Die Ökonomie der Hexerei

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Expeditionen mit Zauberern
Eine erste, persönliche Annäherung
Die Geisterpriesterin

September 1994, Abengourou.

An der Fassade des Umweltministeriums prangten zwei unübersehbar schöne Malereien. Das eine zeigte den Agni-König Nanan Bonzou II. in feierlichem Gewand, unter einem immensen Sonnenschirm, von einem Diener getragen, mit seinem Hofstaat und den goldenen Reliquien seiner Macht. Das andere Mauergemälde stellte eine tanzende Zauberin mit ihren Gehilfinnen dar, an einem Fluss, an dem soeben ein Schaf geopfert wird. Diese Frau auf dem Bild mit dem weißen Rock, dem roten Hut und dem kaolingepuderten Gesicht kam mir bekannt vor. Ich hätte in diesem Moment, als ich mir überlegte, ob ich das verschlafene Gebäude betreten sollte, nicht zu hoffen gewagt, dass ich sie persönlich kennen lernen sollte und dass mir dann auch wieder in den Sinn kommen sollte, woher ich ihr Gesicht kannte.

Eine Stunde später saßen wir im staubigen Büro des Regionalen Delegierten des Ministeriums, Monsieur Gbogou Gaba Mathurin, und waren in ein faszinierendes Gespräch vertieft. Diese Frau an der Hausmauer, erklärte er uns, sei Ahissia, die berühmte Fetischpriesterin und Meisterin der Schule für angehende Priesterinnen in Tengouélan. Etwa 250 Heilerinnen seien dort im Laufe der Jahre schon ausgebildet worden, die heute in der ganzen Elfenbeinküste verstreut praktizierten. Die meisten wurden in die Geheimnisse der afrikanischen Tradition von Akoua Mandodja eingeweiht, der Vorgängerin von Ahissia, die 1991 verstarb. Damals, im Oktober, kamen alle ihre ehemaligen Schülerinnen zu ihrem Begräbnis und tanzten eine Woche lang.

„Ahissia hat Kontakt mit 120 Geistern, die sie über alles unterrichten. Dank ihnen kann sie alles erfahren, sogar was jetzt gerade in der Schweiz passiert.“

„Könnte ich sie auch konsultieren?“

„Sicher. Leute aus dem ganzen Land pilgern zu ihr.“

„Was muss man machen, wenn man ihre Hilfe will?“

„Man muss ihr Gin mitbringen. Damit lockt sie die Geister an.“

Ich hatte mir alles viel komplizierter vorgestellt. Aber tatsächlich: Warum nicht einfach die Heilerin persönlich aufsuchen, anstatt die andern über sie auszufragen?!

Am übernächsten Morgen gingen wir mit Mathurin in einen Laden in Abengourou, und er zeigte uns, welcher Gin es sein musste: der kleine aus Holland in der eckigen, grünen Flasche. Ich bemerkte, es sei eigentlich seltsam, dass die Geister hier nicht den afrikanischen Gin bevorzugten.

„Auch die Geister“, sagte er, „bevorzugen das Fremde“.

Wir fuhren mit dem Buschtaxi nach Agnibilékrou, und von dort brachte uns ein anderer Fahrer nach Tengouélan. Nichts wies auf die Besonderheit dieses Dorfes und dieses Hofes hin, zu dem uns Mathurin nun führte.

Nur ein paar Kinder balgten herum. Wir setzten uns auf einen Baumstrunk.

„Die Leute sind noch in der Kirche“, sagte Mathurin, „wir müssen ein bisschen warten“.

Es war Sonntag, und die Fetischpriesterin empfing also möglicherweise gerade eine Hostie vom christlichen Priester.

Mathurin zeigte auf den großen Hof.

„Hier finden jeweils die großen Zeremonien statt. Wenn es ein gewichtiges Problem gibt, bei dem viele Leute involviert sind, dann wird das große Ritual durchgeführt. Das kostet etwa 40 000 CFA (etwa 100 Schweizerfranken). Beispielsweise bei Familienstreitigkeiten, die mehrere Leute im Dorf betreffen. Dann wird auch getanzt und getrommelt. Was wir jetzt machen, ist eine ‚kleine Konsultation‘, aber du könntest im Prinzip auch eine große bestellen.“

Nach und nach setzten sich einige Kinder und Frauen zu uns. Eine Zwergwüchsige begann ausgiebig ihr Kind einzuseifen, um es anschließend so aufmerksam abzuschrubben, als müsste jede Pore einzeln gereinigt werden.

