Die Ökonomie der Hexerei

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Größenwahn und Liebe

Keita war nach seinen eigenen Angaben 55 Jahre alt und Malinké aus Mali. Auf der Fahrt von Bamako nach Kati hatte er uns erzählt, dass er Pilot gewesen sei, und dass er zwei Frauen sowie zwei Häuser habe. Das zweite Haus, eine Villa, vermiete er. Vor ein paar Wochen hätte er eine 19jährige Französin in Bamako herumgefahren. Sie sei so begeistert von ihm gewesen, dass sie ihm 500 000 CFA (800 EUR) angeboten habe, wenn er die Nacht mit ihr verbringe. Einmal war er als Pilot nach Paris geflogen und mit dem Präsidenten von Mali im Hilton abgestiegen. Im Hotelzimmer gab es einen Kühlschrank, prall gefüllt. Man konnte sich einfach bedienen, gratis. Und dann am Abend die Rue St. Denis ...

„Als Pilot habe ich die ganze Welt gesehen. Ich war zuerst bei Aëroflot. Moskau, Kaviar, Wodka ... Ich kannte eine hübsche Russin, sie wollte mich unbedingt heiraten, nachdem wir ein paar Nächte miteinander verbracht hatten. Sie ging sogar nach meiner Abreise auf die malische Botschaft, verlangte den Konsul zu sprechen und weinte ... Nachher war ich bei Yougoslavian Airlines und schließlich bei Air Afrique. Dann gab es diesen Absturz in Burkina Faso. Ich war Navigator. Wir mussten auf einer Straße notlanden. Die Flügel streiften die Häuser und brachen ab. Dann krachte der hintere Teil mit der Personalkabine weg, alle Angestellten starben. Als das Flugzeug noch 300 km/h schnell war und wir im Cockpit wussten, dass es jetzt Feuer fangen würde, sprangen wir aus dem Kabinenfenster. Aber etwas stürzte auf mein Bein. Seither habe ich pausenlos Schmerzen. Die meisten Passagiere waren gestorben. Dann verlor ich meine Stelle. Es gab die Verstaatlichung, Streik, lange Gerichtsverfahren, politische Wechsel. Schließlich wurde ich vorzeitig in Pension geschickt. Mit der Abfindung kaufte ich das Taxi.“

Bei einer späteren Gelegenheit erzählte er: „Als ich ein halbes Jahr alt war, starb mein Vater. Ich kam zu einem Verwandten, wo ich gequält wurde. Ich habe viel erlitten. Später entführten mich die Geister für drei Jahre in den Wald. Sie zeigten mir Geheimnisse. Am Ende war ich stark. Sie gaben mir Medikamente, sodass ich mich für die Flugprüfung anmelden konnte. Sie war schwierig. Aber ich bestand. Ich habe zwei Frauen. Die erste wählte meine Mutter aus, die zweite ich selbst. Sie ist Ärztin. Ich war beliebt und bewundert. Aber wenn man mich jetzt sieht, würde man nicht denken, was ich einmal war.“

Er zeigte uns sein Fotoalbum: Bilder von ihm als junger Mann in Uniform, vor einem Flugzeug, mit Stewardessen im Minirock. Er erzählte jedem seine Geschichte. Coulibaly fand das dumm und gefährlich.

„Er redet zu viel.“

Der Marabout Ibrahim Ba nun – um darauf zurückzukommen – riet Monsieur Keita Folgendes bezüglich seiner Beinprobleme:

„Du musst zu Hause Hühner züchten. Mit den Küken werden die Teufel weggehen. Du musst getragene Kleider weggeben. Verantwortlich für deine Probleme ist eine Frau, die dich heiraten wollte; aber du wolltest nicht.“

„Das ist gut möglich.“

„Du musst zehn weiße Kolas und ein weißes Huhn opfern.“

Keita meinte zu mir, dass er Ba nicht sehr überzeugend fand:

„Er sagte mir noch, ich hätte kein Geld, weil ich nicht sparen könne. Ich würde erst Geld zusammen mit meinen weißen Haaren haben.“

