauberhemd an und sagte:

„Ich muss jetzt arbeiten, das heißt die Medizinen herstellen und die Rituale machen. Das dauert etwa bis vier Uhr, dann könnt ihr wieder kommen und alles holen.“

Wir fragten ihn noch, ob er uns seine Adresse aufschreiben könne, für den Fall, dass wir sein Haus nicht mehr fänden, aber auch, um ihm später die Fotos schicken zu können.

Wir hatten nicht realisiert, dass er Analphabet war. Er durchsuchte ein Bündel von Zetteln, in denen die Adresse irgendwo notiert war, was aber natürlich nicht einfach war. Schließlich gab er uns eine Elektrizitätsrechnung mit der Adressangabe, die wir abschrieben. Dann holte er einen Notizblock hervor, voll gekritzelt mit Zeichen und Zeichnungen. Er malte auf ein leeres Blatt einen Kreis und vier Zeichen und bat uns, unsere Namen darunter zu schreiben.

„Ihr könnt mir trotzdem Briefe schicken“, sagte er. „Ich habe jemanden, der mir alles vorliest und dem ich eine Antwort diktieren kann.“

Dann gingen wir.

Als wir zurückkamen, sagte er:

„Ich habe den ganzen Nachmittag gearbeitet. Ich war im Wald. Mit deiner Mutter bin ich noch nicht fertig. Es war sehr hart. Ich muss nachher noch einmal in den Wald gehen.“

Ich fragte ihn, was er für meine Mutter getan habe.

„Ich habe das weiße Tuch an einem Baum aufgespannt, um das Böse von ihr wegzuziehen und aufzufangen. Das Tuch werde ich vergraben, aber es ist noch nicht fertig. Mit ihr ist es eine schwierige Arbeit. Es ist ein dringender Fall, wir konnten nicht mehr warten. Ich werde das Tuch vergraben; der Baum wird sterben, aber sie wird gesund werden.“

Seine Holzfigur stand jetzt nicht mehr im Hintergrund, sondern bei den Medizinen, die er hergestellt hatte. Die „Arbeit“ machte er mit seinem Fetisch, beziehungsweise mithilfe des Geistes, den er verkörperte.

Nadja gab er eine Plastikflasche mit einer bräunlichen Flüssigkeit gegen den Diabetes.

„Du musst jeden Tag dreimal einen Esslöffel davon nehmen.“

Sie blickte etwas misstrauisch und fragte, ob da vielleicht auch Blut drin sei.

„Nein, nur Kräuter“, sagte er, und zum Beweis, dass es sich um nichts Giftiges handle, nahm er demonstrativ selber einen Schluck davon.

Ebenfalls überreichte er ihr hundert magisch bearbeitete Kauris, die sie auf einem Gestell in ihrem Zimmer aufstellten sollte. Auch die Goldkette für die fortune hatte er zauberkräftig gemacht.

Mir übergab er den Tontopf gefüllt mit Wurzelstückchen, Blättern und Hühnerfedern.

„Das musst du mit Wasser aufkochen, dann abkühlen lassen und sieben Tage lang täglich ein Glas davon trinken.“

„Das ist schwierig, weil ich die nächste Zeit kaum je eine Woche am selben Ort sein werde. Soll ich es auch in eine Flasche abfüllen?“

„Nein, dann wartest du, bis du zu Hause bist und trinkst es dort.“

Er gab mir eine Plastiktüte und wir verschnürten das Ganze sorgsam.

Dann überreichte er mir zu meinem Schutz den Silberring und ein Päckchen, in Zeitungspapier gewickelt.

„Geh damit zu einem Schuster auf dem Markt und lass es dir in Leder einnähen. Diesen Talisman und den Ring trägst du dann immer auf dir. Sie werden jeden Angreifer abwehren.“

Als Letztes reichte er mir ein Ei, auf das mit Filzstift Figuren und Linien gezeichnet waren, unter anderem dieselben, unter die wir unsere Namen gesetzt hatten. Dieses Ei sollte ich, wie gesagt, um 18 Uhr mit abgewandtem Blick auf einer Hauptstraße fallen lassen.

Wir unterhielten uns noch ein wenig. Er erzählte uns, dass seine Sehergabe von seinem Vater auf ihn übertragen worden sei; dass alle meine Gedanken, die ich im Kopf hatte, während ich in die Muscheln sprach, nachher „in den Muscheln waren“, während er sie warf; dass der Bruder von Nadja wahrscheinlich durch Hexerei gestorben war; dass er bis zum Ende der Wahlen hier bleiben werde (Frühling ’95). Dann musste er gehen, „in den Wald“, um weiter das Böse von meiner Mutter wegzuziehen und im Tuch zu fangen. Später erfuhren wir, dass er noch bis halb zehn Uhr nachts damit gerungen hatte.