Zwischen Mathurin und einer Alten entspann sich ein Gespräch in Agni.

Er fragte, ob sie sich nicht an seinen letzten Besuch erinnern könne, als er mit dem Fotografen an der großen Zeremonie teilnahm.

Sie konnte nicht. Jetzt entrollte er endlich das Papier, das er schon den ganzen Tag sorgsam mit sich getragen hatte.

Es war das Fotoposter der tanzenden Ahissia, die Vorlage für das Bild an der Mauer des Ministeriums in Abengourou.

Mathurin erklärte, dass er das Plakat in hoher Auflage drucken und in den Verkehrs-, Fremden- und Tourismusbüros des ganzen Landes aushängen lassen wolle, als Werbung für Ahissia und die Kultur des Agnilandes. Jetzt kamen mehr Leute hinzu; sie drängten sich, um das Plakat zu sehen, und ob sie auch noch irgendwo selber im Hintergrund erkennbar seien. Jemand brachte ein Fotoalbum mit Bildern vom Begräbnis Akoua Mandodjas, der „Großmutter“ Ahissias, wie sie sie nannten, der Gründerin der hiesigen Schule und berühmtesten Heilerin der Elfenbeinküste aller Zeiten. Auf einem Bild war sie auf dem Totenbett zu sehen, prunkvoll umgeben von all den Reliquien, die inzwischen auf Ahissia übergegangen waren.

Als alle die Fotos bewundert hatten und eine kleine Pause entstand, übergab Mathurin seine Geschenkrolle feierlich der Alten und sagte:

„Schick Deinen Sohn damit in die Stadt. Er soll ein Glas kaufen und es rahmen lassen. Dann hängt es an einem schattigen Ort auf, damit es nicht verdirbt.“

Und dann erschien Ahissia selbst, die Fetischpriesterin. Ich wäre nicht auf sie aufmerksam geworden, hätte mir Mathurin sie nicht vorgestellt. Sie hatte sich erst eine Weile zwischen die andern Frauen gesetzt und das Plakat, das ja ihr galt, am teilnahmslosesten von allen angeschaut. Sie schien geistesabwesend, verschlafen, verträumt. Ein bisschen „in einer anderen Welt“, aber das sage ich natürlich jetzt, nachträglich, mit all dem Wissen um ihre Person. Sie war eine Weile da, dann begrüßten wir uns, sie war noch eine Weile da, und verschwand dann wieder. Ihre ganze Gestalt hatte etwas sehr Introvertiertes, als nähme sie die Außenwelt nur flüchtig, wie durch einen Schleier wahr und als seien ihre Augen, obwohl geöffnet, nach innen gewandt.

Ich nahm noch einmal das Fotoalbum zur Hand und suchte das Bild, auf dem sie in voller Trance bei einem Ritual zu sehen war, und verglich das Gesicht mit dem Original. Sie war fast nicht wiederzuerkennen, und trotzdem: Etwas von all den Verzückungen, Verrenkungen und inneren Reisen war als Spur auf ihrem Gesicht zurückgeblieben. Auch jetzt, hier, an diesem normalen Sonntagmorgen, erschien sie mir ein wenig drogué.

Dann erschien der Übersetzer, ein junger, großgewachsener Mann im weißen Gewand – der „Intellektuelle“ des Dorfes, denn er hatte studiert und erledigte nun alles „Schriftliche“ für die Bewohner. Er war der jüngste Sohn eines reichen und einflussreichen Vaters, eines „Noblen“ mit 72 Kindern. Später sollte er uns sein wundervolles, wenn auch heruntergekommenes Elternhaus in Tengouélan zeigen, bewohnt von einem blinden Alten, der verloren in einer dunklen Flurecke saß. Obwohl etwa dreimal so alt wie der „Intellektuelle“ war er dessen Vetter, wurde jedoch mit père heritier angeredet. Der Altersunterschied erklärte sich aus dem hohen Alter, in dem der Vater seinen Jüngsten noch gezeugt hatte; und da die Agni in der mütterlichen Linie erben, ging das Haus des Vaters auf den ältesten Sohn seiner Schwester über, und die leiblichen Kinder gingen leer aus. Sie erbten von ihrem Onkel mütterlicherseits, wo aber nicht viel zu holen war. So war dem „Intellektuellen“ nur der Stolz geblieben, nobel und gebildet zu sein, obwohl beides wenig abwarf.