Das ärgerte ihn ganz besonders. Denn er legte viel Wert darauf, dass man ihn nicht als normalen Taxichauffeur, sondern als aviateur betrachtete und seine finanziellen Möglichkeiten nicht unterschätzte. Und dann betonte er einerseits sein Alter, sein Wissen und seine reiche Lebenserfahrung (öfters, wenn ich etwas fragte, sagte er: „Ihr seid wie Kinder, ihr wisst nichts“), andererseits war es ihm wichtig, kein Greis zu sein; angesichts von Coulibalys Vater, der etwa gleich alt war wie er, wiederholte er immer wieder: „Er sieht sehr alt aus für sein Alter; normalerweise ist man mit 55 noch auf der Höhe seiner Möglichkeiten.“

Am ersten Abend, nachdem wir in Tiengolo angekommen waren, verschwand Keita einmal etwa für eine Stunde. Er sagte mir nachher, er hätte einen von Coulibalys Brüdern (auch ein Heiler) wegen seiner Beinprobleme gesprochen.

„Ich habe dir erzählt, dass die Schmerzen nach dem Flugunfall begannen. Aber als die Probleme nicht aufhörten, merkte ich, dass da noch etwas anderes sein musste. Coulibalys Bruder war sehr klar: jemand hatte mich offenbar verhext, jemand aus meiner Umgebung. Er sagte mir nicht wer, aber er gab mir ein Medikament, um mich damit zu waschen.“

Keita erzählte immer wieder die Geschichte von Malis Nationalhelden, Sun Jata Keita, auch ein Malinké, dessen Loblieder die Griots singen und der sogar in der Nationalhymne vorkommt. Dieser Namensvetter war als Kind gelähmt; aber dann wurde er von seiner Mutter mithilfe eines Holzstocks geheilt, bestieg zum Erstaunen aller ein großes, wildes Pferd und wurde König des alten, ruhmvollen Großreiches Mali (Mitte des 13. Jahrhunderts).

Coulibaly hingegen vermutete, Keita sei gar nicht Malier, sondern Guineer. (Coulibaly hatte selber zwei Jahre in Guinea verbracht).

„Keita lügt. Er erzählt die Geschichten immer wieder anders, er ist ein Bluffer. Ich bin nicht einmal sicher, ob er wirklich Pilot war und verheiratet ist.“ (Das sagte Coulibaly nach unserer Rückkehr nach Bamako. Keita hatte uns im Hotel abgesetzt und ging nach Hause. Nach einer Viertelstunde kam er zurück, weil er einen Kunden getroffen hatte und ihn noch herumführen sollte. Es war acht Uhr abends. Keita sagte, seine Frau hätte etwas für ihn gekocht, aber er sei gleich wieder weggegangen. „Hätte er wirklich eine Frau“, meinte Coulibaly, „würde er sich nach drei solch strapaziösen Tagen zu Hause ausruhen.“)

Am folgenden Tag gingen wir nach Bougoula, wo wir den Féticheur Diarra Sidi besuchten, Coulibalys Schwiegervater (den Vater von Sita, „la claire“). Mit Sandzeichen machte er Coulibaly, Keita und mir eine Konsultation.

Keita gab er Blätter, die er im Wasser eines canari aufbrühen und sich damit das Bein waschen sollte. Weiter sagte er ihm, er solle ein weißes Schaf mit schwarzem Rücken opfern, wobei die eine Hälfte in der Nachbarschaft zu verteilen, die andere Hälfte für seine Familie bestimmt sei. Und dann solle er drei Teller mit galettes (kleinen, frittierten Kuchen) an die Kinder der Nachbarschaft verteilen. Dieser Auftrag berührte mich irgendwie. Es schien mir sinnreich, dass ein so ichbezogener, geltungssüchtiger und rivalisierender Mensch versuchen sollte, den Kindern eine einfache Freude zu machen. Aber er konnte das Machtspiel nicht einmal hier ganz bleiben lassen. Er sagte mir:

„Ich werde die Kinder rufen, gerade wenn sie am Spielen sind. Ich werde sagen, sie sollen nach Hause kommen. Dann sind sie enttäuscht, einige werden weinen. Aber dann gebe ich ihnen die galettes und sie haben Freude.“

Er sagte mir, er hätte 2500 CFA für die Konsultation bezahlt. Coulibaly hingegen beklagte sich später: Keita hätte Diarra überhaupt nichts bezahlt. An diesem Tag erzählte er mir eine weitere Version seiner Lebensgeschichte:

„Als ich sechs Monate alt war, ist mein Vater ertrunken. Er war auf dem Weg, um den Brautpreis für eine zweite Frau zu bezahlen und wurde von meiner Schwester begleitet. Sie begleitete ihn immer auf seinen Reisen, ich nie. Sie kamen an einen Fluss; es gab einen schmalen Steg darüber, aber er war unter Wasser. Die Schwester sagte: Wir warten hier, bis das Wasser gesunken ist. Aber mein Vater wollte weiter. Die Schwester ging als Erste hinüber. Kurz vor dem andern Ufer rutschte sie auf dem glitschigen Holz aus und fiel in den Fluss. Mein Vater wollte sie retten, aber weder er noch das Mädchen konnten schwimmen, und so ertranken beide. Ich kam zu einem Verwandten. Meine Mutter verheiratete sich mit einem Marabout und zog zu ihm ins Dorf. Mein Verwandter fand, ich sollte Schulbildung erhalten. Bei einem Kind merkt man gleich, ob es schlau ist oder nicht. Sie sahen, dass ich Chancen hatte. Aber daneben musste ich immer arbeiten. Es gab einen Vetter, der bediente den Projektor in einem Kino. Ich half ihm; ich musste schauen, dass der Film immer schön in der Mitte der Leinwand lief. Ich schickte meiner Mutter Geld, sie war sehr stolz auf ihren Sohn, der ‚ein Kino führte‘. Dann machte ich die Prüfung als Pilot. Ich bestand, ging aber zuerst nach Guinea, wo ich den Laden eines Onkels liquidieren musste. Ich machte das, anschließend arbeitete ich noch etwas weiter in dem Ort, aber als ich sah, dass sich die Sache nicht entwickelte, ging ich zurück und zur Fluggesellschaft.“

Im Laufe der verregneten Rückreise, auf überschwemmten, löchrigen Pisten, wurde das Verhältnis zwischen uns zunehmend gespannter, weil er uns mit seiner Großmannssucht immer mehr nervte, während er offenbar fand, dass wir ihm zu wenig Respekt entgegenbrächten. Häufiger und häufiger sagte er Dinge zu uns, bei denen nicht klar war, ob es allgemeine Aussagen, Beispiele waren oder persönliche Spitzen mit einem drohenden Unterton:

„Du hast Erfolg, bist beliebt, kennst keine Probleme, hast Geld, eine gute Gesundheit, aber dann gibt es Leute, die dir das nicht gönnen. Sie fragen sich: Hast du das verdient?“

Missgünstige Leute, die glauben, nicht zu haben, was ihnen eigentlich zustände, gelten in Afrika als gefährlich. Sie wollen nehmen ohne zu geben. Man muss sich vor ihrem gierigen Sog schützen. Während der der letzten Etappe der Reise sprach Coulibaly nicht mehr mit ihm. Er verschloss sich.

In den Brei schreiben

Als Diarra Sidi mir selbst das Sandorakel machte, kam Folgendes heraus:

„Du denkst an deine Frau. Du denkst daran, ob du Geld haben wirst oder nicht. Du wirst ein grand type werden, dank Arbeit und Wissen.

 

Ich werde dir einen canari zubereiten mit dem Holz des Baumes, der die Carité-Früchte trägt; aber von einem, der im Wind umfiel und doch wieder wuchs.

Du musst ein Opfer darbringen aus Hirse, Mais, Fonio und vier Kilo Rindsdarm. Du machst eine bouillie (Brei) damit. Coulibaly wird etwas hineinschreiben, dann verteilst du sie.“

Er schrieb ihm folgende Zeichen auf ein Papier:

I

II

II

I

Dieses Zeichen heißt zan (König) und bedeutet „Wut“.74

I

I

II

II

Dieses Zeichen heißt alahou tane (Haus) und bedeutet „Gott und Reisen“.75

Dann sagte er ihm noch, am Ende müsse er „3“ hinzufügen, weil ich ein Weißer sei.

„Du warst vorher wütend. Im Dorf gab es Streit. Du hast nicht mehr gesprochen. Nachher hast du dann wieder gesprochen.“ (Was ich natürlich auf unsere Auseinandersetzung bei Bala Balu bezog).


Jetzt erst musste ich eine Hand voll Sand besprechen. Dann rief er seinen Geist.

„Schlechtes kommt. Aber ich werde dem Medikament im canari das Blut eines weißen Hahns hinzufügen. On va adorer ça avec le fétiche. Das Unglück wird abgewendet. Eine weiße Kola. Die Konsultation ist gut. Hundert Datteln.“

Dann notierte er wieder ein Zeichen für Coulibaly, „pour travailler sur les dattes“ – um die Datteln zu bearbeiten.

