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Die Abtrünnigen
Der Kampf um die Stimmen der christlich-evangelikalen Wähler
Texas David Kriegleder

»Hallelujah everyone, praise the Lord!« Der texanische Pastor eröffnet den Gottesdienst, der Chor beginnt zu singen, »This little light of mine«, begleitet von rhythmischem Klatschen und Schlagzeug. Kinder tanzen vor dem Altar. In der Scofield Memorial Church am Stadtrand von Dallas haben sich wie jeden Sonntagvormittag mehrere Dutzend Gläubige eingefunden. Die Stimmung ist herzlich, familiär, weltoffen – eine kleine und intime Gemeinde und gerade deswegen für Tess Clarke etwas ganz Besonderes.

»Unsere Familie kommt seit zwei Jahren hierher, um zu beten. Die Liebe zu Jesus und der gemeinsame Gottesdienst mit unseren Mitmenschen, das gibt mir Kraft, um durch die Woche zu kommen.«

Die gebürtige Texanerin ist 36, sie trägt ihr brünettes Haar offen, lächelt viel und zeigt dabei ihre makellos weißen Zähne. Tess strahlt eine aufrichtige Warmherzigkeit aus und spricht mit schwerem texanischem Akzent. »Wir Amerikaner arbeiten so viel und haben dabei kaum Zeit zum Verschnaufen – da sind solche Momente der Gemeinschaft und Kontemplation besonders wichtig.«

Auf der Kirchenbank neben Tess sitzen ihre drei Kinder, der achtjährige Roman, die fünfjährige Hilton und der drei Jahre alte Cruz, den sie als Neugeborenen adoptiert hat. Ebenfalls an ihrer Seite ist ihr Ehemann Jason, der für eine Entwicklungs-NGO arbeitet. Zwischenzeitlich lebten die beiden in China und im Oman, ehe sie zurück nach Texas kamen, wo Tess an der University of Northern Texas ein Soziologiestudium absolvierte.

Tess Clarke bezeichnet sich als tiefreligiöse, evangelikale Anhängerin von Jesus Christus. Die »Evangelicals« sind die größte religiöse Gruppierung in den USA, je nach Definition ist jeder vierte oder sogar jeder dritte Amerikaner Mitglied dieser protestantischen Glaubensrichtung. Ihren zahlreichen Untergruppen gehören Lutheraner, Baptisten, Presbyterianer und verschiedene Freikirchen an. Über 80 Prozent ihrer Mitglieder sind weiß. Die Evangelikalen zählen seit Jahrzehnten zu einer verlässlichen und wichtigen Wählergruppe der Republikanischen Partei.

Die konservative Allianz zwischen »Big Business« und frommen Amerikanern in den ländlichen Regionen – die »moral majority« – brachte Präsident Ronald Reagan 1980 ins Weiße Haus. Und auch im Jahr 2016 waren es die evangelikalen Wähler, die Donald Trump maßgeblich zum Sieg verholfen haben. Und das, obwohl Trumps Privatleben und auch seine Politik in vielen Bereichen so gar nicht den klassischen christlichen Werten entsprechen. Ein Widerspruch, der bei Tess Clarke einen tiefen Reflexionsprozess angestoßen hat, der schließlich zu einem Bruch mit ihren bisherigen politischen Loyalitäten führte.

Die Krux mit der Abtreibung

»Als Donald Trump gewählt wurde, habe ich begonnen, mich neu mit meinem Glauben auseinanderzusetzen und gleichzeitig viele Themen und Standpunkte zu hinterfragen«, erzählt sie. »Ich habe mein ganzes Leben lang die Republikaner gewählt, in erster Linie, weil ich ›pro life‹ bin, also gegen Abtreibung.« In den USA und besonders in Texas habe es stets dieses ungeschriebene Gesetz gegeben, dass jeder, der gegen Abtreibung ist, auch republikanisch wählen muss, sagt Tess. »Das haben uns viele unserer Pastoren schon seit Kindesjahren mit auf den Weg gegeben.« Dieser Umstand habe auch viele Menschen in ihrem Bekanntenkreis bei der vergangenen Wahl beeinflusst. »Fast niemand hier mochte Trump, aber er hat versprochen, konservative Höchstrichter zu ernennen, von denen viele Menschen hoffen, dass sie die Abtreibungsgesetze verschärfen werden.«

Zwei solche Höchstrichter hat Präsident Trump bereits bestellt – Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh. Der neu zusammengesetzte Supreme Court hat bis dato jedoch noch kein Urteil in einem der mit der Abtreibungsdebatte verbundenen Fälle gesprochen.