„Wir haben eben das Matriarchat“, fasste er etwas resigniert zusammen.

Später führte er uns zum Grab seines Vaters, des ehemaligen Dorfältesten. Das Grab war, wie hier üblich bei wichtigen Persönlichkeiten, geschmückt mit lebensgroßen, bunt bemalten Figuren, in seinem Fall mit einem Ungehorsamen, der geköpft in einer sehr roten Blutlache lag, sein Kopf in der Hand eines Mannes hinter ihm, der mit einem Säbel bewaffnet und flankiert von zwei Polizisten, einem Löwen und einem Elefanten war.

„Es wirkt sehr lebendig“, bemerkte ich beeindruckt.

„Nun“, antwortete er, „wie einer unserer Weisen gesagt hat: ‚Die Toten sind nicht tot‘.“

Aber zurück zur Fetischpiesterin. Inzwischen hatten wir uns in einen Nebenhof bewegt und saßen dort mit dem „Intellektuellen“ vor ihrem Haus. Die Priesterin war offensichtlich mit Vorbereitungen beschäftigt. Wir sahen sie hin- und herschlurfen.

„Siehst du die Metallkettchen an ihren beiden Fesseln? Darin erkennst du die Meisterin. Die Schülerinnen, die dort am Brunnen hantieren, tragen Kettchen aus Kaurimuscheln.“

Jetzt setzte sie sich, immer noch mit ihrem dämmrigen Ausdruck, zu uns, und ich übergab ihr die Ginflasche und 10 000 CFA (etwa 25 Schweizerfranken). Wir nahmen alle einen Schluck, gossen ein wenig auf den Boden, „für die Ahnen“, dann entfernte sie sich mit der Flasche.

Wenig später sahen wir einige der Frauen mit dem Gin zum – unscheinbaren, schmucklosen – Grab der „Großmutter“ hinübergehen. Sie füllten einige dort deponierte Gläschen damit.

«Sie locken jetzt die Geister an», sagte Mathurin.

Ich assoziierte: les génies, Genius, Genie, Gin, dschinn (die arabischen Geister), genièvre (Wacholder), Agni ... Ich wurde aus meinen Buchstabenträumen gerissen, als sich der Übersetzer zu uns setzte, und es entspann sich ein Gespräch über die passende Bezeichnung für Ahissia. Féticheuse ließ er nicht gelten, denn Ahissia benütze keine Objekte für ihre Wahrsagungen. Auch „Heilerin“ sei nicht zureichend. Er verwies uns auf eine andere, uralt wirkende Frau im Hof, eine Medizinfrau und „Kräuterhexe“, die später uns gegenüber von sich behauptete, sie könne jede Krankheit heilen außer Aids. Aber sie arbeitete mit nichts „Metaphysischem“, sie war einfach eine Pflanzenkennerin. Charlatan ging erstaulicherweise durch, hatte nichts Entwertendes für ihn. Ahissia selber aber nannte sich – selbstbewusst und bescheiden zugleich – prêtresse des génies.

 

Der geheimnisvolle Untergrund von Worten, ihre geheimen, magischen Verbindungen. Mir ging eine Passage von Hampaté Bâ durch den Kopf:

Ein einziges schlecht gebrauchtes Wort vermag einen Krieg auszulösen wie ein brennendes Zweiglein einen Flächenbrand. Ein Sinnspruch in Mali sagt: „Was bringt eine Sache in den Zustand (das heißt ordnet sie an oder arrangiert sie in vorteilhafter Weise)? Es ist das Wort. Was beschädigt eine Sache? Es ist das Wort. Was erhält eine Sache in einem guten Zustand? Es ist das Wort.“22

Plötzlich hörten wir die wimmernde Stimme Ahissias aus dem Fenster.

„Sie ist jetzt in Trance“, sagte jemand. „Die Geister sind in sie gefahren“.

Nun wurden wir also zur „Priesterin der Geister“ hereingerufen.