Wir gingen in unser Zimmer zurück. Ich wartete auf den Sonnenuntergang, dann ging ich mit Mathurin zur Hauptstraße hinunter, wartete, bis niemand schaute, überquerte sie und ließ in der Mitte das Ei fallen. Mathurin ging voraus, damit auch er nichts sah. Ich hörte, dass das Ei nicht zerbrochen war, sondern an den Strassenrand rollte. Ich fragte Mathurin, ob ich es noch einmal fallen lassen solle. Er sagte:

„Nein, schau auf keinen Fall zurück. Geh einfach weiter. Es ist schon gut so.“

Ich fragte mich damals, ob dieses Ritual nicht eigentlich der schwarzen Magie zugerechnet werden müsse, dass mit dem Ei mein Widersacher zerbrochen werden sollte. Heute glaube ich eher, dass das Ei anstelle von mir zerbrochen wurde; es stand für meine Fragilität gegenüber den bösen Absichten meines Widersachers; seine Schädigungen sollten das Ei anstatt mich treffen.

Wie gesagt teilte mir meine Mutter nach der Rückkehr mit, sie hätte geträumt, ihr Vater sei gestorben, während Coulibaly ja ebendies – als Realität – geweissagt hatte. Insofern hat Coulibaly nicht die Realität, also die Außenwelt, sondern die Innenwelt beschrieben, die Traumwelt, oder das Unbewusste. Das würde allerdings voraussetzen, dass eine Übertragung des Unbewussten von meiner Mutter auf mich und von mir auf Coulibaly stattgefunden hätte. Coulibaly hätte dann nichts anderes getan als – psychoanalytisch ausgedrückt – in sich eine Gegenübertragung wahrgenommen, die von meiner Mutter herrührte und für die ich als Überträger oder Transmitter figurierte. Seine Fähigkeit würde dann nicht darin bestehen, Äußeres zu „sehen“, sondern „Inneres“, so wie er sagte: Alles was ich vor der Séance dachte (auch „unbewusst dachte“), als ich in die Muscheln sprach, ist jetzt dort drin und wird von ihrer Anordnung beim Wurf wieder ausgedrückt.

Bei Freud findet sich eine Überlegung, die in ebendiese Richtung weist:

„Ich habe eine ganze Reihe von solchen Prophezeiungen gesammelt und von allen den Eindruck gewonnen, dass der Wahrsager nur die Gedanken der ihn befragenden Personen und ganz besonders ihre geheimen Wünsche zum Ausdruck gebracht hatte, dass man also berechtigt war, solche Prophezeiungen zu analysieren, als wären es subjektive Produktionen, Phantasien oder Träume der Betreffenden.“25

Wenn man nun daran denkt, dass die Wahrsager ja selber von sich sagen, dass sich ihre Aussagen auf die unsichtbare Gegenwelt von Doubles, Hexen, Seelenfressern usw. beziehen, die sich paradigmatisch in Träumen äußert (wie die Geister, die meine Hülle und. Nadjas Träume benützen, um mit ihr zu schlafen), dann lässt sich diese „andere Realität“ wohl zwangslos mit dem in Verbindung bringen, was wir das Unbewusste nennen, dessen Wirksamkeit in Übertragung und Gegenübertragung als Spur zu lesen ist. Hexerei, die meist als unbewusster, rein psychischer, nicht vorsätzlicher Vorgang gedacht wird, wäre demnach nichts anderes als eine destruktive Übertragung.

Wir „wollen der Erwartung nachgehen“, schreibt Freud, „dass die Anwendung der Psychoanalyse einiges Licht auf andere, okkult geheißene Tatbestände werfen kann. Da ist z.B. das Phänomen der Induktion oder Gedankenübertragung, das der Telepathie sehr nahe steht. Es besagt, dass seelische Vorgänge in einer Person, Vorstellungen, Erregungszustände, Willensimpulse sich durch den freien Raum auf eine andere Person übertragen können, ohne die bekannten Wege der Mitteilung durch Worte und Zeichen zu gebrauchen.“26

Von dieser „Gedankenübertragung“, die ja dann in Freuds Beispielen eher eine „Emotionenübertragung“ ist, ist es nur ein kleiner Schritt zur (Gegen-)Übertragung im psychoanalytischen Sinn. Insbesondere die postulierte Übertragung von „Willensimpulsen“ würde der Hexerei im afrikanischen Sinne sehr nahe kommen, die auch auf eine gewisse Unbewusstheit auf Seiten des Opfers (und vielleicht auch des Täters) angewiesen ist, um wirken zu können. Die Tätigkeit des Analytikers, der diese Übertragungen aufdeckt (insbesondere die vergangenen in der Beziehung vom Kind zu den Eltern, die sich jetzt auf den Analytiker übertragen) wäre dann der Identifizierung von Hexen durch den afrikanischen Heiler vergleichbar.