Der Schutz des ungeborenen Lebens sei ein sehr emotionales Thema für viele Evangelikale, sie verstehe das, sagt Tess Clarke. Doch dann habe sie begonnen, sich intensiver mit dem Thema und all seinen Nuancen zu beschäftigen. »Und je mehr ich recherchiert habe, desto mehr wurde mir klar, dass die Sache viel komplizierter ist, wenn man sie abseits der politischen Kampfrhetorik betrachtet. Ich habe etwa gesehen, dass die Zahl der Abtreibungen in den USA unter demokratischen Präsidenten wie Barack Obama zurückgegangen ist, weil Frauen der Zugang zu Verhütung und Gesundheitsberatung erleichtert wurde. Und weil die Demokraten tendenziell Sozialprogramme und staatliche Leistungen fördern, die es finanziell schlechter gestellten Frauen erleichtern, sich für ein Kind zu entscheiden.«

Sie habe erkannt, dass man sich mit den sozialen Ursachen von Schwangerschaftsabbrüchen auseinandersetzen muss, wenn man die Zahl der Abtreibungen reduzieren wolle. Gesetzliche Verbote, wie sie viele Evangelikale fordern, würden nichts bringen, da Frauen ja dann trotzdem weiter im Stillen, illegal und unter großen medizinischen Risiken abtreiben würden.

»Das heißt, ich bin nach wie vor ›pro life‹, also gegen Abtreibung, aber meine Perspektive, wie wir dieses Ziel erreichen, hat sich geändert«, sagt Tess Clarke. Die amerikanischen Evangelikalen dürften sich vom Thema Abtreibung nicht mehr in republikanische Geiselhaft nehmen lassen, so die Texanerin.

Tess betreibt in Dallas seit vielen Jahren eine NGO, die sich mit den Opfern sexueller Gewalt beschäftigt und junge Frauen stärken will – ihr Projekt nennt sich »Shine for Teen Girls«. Viele der Frauen, mit denen sie arbeitet, kommen aus Lateinamerika – es sind Einwanderer der ersten Generation und Flüchtlinge. Und hier fand Tess schließlich das zweite große Thema, das im Sommer 2018 ihre Entfremdung von der Republikanischen Partei besiegelte.

Ein politischer Befreiungsschlag

Als die Trump-Regierung ihre Asyl- und Grenzschutzpolitik verschärfte, gingen Fotos von in Käfigen eingesperrten und von ihren Eltern getrennten Flüchtlingskindern ums ganze Land. Die Fotos stammen aus offiziellen Flüchtlings- und Schubhaftzentren an der amerikanisch-mexikanischen Grenze – eine Maßnahme, mit der das Weiße Haus weitere Zuwanderer abschrecken wollte.

»Ich dachte mir, oh Gott, das könnten meine Kinder sein, die sind im selben Alter. Es hat mir das Herz gebrochen und ich musste weinen. Ich habe mir gedacht: Das können wir doch nicht zulassen, das ist unchristlich, unamerikanisch und untexanisch«, sagt Tess.

Vieler ihrer texanischen Freundinnen sahen das genauso – es war ein Thema, ein zivilisatorischer Bruch, der Frauen und Mütter in beiden politischen Lagern schockierte. Zum Schluss machte selbst First Lady Melania Trump Druck auf den Präsidenten, der die umstrittene Praktik schließlich wieder zurücknahm. Trotzdem dauerte es Monate, bis viele der inhaftierten Kinder wieder mit ihren Eltern zusammengeführt wurden. »Mir wurde damals klar, dass unser Land seine traditionellen Werte aus dem Fenster geworfen hat«, sagt Tess Clarke, »unsere tief amerikanische Willkommenskultur gegenüber den Fremden, den Einwanderern, den Verfolgten und den Unterdrückten.«

Die Dämonisierung von Einwanderern schockierte Tess: »Die Regierung bezeichnete die Migranten damals demonstrativ als ›Aliens‹, nur um ihnen das Menschliche abzusprechen. In vielen Medien wurden Angst und Hysterie verbreitet, auch in meinem Bekanntenkreis wurden die Menschen von den ganzen Falschinformationen erschlagen.«

Also ergriff die engagierte Texanerin selbst die Initiative. Sie begann Nachbarschaftsreisen zu den Flüchtlingszentren an der Grenze zu organisieren und danach weitere Reisen nach Mexiko, damit sich ihre Freunde und Bekannten ein Bild von der Lage der Menschen dort machen konnten.