Wir legten im Vorraum unsere Schuhe ab. Dann setzten wir uns links in eine Art Durchgang oder Passage. Wir, das waren der Übersetzer, Nadja (meine damalige Freundin) und ich. Die Priesterin selber saß in einem dunklen Raum, von dem wir nichts sahen. Dazwischen, auf der Schwelle, saß ebenfalls eine Priestern, die „Interpretin“. Ihre Aufgabe war es, die Sprache der Geister, die sich durch Ahissia kundtaten, in die Agni-Sprache zu übersetzen. Insofern war sie nicht einfach Übersetzerin, wie der „Intellektuelle“, der das Agni dann ins Französische übersetzte, sondern eine Eingeweihte, die – eine Art Hermes – die nichtmenschliche Geheimsprache in die diesseitige Welt „transferieren“ musste.

Die unsichtbare, unkörperliche Ahissia sprach in Trance aus dem Dunkel. Die Geister existierten – für uns – nur in der Sprache, der Stimme, diesem rhythmischen Singsang. Offenbar klappte die „Übertragung“ nicht einwandfrei. Die Interpretin musste zuerst einige Male zurückfragen, bevor die Séance beginnen konnte.

„Die Geister sprechen jetzt durch sie“, erklärte der „Intellektuelle“ in der Zwischenzeit. „Sie wird sich nachher an nichts mehr erinnern können.“

„Was möchtet ihr?“, fragte sie. (Man nehme die Frage in ihrem ganzen, den Wunsch betreffenden Gewicht).

„Ich möchte etwas über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft erfahren.“

Und nun sagte die Priesterin zu mir: „Deine Eltern sprechen verschiedene Sprachen. Sie verstehen sich nicht.“

Als ich eine Weile schwieg, fügte sie hinzu:

„Die Geister wollen diskutieren.“

Ich hatte die Aussage falsch verstanden, im Sinne von: Die Eltern sprechen eine andere Sprache als ich, wir verstehen uns nicht. Ich widersprach ihr und sagte, das sei vielleicht früher so gewesen, jetzt aber nicht mehr. Interessanterweise passte sie ihr Orakel nun aber nicht etwa meiner „Berichtigung“ an, sondern wiederholte und insistierte:

„Deine Eltern verstehen sich nicht, und sie haben auch verschiedene Ziele für dich, in Hinblick auf dich, sie wollen verschiedene Dinge von dir. Du selber hast noch nicht wirklich gefunden und verwirklicht, was du persönlich willst. Diese Wünsche deiner Eltern dir gegenüber halten dich von deinem eigenen Weg ab oder erschweren ihn zumindest.“

Man könnte sagen, dieser Orakelspruch sei ein Allgemeinplatz; trotzdem traf er zugleich ins Zentrum meiner Biografie, insofern als mich diese „verschiedene Sprache der Eltern“ tatsächlich von Geburt an geprägt hatte, ja schon vorher, denn die Trennung meiner Eltern war meiner Geburt bereits vorangegangen. Als ich auf die Welt kam, waren sie schon nicht mehr zusammen. Und nichts trifft die „Unverträglichkeit“, die „Differenz“ meiner Eltern besser als diese Worte von der „verschiedenen Sprache“. Es handelte sich tatsächlich nicht einmal um einen Streit, der zumindest eine gemeinsame Ebene vorausgesetzt hätte, sondern um eine Inkompatibilität, einen Widerstreit. Suaheli und Chinesisch ...; wenigstens habe ich es immer so wahrgenommen.

Auf jeden Fall löste die Wahrsagung einen ganzen Schwall von Assoziationen aus, und vielleicht war mein anfängliches Nichtverstehen auch ein Allzugutverstehen.

Als Nächstes sagte sie, ich könne nicht mit Geld umgehen. Tja, was sollte ich da für eine Antwort geben? (Denn sie erwartete eine.)

„Nun“, sagte ich, „sicher, so eine Reise wie diese hier nach Afrika kostet und bringt ökonomisch nicht viel; dafür sonst.“

„Wo ist deine Freundin?“

„Hier.“

Nun wandte sie sich an sie.

„Deine Familie hat dich nötig. Gibt es irgendein Ereignis in deiner Familie, ein Begräbnis oder etwas Ähnliches?“

„Ja, mein Bruder hat gestern geheiratet.“

„Deine Familie ist eurer Verbindung gegenüber nicht unbedingt positiv eingestellt.“

Dann sagte sie: „In wenigen Stunden wird jemand im Dorf sterben.“

Es gab einen gewissen Aufruhr unter den Anwesenden, es wurde einiges ohne Übersetzung gesagt, das uns offenbar nicht betraf. Dann kam sie wieder auf uns zu sprechen.