II

I

II

I

Dieses Zeichen heisst soumana und steht für „Gesundheit“.76 Ich gab ihm das Geld für das Medikament. Dann machte er eine Konsultation für Coulibaly. Er sagte: „Da ist etwas auf der Reise; aber es ist noch nicht klar deklariert. Es ist auf jeden Fall kein Unfall. Du musst ein Kohlenfeuer machen und Wasser darüber leeren.“77

Dass ein Wahrsager anlässlich des Orakels sagt, etwas sei nicht „klar“ („pas bien déclaré“), kommt übrigens öfters vor. Er kann also durchaus auch Grenzen seiner Hellsichtigkeit einräumen. Bala Balu beispielsweise begann seine Konsultation – die ich ja wohlgemerkt gar nicht machen wollte – zuerst ohne Hilfsmittel und machte ein paar ziemlich treffende Feststellungen.78 Dann gab er mir die Kauris zum „draufsprechen“. Ich sprach etwas hinein bezüglich meiner Liebesbeziehung.

Er fragte: „Du hast die Kauris etwas wegen dem Opfer gefragt?“

„Nein.“

Er warf noch einmal, war verwirrt.

„Rien n’est déclaré. Tout est obscur.“

Er sagte, ich solle die Kauris noch einmal besprechen.

Nach einem neuerlichen Wurf sagte er: „Es geht um Probleme in der Familie, bei der Arbeit?“

„Um die Arbeit handelt es sich nicht.“

„Es geht um eine Frau. Ich sehe, dass Coulibaly schon Arbeiten für dich gemacht hat in dieser Angelegenheit.“

Dann sagte er einiges zu diesem Thema, das völlig daneben lag, bis er dann mit dem Thema von Coulibalys Problemen bei der Polizei wieder festen Boden unter den Füßen gewann.

Am nächsten Tag gingen wir noch einmal zu Diarra.

Er hatte drei weiße Kolas vor sich. Er teilte eine davon in zwei Hälften und warf die beiden Teile in die Luft. Sie kamen beide auf die Innenseite zu liegen.

„Das ist gut. Es ist klar.“

Dann schnitt er dem weißen Hahn die Kehle durch und tropfte das Blut (mit dem das vorausgesehene „Schlechte“ abgewendet werden sollte) über das Carité-Holz im Tontopf. Er ließ das Tier los und es rannte noch lange kopflos durch die Hütte. Schließlich legte es sich auf den Bauch.

„Liegt es auf der Seite oder auf dem Bauch, ist es gut – für den Mann“, kommentierte Coulibaly. „Ist das Opfer für eine Frau, ist es anders.“79

Dann holte er eine mit Wasser gefüllte Kalebasse. Er halbierte eine rote Kola und legte die eine Hälfte ins Wasser. Auf die zweite Hälfte schüttete er einen kleinen Kegel zerriebenes Holz und legte sie ebenfalls sorgsam ins Wasser. Sie kippte nicht, sondern blieb wie ein Schiffchen in der Balance, und das Häufchen Medikament blieb trocken. Er nahm sie wieder heraus und schüttete das Holzpulver zurück in das Säckchen, dem er es entnommen hatte.

„Damit musst du dich waschen. Es ist für die Arbeit und gegen die Hexerei.“

(Später, als ich mit Coulibaly bei Mopti in einer Piroge saß, kam er – wie so oft – unvermittelt auf diese kleine Zeremonie zurück. Er sagte: „Das Medikament blieb unversehrt; das heißt, niemand kann dir etwas antun, du bleibst, wie du bist.“)

Dann gab er mir den canari.

„Du kochst das Holz im Wasser am Sonntagabend auf, bis es siedet. Dann wäschst du dich auch damit. Deine Frau und du, ihr werdet im Einverständnis miteinander sein, und es ergibt sich die Chance für eine neue Arbeit.“

Auf der Heimfahrt kamen wir an einer Gruppe Chapalo-Trinkern vorbei. Coulibaly fand, ich sollte ihnen eine Runde spendieren; ich wollte nicht. (Bei Diarra Sidi hatte es am Ende noch etwas Probleme gegeben, weil er nochmals Geld für seine Arbeit wollte, ich aber kaum noch welches hatte, außer den Schecks, die ich hoffte in Bamako wechseln zu können. Schließlich wurde ich gedrängt, ihm einen Schuldschein auszustellen.)