Zur Illustration noch die folgende Episode, die Mathurin eines Abends erzählte:

„Einmal waren drei Europäer hier. Wir saßen zusammen, tranken etwas und diskutierten. Auf einmal sagte ein Afrikaner, von dem bekannt war, dass er die Sehergabe (den doppelten Blick) hatte, zur jungen Frau: ‚In diesem Moment bist du nach Belgien geflogen, hast deinen Vater angegriffen und bist wieder zurückgekommen.‘ Sie reagierte empört und aufgebracht. Am nächsten Tag kam ein Telegramm; ihr Vater hatte genau zu jener Stunde einen Herzinfarkt erlitten. Sie reiste gleich ab. Es gibt überall Hexerei, auch in Europa.“

Wieder zurück in der Schweiz öffnete ich meinen Tontopf. Das Grünzeug war inzwischen etwas angeschimmelt. Ich begoss es mit Wasser und versuchte es auf dem Feuer zum Kochen zu bringen, was seltsamerweise nicht gelang. Schließlich stellte ich den Topf in einer wassergefüllten Pfanne auf eine Herdplatte. Ich heizte und heizte, aber brachte das Gebräu nicht zum Sieden. Trotz meiner Angst, ich könnte mich vergiften, wenn ich es nicht aufkochte, begann ich mit meiner siebentägigen Kur, unter anderem auch angespornt von Nadja, die ihre Medizin täglich einnahm und mit sehr ausgeglichenen Blutzuckerwerten belohnt wurde. Der Sud schmeckte anfangs wie ein Waldboden nach einem sommerlichen Regenguss, gegen Ende der Woche, als er möglicherweise etwas zu gären begann, eher wie eine Kloake. Aber ich hielt tapfer durch und fühlte mich prima. Insbesondere musste ich aber etwas sehr Seltsames feststellen. Seit meiner Kindheit gab es einen aufwühlenden Albtraum, der mich ein-, zweimal pro Monat heimsuchte und der mit meiner Großmutter zusammenhing, eben jener Diabetikerin, von der in Coulibalys Konsultation auch die Rede war. Dieser schlechte Traum (auf den man Coulibalys erste Aussage in seiner Séance beziehen könnte) löste sich auf (was kein Psychologe zuvor in noch so vielen Sitzungen und noch so genauer Analyse der „latentesten Trauminhalte“ erreicht hatte!) Bis heute, Jahre danach, ist er nicht wiedergekommen. Wie ein Geist, der mich jetzt in Ruhe lässt.

 

Ich hatte Mathurin Abzüge der Fotos geschickt mit der Bitte, einen Satz Coulibaly weiterzugeben. Wenige Tage darauf kam ein Brief von Mathurin. Er ließ mir ausrichten, Coulibaly habe mithilfe meines Fotos eine Befragung gemacht und sei zu dem Schluss gekommen, ich müsse einen weißen Widder opfern samt 75 Gramm Münzen und 185 weiße Kauris. Dies alles vor Ende Dezember, denn es gehe um ein glückliches Neues Jahr. Im Falle, dass mir dies nicht möglich sei, könne ich auch die Summe von 100 000 CFA (160 EUR) auf sein, Mathurins, Konto überweisen. Der Brief endete mit dem Postscriptum: „Je te prie beaucoup fait ce sacrifice avant le 31/12/95 pour ta propre santé. Car rien ne vaut la vie de l’homme.“ („Ich bitte dich inständig, mache dieses Opfer vor dem 31. 12. 95, für deine eigene Gesundheit. Nichts kann das Leben eines Menschen aufwiegen.“)

Nun, ich wurde ziemlich wütend, vor allem über diesen drohenden Nachsatz. Kam hinzu, dass Mathurin schließlich in Helsinki afrikanische Kunst studiert hatte und sehr wohl wusste, dass ich hier keinen Widder opfern konnte. Ich muss auch noch hinzufügen, dass er am Abend vor unserer Abreise von Abengourou zu mir gekommen war mit der Bitte, ihm 6000 CFA zu geben, weil er völlig blank sei. Ich hatte sie ihm gegeben, aber es war ein schales Gefühl zurückgeblieben.