»Die Menschen, die wir bei diesen Reisen getroffen haben, waren keine kriminellen Bandenmitglieder – das waren keine Monster, die zu uns kommen wollen, um zu plündern und zu vergewaltigen, wie oft suggeriert wird. Im Gegenteil, diese Menschen aus Mittelamerika fliehen vor genau denselben Gefahren in ihrer Heimat, vor denen wir uns fürchten, wenn wir die Einwanderer bei unseren Grenzübergängen sehen.«

Tess gründete daraufhin eine zweite Non-Profit-Organisation namens »Seek the Peace«, die mit Migranten und Flüchtlingen arbeitet. Die Organisation sammelt und schreibt die Geschichten der Einwanderer nieder, um die Hintergründe ihrer Flucht einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Gleichzeitig veranstaltet Tess dort »Peacemaking«-Workshops, bei denen engagierte Bürger aus Dallas gemeinsam mit den Migranten etwa Duftkerzen und Kosmetikprodukte herstellen und vertreiben, was das Selbstwertgefühl der Migranten stärken soll und gleichzeitig Einkommen und Spenden einbringt. Dieses humanitäre Engagement von Tess Clarke kulminierte schließlich in einen Akt politischer und religiöser Emanzipation. Sie gab gemeinsam mit mehreren Freundinnen der »New York Times« ein viel beachtetes Interview. Darin kündigten die Frauen an, trotz ihres evangelikalen Hintergrundes bei den US-Kongresswahlen im November 2018 für den demokratischen Senatskandidaten Beto O’Rourke stimmen und werben zu wollen. Der jungenhafte Texaner tritt für eine humane Asylpolitik und eine weitreichende Einwanderungsreform ein und begeisterte mit seinem Traum von einem vereinten und bunten Bundesstaat vor allem junge Wähler. Der charismatische O’Rourke unterlag zwar schlussendlich knapp seinem republikanischen Kontrahenten Ted Cruz. Doch seine leidenschaftlich geführte Kampagne zeigte auf, dass sich der seit Jahrzehnten tief republikanische Bundesstaat demografisch verändert hat und künftig von den Demokraten zurückerobert werden könnte. Texas ist mit seinen knapp 30 Millionen Einwohnern und seiner riesigen Wirtschaftsleistung, die jener von Kanada entspricht, bei jeder US-Wahl ein heiß begehrter Preis.

 

Für O’Rourke stimmte auch die Mehrheit der in den Vorstädten lebenden, gebildeten urbanen Frauen wie Tess Clarke. Diese Wählergruppe lief den Republikanern bei den Kongresswahlen 2018 in Scharen davon und ermöglichte den Demokraten die Rückeroberung des US-Repräsentantenhauses. Es ist eine Wählergruppe, die auch 2020 das Zünglein an der Waage spielen könnte.

Für ihr »New York Times«-Interview wurde Tess Clarke vielfach angefeindet und in Sozialen Medien auch als »Ketzerin« beschimpft. »Eine meiner Freundinnen ist im letzten Moment von dem Interview abgesprungen, weil sie ihre Ehe nicht gefährden wollte«, erzählt sie. »Diese Freundin hat buchstäblich davon gesprochen, dass man sie in ihrem Familienkreis kreuzigen und auf den Scheiterhaufen werfen würde, wenn sie sich öffentlich für einen demokratischen Kandidaten ausspricht.«

»Ja, das war ein sehr mutiger Schritt, den diese Frauen gesetzt haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das hier in Texas Wellen geschlagen hat«, erzählt uns ein Kirchgänger aus Tess Clarkes Gemeinde beim Pfarrkaffee.

Gottes Werk und Trumps Beitrag

Seither macht sie einen noch größeren Bogen um die konservativevangelikalen Megakirchen des Bundesstaates. Diese gigantischen Gebetstempel ragen neben mehrspurigen Autobahnen in den Himmel und ähneln dabei Sportstadien. Ihre riesigen Plakatwände werben um die Seelen der Vorbeireisenden.