„Ihr wohnt in der Nähe des Wassers.“

„Ja, das stimmt, wir wohnen gleich am Fluss.“

„Wasser ist wichtig für dich. Es hat einen Geist in diesem Fluss, der dir gut gesinnt ist und dich beschützt. Du musst ihm ein Opfer bringen. Töte einen weißen Hahn, nachdem du ihm deine Wünsche gesagt hast. Lasse sein Blut ins Wasser fließen. Nachher wird sich vieles zum Bessern wenden. Du kommst wieder zu mir, nachdem du das gemacht hast, und ich sage dir Weiteres.“

„Ich habe noch nie ein Huhn geopfert; ich weiß nicht, wie man das macht.“

„Du kannst den Hahn auch durch jemand andern töten lassen oder du sagst dem Hahn einfach deine Wünsche und lässt ihn laufen. Aber wir können es nicht hier für dich machen, du musst es bei dir zu Hause tun, für deinen Flussgeist. Im Übrigen: Ihr werdet sicher und gesund nach Hause reisen. Habt ihr noch Fragen? Weil bald jemand sterben wird, verschwinden die Geister.“

Dann wollte sie noch etwas zu Mathurin sagen. Er war aber nicht da. Sie ließ ihm ausrichten, dass seine Frau weiterhin versuche, ihn zu provozieren.

Die Séance war zu Ende, wir gingen mit der Interpretin hinaus. Sie richtete Mathurin seine Wahrsagung aus, und er murmelte bloß, zu mir gewandt: „Wie wahr, wie wahr!“

Uns teilte sie noch mit, dass wir Ahissia auch Fragen per Post schicken könnten, mit einem beigelegten Foto.

„Sie ist jetzt eure Schutzmutter.“

Dann, wie üblich hier, verließen wir den Hof ohne besondere Formalitäten und ohne Ahissia noch einmal gesehen zu haben. Wir gingen mit dem „Intellektuellen“ den Weg hinunter zu seinem Elternhaus, das er uns noch zeigen wollte. Plötzlich hob Geschrei hinter uns an. Oben am Weg stand die Interpretin und beschimpfte Mathurin im Namen der Priesterin, sodass es das halbe Dorf hören musste. Was war los? Ahissia, beziehungsweise die Geister, waren äußerst gekränkt, dass es Mathurin unterlassen hatte, zur Aussage über seine Frau Stellung zu beziehen. Ahissia hatte immer noch im Hausinnern mit den Geistern auf ihn gewartet, während wir uns auf den Weg gemacht hatten. Wir gingen noch einmal zurück, um uns zu entschuldigen.

Während wir dann mit dem Intellektuellen ein wenig durchs Dorf spazierten, gab er noch folgende Kostprobe vom Können Ahissias:

„Kürzlich starb jemand im Dorf. Man musste mehrere Tage warten, bis alle Verwandten zum Begräbnis eingetroffen waren. Die Leiche begann schon zu stinken. Da transportierte die Zauberin den Gestank in ein anderes Dorf. Wirklich konnten die Leute dort dann nur noch mit dem Taschentuch vor dem Gesicht herumgehen, während hier die Luft rein wie nach einem Regenguss war.“

„Wobei“, gab Mathurin zu bedenken, „man das einfach so sagt. In Wirklichkeit hat sie wahrscheinlich den Körper magisch dorthin transportiert, und was wir hier sahen, sah nur aus wie der Körper dieser Leiche.“

Ich fragte den Intellektuellen, ob er nicht auch als Féticheur arbeiten könnte. Er antwortete nur, er habe die dazu nötige „Gabe“ nicht. Später fragte ich Mathurin, warum es in Tengouélan keine praktizierenden Männer gebe.