Coulibaly sagte: „Wenn wir ihnen kein Bier zahlen, werden sie uns Schlechtes antun.“

Ich weigerte mich. Er schien echt Angst zu haben. Schließlich war es der Fahrer und er selbst, die etwas springen ließen. Ich war für einmal zufrieden mit mir, hart geblieben zu sein. Die andern nicht.

Träume in Mopti

Ein paar Tage später fuhren Coulibaly und ich nach Mopti. Wir kamen spät in der Nacht an und wurden in ein billiges, lärmiges, schmutziges Hotel geführt, das eigentlich vor allem ein Bordell war. Aber wir waren zu müde, um noch etwas anderes zu suchen. Wir aßen ein Huhn, das nach Fisch schmeckte, und wimmelten Prostituierte ab. Schließlich sagte Coulibaly:

„Tout ça m’énerve trop. Ich werde mich schlafen legen.“

Ich folgte ihm fünf Minuten später. Da ich noch etwas in seinem Zimmer vergessen hatte, klopfte ich an.

Er rief: „Oui?“

Ich öffnete die Türe einen Spalt, da sah ich ihn auf dem Bett mit einer der dicken Frauen von vorhin.

Er sagte verlegen lachend: „Sie ist einfach reingekommen. Ich habe ihr gesagt, ich habe kein Geld!“

Am nächsten Morgen nahm ich ihn etwas hoch wegen dieser Geschichte.

Er sagte: „Mamadou Koné hat mir doch vorausgesagt, dass eine Frau oder ein Geist kommen wird.“

„Aber er hat gesagt, an einem Freitagmorgen!“

„Nein, an irgendeinem Morgen oder Abend.“

„Und er hat gesagt, sie wird dir Glück und Geld bringen. Hat sie dir Geld gebracht?“

Er lachte. „Nein, aber ich habe auch die Opfer noch nicht gemacht ... Ich habe übrigens schlecht geschlafen. Ich träumte, mein Bruder stirbt im Dorf. Ich habe sein Grab gesehen und geweint. La femme m’a fait mal. Aber Weinen im Traum ist gut, Lachen nicht.“80

Nach einer Pirogenfahrt auf dem Niger in ein Bozo-Dorf machte Coulibaly, zurück im Hotelzimmer, ein kleine Kauri-Divination, zuerst für sich selber, dann für mich. Im Gegensatz zu sonst hatte das Orakel jetzt etwas ganz Pragmatisches und Nüchternes, etwa so, wie man sich den Wetterbericht anschaut oder einen Kompass konsultiert.

„Die Reise wird gut beendet. In Abidjan wartet ein Brief von Nadja auf dich. Deine Eltern haben sich damals getrennt, weil die Mutter aus einer reicheren Familie stammte als der Vater. Deine berufliche Situation wird sich verändern. Hast du schon einen Sohn? Du wirst einen haben, als erstes Kind. Du musst eine Gans opfern.“

In der folgenden Nacht träumte ich, ich hätte lange geweint.

Manchmal hatte ich das Gefühl, Coulibaly klinke sich in meine Träume ein ... Ich erzählte ihm davon.

„Wie gesagt: Lachen im Traum ist nicht gut; es bedeutet, du verlierst jemanden“, sagte er. „Aber du hast geweint. Du wirst das Glück sehen.“

Wir blieben einige Tage in Mopti, wo Coulibaly bereits 1984 einmal zusammen mit seiner ersten Frau drei Monate verbracht hatte. Überhaupt erzählte er jetzt viel von seinen Reisen. Er war in Guinea, Sierra Leone, Kamerun, Zaire, Gabun, Liberia, Ghana, Togo, Benin und Burkina Faso gewesen, oft einige Wochen oder Monate, weil er von jemandem als Heiler gerufen wurde, dann vielleicht noch andere Klienten fand und so am Ort blieb, bis er alle Aufträge erfüllt hatte (ein Hausarzt mit internationalem Wirkungsbereich, gewissermaßen).

Ich las zu dieser Zeit das Buch von Dominique Zahan über die Bambara und war fasziniert von der jahrelangen Ausbildung in den Initiationsgruppen n’domo, komo, nama, kono, tyiwara und korè.81 Ich sprach Coulibaly darauf an. Er war überrascht, dass ich davon wusste.