»Jesus ist die Antwort«, steht auf einem.

»Armageddon steht bevor – bist du bereit?«, warnt ein weiteres.

»Amerika ist eine christliche Nation und Trump ist unser Retter«, liest man auf einem anderen.

Eine der bekanntesten evangelikalen Megakirchen der Stadt ist die First Baptist Church im Zentrum von Dallas. Ein riesiger Glasbau, dessen Vorderseite ein opulenter Springbrunnen ziert. Das Kirchengebäude wurde in den vergangenen Jahren zu einem großen Campus und Veranstaltungszentrum ausgebaut. An zahlungskräftigen Spendern und Förderern fehlt es dieser Gemeinde ganz offensichtlich nicht. Die sonntäglichen Messen sind richtige Events und locken mehrere Tausend Besucher an.

Wir wollen für unsere ORF-Reportage ein Bild vom Inneren dieser Megakirche machen, doch eine offizielle Drehgenehmigung haben wir nicht erhalten. Also geben wir uns beim Eingang als neugierige Touristen aus Österreich aus. Man bittet uns freundlich herein – der Möglichkeit, zwei Katholiken zu bekehren, können die Empfangsdamen offenbar nicht widerstehen. Handyaufnahmen werden explizit erlaubt, man reicht uns Broschüren und führt uns in die große Gebetshalle. Diese gleicht einem Konzertsaal, inklusive mehrerer Kinoleinwände und einer Hightech-Soundanlage. Das Publikum ist gemischt und tendenziell etwas älter. Geleitet wird die First Baptist Church vom bekannten Prediger Robert Jeffress. Er ist ein glühender Trump-Anhänger und für seine regelmäßigen Auftritte beim konservativen TV-Sender Fox News bekannt. An diesem Tag empfängt er eine Kampfpilotin auf der Bühne. Die Frau erzählt von ihrer Begegnung mit Gott, als sie sich bei einem verunglückten Trainingsflug per Schleudersitz und Fallschirm retten musste.

Warum haben über 80 Prozent der evangelikalen Wähler 2016 Präsident Trump ihre Stimme gegeben? Diese Frage beschäftigt Journalisten und Akademiker des Landes. Neben Trumps ablehnender Haltung gegenüber Abtreibung und seinen Höchstrichter-Bestellungen wird auch immer wieder seine beispiellos pro-israelische Politik im Nahostkonflikt genannt, die viele US-Christen gutheißen. Trump und die Evangelikalen – eine politische Zweckehe, so ließe sich dieser Erklärungsansatz zusammenfassen.

In diese Bresche schlägt auch Autor Ben Howe, der in seinem Buch »The Immoral Majority: Why Evangelicals Chose Political Power over Christian Values« das Bild einer von tief verwurzelter Bigotterie getriebenen Bewegung zeichnet, die sich von der fortschreitenden Säkularisierung in den USA bedroht fühlt. Er beschreibt eine zunehmend radikalisierte Glaubensgemeinschaft, die, gekränkt von zahlreichen juristischen Niederlagen im amerikanischen Kulturkampf – zu Abtreibung und Homo-Ehe –, einen Rachefeldzug gegen die liberalen Bewohner der Küstenstädte gestartet hat und Trump dafür als Vehikel nutzt.

Der Investigativjournalist und ehemalige »New York Times«-Korrespondent Chris Hedges geht noch einen Schritt weiter. Er warnte in seinem Buch »American Fascists – The Christian Right and the War on America« bereits vor über zehn Jahren vor dem Aufstieg von religiösem Extremismus und christlichem Fundamentalismus in den USA. Für seine Recherche tauchte Hedges damals tief in die Welt radikalisierter evangelikaler Gemeinden ein, denen er klerikal-faschistische Züge und religiöse Allmachtsfantasien attestiert. Etliche dieser Gruppen würden die in der US-Verfassung verankerte Trennung von Staat und Religion durch politisches Engagement zu Fall bringen wollen, schreibt Hedges. Sie würden dazu die Sprache und die Ikonographie des Religiösen mit der Sprache und der Symbolik des Nationalismus verbinden – eine giftige und gefährliche Mischung, die ihn stark an die Dynamik vor dem Zerfall Ex-Jugoslawiens erinnere.