„Die Frauen können besser ein Geheimnis hüten“, antwortete er. „Es ist einfacher, zum Beispiel seine Totempflanze zu vermeiden, wenn man immer zu Hause ist. Der Mann ist in den Straßen, dann sieht er irgendwo Essen an einem Stand, das ihm verboten ist, aber er denkt: Ach was. Dann verliert er seine Sehergabe. Die Frauen können besser gehorchen.“

Auf der Rückfahrt passierten wir eine Unfallstelle: Ein Leichenwagen war mit einem Lastwagen zusammengestoßen. Und das Ganze geschah gleich neben dem Friedhof – das konnte kein Zufall sein! Mathurin, der die Geschichte offenbar kannte, sagte:

„Der Chauffeur des Leichenwagens hat als Einziger überlebt. Die beiden Mitfahrer waren Angehörige des Verstorbenen, der hinten im Sarg lag. Die zwei waren offensichtlich schuld am Tod des Verstorbenen, der sich so gerächt hat. Deshalb geschah es auch gleich neben dem Friedhof, und deshalb überlebte der Fahrer, der nichts damit zu tun hatte.“

Das ist ein schönes Beispiel für das, was Lévi-Strauss dem Zauberer und Schamanen (aber auch dem Psychopathen) zuschreibt: dem Alltagsdenken, das immer unter einem Mangel an Sinn angesichts der ärmlichen Wirklichkeit leidet, ein Übermaß an Signifikantem, Interpretation und Affektivität entgegenzustellen (allerdings keine individuell-zufälligen Bedeutungen, sondern kulturell normierte, die eine Situation, wenn auch nicht bereinigen, so doch an ein vordefiniertes Problem anpassen).23

Wieder in Abengourou tranken wir mit Mathurin noch ein Bier in einem „Maquis“ und er erzählte die letzte seiner phantastischen Geschichten:

„Ein alter Zauberer in Tengouélan hatte einen Sohn, der seit dreißig Jahren in Paris lebte. Er vermisste ihn. So besuchte er ihn eines Nachts. Plötzlich stand er in der Wohnung. Der Sohn war nicht zu Hause. Der Alte schaute sich die Zimmer und die Kinder an, dann ging er wieder. Nach zehn Minuten war er zurück in seinem Dorf.

Die Frau des Sohnes hatte ihn aber gesehen und heimlich fotografiert. Dann kam der Sohn nach Hause. Seine Frau erzählte ihm von diesem seltsamen Besuch. Er glaubte ihr nicht.

‚Das ist unmöglich‘, sagte er. ‚Mein Vater hat kein Geld, er kann nicht Französisch, er wäre nicht fähig, ein Flugzeug und eine Metro zu benützen.‘

Aber die Frau beschrieb den Vater ganz genau und zeigte das Foto. Ein Jahr später kam der Sohn auf Besuch nach Tengouélan. Es wurde eine Versammlung einberufen und der Sohn erzählte den Alten von diesem Besuch und reichte auch das Foto herum. Aber jeder im Dorf bestätigte, der Vater sei nie weggewesen. Nicht einmal die Mutter hatte etwas bemerkt. Es war eben sein Double, das sich auf die Reise gemacht hatte. Er hatte die Reise geträumt. Das, was wir träumen, ist das, was unser Double erlebt. Als wir heute morgen noch unterwegs waren, traf unser Double bereits bei der Fèticheuse ein, und sie sah, dass wir kommen. Deshalb mussten wir uns auch nicht anmelden. Aber wir können das Double nicht kontrollieren. Oder nur wenige können es. Das Double kommandiert das Bewusstsein, nicht umgekehrt. Je suis le double – ich bin das Double/ich folge dem Double ...“24

Nun, was die Rückreise betrifft: Wir kamen tatsächlich, wie vorausgesagt, sicher und gesund wieder nach Hause. Was den Todesfall im Dorf angeht: Ich bat Mathurin, mich darüber zu unterrichten; er schrieb nie etwas Diesbezügliches.

Wieder in der Schweiz, besorgte ich, wie angeordnet, einen weißen Hahn, ging mit ihm an den Fluss (zu einer Tageszeit, wo ich mit möglichst wenig Fußgängern rechnen konnte), und bekannte ihm meine Wünsche. Ich ließ ihn dann allerdings nicht frei, sondern gab ihn dem Besitzer zurück.

Die Wahrsagung arbeitet reflexiv, rekonstrukiv: Sie lässt die Vergangenheit in einem ganz bestimmten Licht erscheinen (indem sie zum Beispiel Unglücksfälle in eine Serie stellt und als systematisches Werk einer Hexe beschreibt). Aber die Wahrsagungen wirken auch in die Zukunft: Sie bereiten neuen Ereignissen den Boden der Interpretation, noch bevor sie eintreten oder sie machen sie überhaupt erst als solche wahrnehmbar, das heißt real. Das muss nicht bewusst geschehen, ja funktioniert wahrscheinlich umso besser, je weniger bewusst.