„Ich habe dir doch nie etwas davon gesagt. Erzählte man dir davon im Dorf?“

Die Möglichkeit, Wissen aus Büchern zu erwerben, zog er nicht in Betracht, und wenn, dann war es ihm immer etwas unheimlich. Verglichen mit den komplexen, detaillierten Schilderungen in der ethnographischen Literatur war seine Auskunft dann jedoch ernüchternd:

„In jenem Jahr war ich der Einzige meiner Altersgruppe; deshalb machten sie es kurz. Es dauerte dreißig Minuten. Im bois sacré wurde ein schwarzes Huhn geopfert. Du hast das Wäldchen gesehen beim Dorf, wir sind daran vorbeigegangen.“

„Aber früher war das etwas Ausführliches, Kompliziertes, wie eine jahrelange Schulbildung, nicht wahr?“

„Ja, die Alten haben mir das auch gesagt. In der Zeit, als es im Dorf noch Löwen und Krokodile gab, und mein Vater aus den Krokodilszähnen starke Medizin herstellte. Aber jetzt ist alles erjagt.“82

Warum muss man bis zu den Dogon reisen, um zu erfahren, wie viele Kinder man hat?

Wir fuhren ins Land der Dogon (oder Kado, wie sie von den Afrikanern genannt werden), wo auch Coulibaly noch nie gewesen war. Mich interessierten die Dogon unter anderem deshalb, weil bei ihnen offenbar kaum ein Hexereiproblem existierte.83

Schon in Mopti hatten wir allerdings die Bekanntschaft eines jungen Dogon-Mannes gemacht, der uns anvertraute, er könne nicht mehr in den Dörfern an den Klippen leben, weil dort zu viel gehext werde. Er hob sein T-Shirt und zeigte uns eine Narbe an seinem Bauch.

„Corté“, sagte er.

In Bandiagara lernten wir den Griot Sekou kennen. Er führte uns durch den Ort und erzählte allerhand Wundersames.

„Hier gibt es einen Zauberer. Er hält eine Kalebasse mit Wasser in der Hand. Dann saugt er an seinem Oberarm das Wasser raus, bis die Kalebasse leer ist. Ein anderer hängt einem Huhn ein Gris-Gris um; dann gibt er dir ein Messer, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Aber du kannst es nicht, die Gurgel ist zu hart.“

Später sagte mir Coulibaly: „Ich bin gegen die magiciens. Sie täuschen die Leute. Unsereins sucht die Wahrheit.“

Im Dorf Kani-Kombolé, unter den Felsklippen, konsultierte Coulibaly einen etwa 45jährigen Marabout, Sekena Togola. Er arbeitete mit „Papieren“, wie Ibrahim Ba. Als mir Coulibaly nachher davon erzählte, war er ganz begeistert:

„Er hat gesehen, dass ich Geister habe, und dass ich mit zwei Frauen verheiratet bin und drei Kinder habe! Es ist unglaublich!“

Plötzlich fragte ich mich, warum man eigentlich zu einem Seher gehen muss, um zu erfahren, was man sowieso schon weiß. Man hat dann die Bestätigung, dass der Seher ein Seher ist, dass es Hellsichtigkeit oder Telepathie gibt. Ist das dermaßen beglückend, dass man Geld ausgibt und weite Reisen auf sich nimmt? Möglicherweise spielt dabei die Lust an Spiegelung und Vermitteltheit eine Rolle. Oft macht es mehr Spaß, etwas als Film oder Foto zu sehen als live und original. Ganz unabhängig vom Inhalt scheint die bloße Tatsache der Wiedergabe etwas (narzisstisch?) Befriedigendes an sich zu haben. Darüber hinaus ist es vielleicht auch so, dass die Festellung, dass es Menschen gibt, die in mein Inneres schauen können, eine Bestätigung von Nähe, Intimität, Verständnis, Einheit verschafft. „Es gibt jemanden, der mich versteht, ohne dass ich viel sagen muss.“ Möglicherweise ist das Gefühl dieser Verbundenheit für Afrikaner sogar noch wichtiger als für Europäer. Aber auch beängstigender. Denn es ist ja dieses selbe unsichtbare Eindringen, das dem Wahrsager, aber auch dem Hexer nachgesagt wird. Und ich nehme an, es handelt sich nicht nur um ein „Nachsagen“, nicht nur um eine Vorstellung, sondern die Afrikaner sind tatsächlich dem andern Menschen ausgesetzter, dem „Nächsten“ (und in Afrika gibt es mehr „Nahe“ und „Nächste“, mehr frères und sœurs als bei uns). Es gibt weniger (innere und äußere) Schutz-, Abgrenzungs- und Fluchtmöglichkeiten. Eine der häufigsten Aussagen von Coulibaly ist: „Il est piégé“ – er ist in der Falle. (Ein in der Elfenbeinküste omnipräsenter Aufkleber auf Mofas offenbart: „J’ai peur de mes amis, même de toi“ – Ich habe Angst vor meinen Freunden, selbst vor dir“).