Ich schrieb ihm also zurück, da sich Coulibalys Prophezeiung noch nicht erfüllt und Nadjas versprochener Reichtum sich noch nicht eingestellt habe, wir stattdessen immer noch an all den Ausgaben für die afrikanischen Heiler nagten, müsse er sich noch etwas gedulden mit der Überweisung.

Zugleich war aber seine Drohung doch nicht ohne Wirkung geblieben. Das System von Hexerei und Gegenhexerei hatte mich zweifellos ein bisschen gepackt. Ich war ein wenig abhängig geworden vom Schutz meiner Gris-Gris und Opfer und reagierte nun ängstlich und mit einem schlechten Gewissen auf meine Weigerung, das Opfer darzubringen. Dann geschah etwas Eigenartiges. Ich arbeitete eines Nachmittags im Keller, als ich plötzlich feststellte, dass Coulibalys Silberring von meinem Finger verschwunden war. Das war umso irritierender, als ich sicher wusste, dass er eine Stunde vorher noch da gewesen war, weil ich ihn zum Händewaschen abgestreift und nachher wieder angezogen hatte. Und nun war er plötzlich verschwunden und auch nach langer Suche nicht mehr aufzufinden. Und das, nachdem ich nach langem Zögern an ebendiesem Morgen den Brief an Mathurin mit besagter Antwort zur Post gebracht hatte! Ich wurde die Idee einfach nicht los, Coulibaly sei rasch hier gewesen und habe den Ring erbost wieder an sich genommen.

Ich habe den Ring bis heute nicht mehr gefunden, aber ich wurde entlastet, als einige Tage später ein Brief von Coulibaly eintraf, in dem er aufgrund seiner Konsultationen folgende Opfer anordnete:

1 Liter frische Kuhmilch, 1 Gramm Gold, 1 weißes Huhn, 100 Kauris, 5 Meter weißer Perkalstoff, 100 Datteln, an einem Freitag an kleine Kinder zu verteilen, 1 lebendes Chamäleon.

Falls es uns nicht möglich sei, diese Opfer darzubringen, sollten wir ihm 50 000 CFA (80 EUR) schicken, und er würde das Opfer für uns durchführen.

Ich ging davon aus, dass der Bericht von Mathurin nicht von Coulibaly stammte und er es nur auf unser Geld abgesehen hatte. Im Nachhinein bin ich erstaunt über meine Angst und Aufregung nach dem Verlust dieses Ringes. Wie groß muss die Abhängigkeit vieler Afrikaner von den Schutzzauberern sein, wenn es schon bei mir Außenstehendem so wenig brauchte. In gewisser Weise wird nicht der „magische Text“ dem Klienten angepasst, sondern die Klienten werden nach und nach dem magischen System oder Text angepasst oder ihm eingefügt. Das System ist zirkulär: Irgendwann sind die Wahrsagungen wahr, weil sie – zumindest bei einer „Langzeitbehandlung“ – den Klienten den Erwartungen des Systems angepasst haben und er sich in diese Sprache und ihre vorgesehenen Strukturen und Positionen eingefügt hat. Der Patient verhält sich gemäß einer vom Hellseher vorformulierten Rolle.

Ich machte all die vorgeschriebenen Opfer, schrieb Coulibaly jedoch, ein Chamäleon zu opfern sei mir nicht möglich. Dem Brief legte ich 2000 CFA (3 EUR) bei.

Zwei Wochen später kam die Antwort. (Von Mathurin hörte ich nichts mehr.)

Coulibaly schrieb, dass er das Chamäleonopfer inzwischen selber vorgenommen habe. Nach seinen neusten Konsultationen war es nun nötig, einen Ziegenbock für mich zu opfern; ebenfalls brauchte er ein wenig Goldstaub, weißes Silber und noch ein Foto von mir. Er bat mich dafür abermals um 50 000 CFA. Weiter fragte er nach dem Namen von Nadjas Schwester und ihrem Mann, weil er Konsultationen über sie durchführen wolle. Das war nun allerdings interessant, weil die beiden tatsächlich gerade in der Trennung begriffen waren.

Trotzdem brach ich an diesem Punkt den Kontakt vorläufig ab ...

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