Beispielsweise hätte die Behauptung Ahissias, Nadjas Familie sei gegen unsere Verbindung, dazu führen können, dass ich vermehrt auf jedes negative diesbezügliche Zeichen seitens der Familie pedantisch geachtet und ihm Gewicht beigemessen hätte. Mit meiner feindseligen Reaktion darauf hätte ich einen Teufelskreis der Ablehnung in Gang gesetzt, sodass sich am Ende Ahissias These als self-fulfilling prophecy bewahrheitet hätte.

 

Wieder in meinem Zimmer angekommen, notierte ich all die Vorkommnisse des Tages, machte ein Schläfchen, dann gingen wir mit Mathurin zum Abendessen. Er hatte seinen Freund, den Bankdirektor, mitgenommen. Wir sprachen über die Seherin in Tengouélan, und er erzählte, dass er als Schüler jeweils die Prüfungsaufgaben des folgenden Tages vorausgesehen habe. Er vertrat auch die Theorie, dass Frauen besser als Männer für die Hellseherei prädestiniert seien wegen ihrer Eifersucht, die sie die kleinsten Zeichen lesen lasse.

Plötzlich kam mir wieder etwas in den Sinn, das Ahissia gesagt, ich aber wieder vergessen hatte: Trotz der unterschiedlichen Ziele der Eltern bezüglich meiner Zukunft würde ich am Ende finden, was ich wirklich wolle, aber das sei mit viel Arbeit und Kraft (force) verbunden. Diese Bemerkung war für mich deshalb so interessant, weil mir eine Hellseherin in Dublin etwa ein Jahr vorher mittels Karten dasselbe vorausgesagt hatte.

(Ich entnehme diese Tatsache einem Eintrag in meinem irischen Tagebuch. Gleich darunter finde ich folgende Notiz:

„Im Bus. Ich denke über genies nach. Ich hebe den Kopf. In diesem Moment blättert vor mir jemand die Zeitungsseite um und die Schlagzeile erscheint: The Puzzle of Genius.“)

Ich denke jetzt, beim Schreiben, über Vergessen, Erinnern und geheime, unterirdische Verbindungen nach und dann erscheint eine weitere Erinnerung:

Als wir in Tengouélan am Grab der „Großmutter“ vorbeigingen, erzählte jemand von einer Gruppe amerikanischer Schwarzer, die (auf der Suche nach ihren roots) vor einiger Zeit hier waren. Als sie ebendieses Grab passierten, fiel einer von ihnen, der nie vorher in Afrika gewesen war, in Trance und begann Agni zu sprechen. Wieder zu Hause forschte er in seinem Stammbaum nach und entdeckte, dass Vorfahren von ihm aus dieser Gegend stammten.

Auch hier wieder: Hatte er unbewusst schon „gewusst“, dass er Vorfahren unter den Agni hatte und war deshalb hergefahren? Hatte er das nachträglich hineingelesen, interpretiert, konstruiert? War überhaupt die ganze Geschichte, wie so viele, nachträglich „gemacht“? Auf jedenfall schien es mir, je länger ich mich hier aufhielt und mit diesen Themen beschäftigte, so etwas wie einen Subtext zu geben, ein Netz von Zeichen, die alle aufeinander verwiesen, so wie die Spuren des Unbewussten in Freuds „Traumdeutung“. Nur, dass es hier um reale Ereignisse und nicht um Träume ging; allerdings um „reale“ Ereignisse, die häufig eine seltsam textuelle Struktur besaßen. Die Textur der Wirklichkeit. Es ging offenbar um Zeichen, die nicht nur etwas Reales repräsentierten, sondern dieses Reale hervorbrachten, beziehungsweise zumindest einen vorbereitenden Kontext schufen, in dem das Ereignis eintreten konnte, in dem es möglich wurde. „Primat der Struktur und des Signifikanten“ hatten das die Strukturalisten genannt: damit ein Ereignis eintreten kann, müssen zuerst die Bedingungen der Möglichkeit geschaffen werden, in der Wahrnehmung, in der Psyche; denn nur was wahrgenommen wird, was von der Wahrnehmung zugelassen wird, geschieht.

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