 

Es ist noch eine andere Erklärung denkbar. In Afrika zeigt sich das Göttliche oder Übersinnliche in der Übertretung von Naturgesetzen (Wunder, Magie, Vorzeichen, Telepathie usw.), während bei uns, zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt in der Geschichte des Christentums, Gott sich gerade in der wunderbaren, unumstößlichen Ordnung der Welt zeigte, und Wissenschaft also dazu dienen konnte, Gottes großartige Werke zu studieren und zu staunen über die universale, harmonische Gesetzhaftigkeit (und nicht über ihre Außerkraftsetzung). Es geht dabei auch um ein Gefühl von Sinn, mithin um einen Lustgewinn (dass das Leben lebenswert, interessant oder sogar faszinierend sei), das sich im einen Fall bei der Regel, im andern bei der Abweichung einstellt. Es ist klar, dass eine solch unterschiedliche Konzeption von Physik und Metaphysik Konsequenzen auf die Entwicklung des rationalen Denkens und besonders der Naturwissenschaft haben muss. Zweifellos war der asketische Protestantismus (im Sinne Webers) der Entwicklung der modernen mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplin förderlich84. Inwieweit die Welt (oder das Leben) objektiv berechen- und voraussehbar ist, bleibe dahingestellt. Möglicherweise überschätzen wir die kalkulierbaren Aspekte, während die Afrikaner das Unberechenbare überschätzen. Bei jemandem wie Coulibaly gewann ich auf jeden Fall den Eindruck, dass er einerseits immer die Bestätigung sucht, dass das Leben nicht planbar ist, dass es von Brüchen, Überraschungen, Geheimnissen und Wundern wimmelt und dass dieser Agnostizismus ihn in seiner (für uns) irrationalen Lebensökonomie bestätigt oder entlastet (es habe zum Beispiel keinen Zweck zu sparen); dass er aber andererseits auf einer metaphysischen Ebene in viel größerem Maße als wir an die Vorhersehbarkeit und Determiniertheit des Geschehens glaubt (Wahrsager, Orakel, Zeichen, Schicksal).

Später teilte mir Coulibaly noch mehr über die Konsultation mit: „Er sagte, die Reise werde gut. Ich muss ein Perlhuhn opfern, dann ein Huhn, egal welcher Farbe, und getragene Kleider, was mir schon Ba gesagt hat. Schließlich ein weißes Tuch und 15 CFA. All das muss ich einem Bettler geben.“

Am Abend vor dem Einschlafen fügte Coulibaly dann noch etwas hinzu. (Man sieht an diesen gestaffelten Mitteilungen auch, wie wenig direkte Befragungen oft hergeben. Alle meine Informanlnnen gaben ihre Informationen sehr situativ, kontext- und beziehungsbedingt; „häppchenweise“. Deshalb ist es übrigens auch angebracht, die Aussagen innerhalb des Kontexts, in dem sie mitgeteilt wurden, wiederzugeben.)

„Je gagne de l’argent, mais ça gâte. Ich verdiene Geld, aber es verdirbt. Er hat gesehen, dass ich einen Geist habe. Es ist eine Frau. Das stimmt. Ich träume immer von einer weißen Frau, die kommt, und mit der ich schlafe. Nachts im Traum sehe ich sie, und auch wenn ich konsultiere.“

Ein paar Tage später fragte ich ihn nochmals nach dem n’domo. Da sagte er auf einmal:

„Ja, ich habe den n’domo auch gemacht! Ein Jahr Vorbereitung, dann ein Jahr Abgeschiedenheit, während der ich von der Familie getrennt wurde. Dort habe ich viel gelernt und gesehen: Medikamente, Geheimnisse, Tänze. Dann gab es ein viertägiges Fest im Heiligen Wald. Jungen und Mädchen wurden getrennt, wie beim poro in Korhogo“ (der Senufo-Initiation).85

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