Pastoren auf Tournee

Doch die politische Radikalisierung des evangelikalen Lagers hat auch Gegenreaktionen ausgelöst, nicht nur bei Tess Clarke. Eine wachsende Bewegung innerhalb der evangelikalen Kirchen, die sich »Emerging Church« nennt, will ihren Glauben nutzen, um sozialliberale Ideale zu verbreiten und damit die evangelikale Botschaft an die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts anzupassen. Einer ihrer Vertreter ist der charismatische Pastor und Aktivist Doug Pagitt aus Minnesota. Er hat die Aktion »Vote Common Good« – also »Wähle das Gemeinwohl« – ins Leben gerufen. Gemeinsam mit sieben weiteren evangelikalen Pastoren tourte er im Herbst 2018 einen ganzen Monat lang mit dem Bus durch die USA. 31 Städte in 31 Tagen, Tausende Kilometer und eine Mission: religiöse Wähler wachzurütteln und zur Wahl demokratischer Oppositionskandidaten zu bewegen.

Wir treffen die Gruppe an einer Raststation südlich von Austin, Texas, ihr Konvoi besteht aus drei Bussen – Dutzende Freiwillige haben sich der Tour angeschlossen. »Die Republikaner haben vielen religiösen Würdenträgern und Wählern eingeredet, dass sie lieber Donald Trump als den Lehren von Jesus folgen sollen. Das hat zu einer tiefen Glaubenskrise geführt. Trump ist eine Gefahr für das Land und die Welt und er muss gestoppt werden«, sagt Initiator Doug Pagitt. Die Gruppe ist auf dem Weg nach San Antonio, um dort eine ihrer vielen Messen und Informationsabende zu veranstalten. Das Innere des Pastoren-Busses strahlt »Rock’n’Roll«-Tourneefeeling aus. Roadies schlafen auf einem Matratzenlager. Gitarrenkoffer und Energydrinks kugeln herum. Die Reisenden singen »This land is your land, this land is my land«, ein afroamerikanischer Pastor begleitet sie auf dem Keyboard mit bluesiger Stimme. Die flache Landschaft des Bundesstaates zieht an uns vorbei. Die Wege des Herrn sind unergründlich und im Falle von Texas manchmal sehr weit.

Mit an Bord ist auch die evangelikale Buchautorin Christy Berghoef. Sie sagt, das Wichtigste an der Tournee sei es, evangelikale Frauen aus dem ideologischen Zwinger ihrer Ehemänner und ihrer konservativen Pastoren zu befreien. »Diese Frauen fürchten soziale Isolation, wenn sie sich kritisch gegenüber Trump oder den Republikanern äußern, und gerade in ländlichen Regionen kann so ein Schritt zu sozialer Ausgrenzung führen. Daher ist es so schön, wenn wir erleben, wie sich Frauen auf unseren Veranstaltungen begegnen, die aus denselben Gemeinden stammen und voneinander gar nicht wussten, dass sie Gleichgesinnte sind«, sagt Berghoef. Die »Vote Common Good«-Initiative will sich auch vor der Präsidentschaftswahl 2020 wieder auf landesweite Tournee begeben, wenn es die Corona-Situation zulässt. Denn es geht um jede Stimme.

Trumps Kampf um evangelikale Wähler

Das weiß auch Donald Trump, der seit Monaten wieder verstärkt um evangelikale Stimmen buhlt, die seine Wiederwahl sichern sollen. Dafür bezeichnet er sich auch gerne als »The Chosen One« – der Auserwählte. Ende Jänner 2020 tritt der Präsident beim »March for Life« auf, der größten Anti-Abtreibungs-Kundgebung in der Hauptstadt Washington. Es ist das erste Mal in der 47-jährigen Geschichte dieser alljährlichen Veranstaltung, dass ein Präsident daran teilnimmt. Die evangelikale Anti-Abtreibungs-Lobby schließt Trump dafür nicht nur in ihre Gebete ein – es folgt auch irdischer Dank in Form einer 52-Millionen-Dollar-Wahlkampfspende an die Republikaner. Unterstützung erhält Trump in Fragen der religiösen Kommunikation auch von Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Mike Pompeo, beide sind evangelikale Christen. Um den Kontakt mit religiösen Wählern zu pflegen, hat das Weiße Haus sogar ein eigenes Büro für Glaubensfragen eingerichtet. Geleitet wird es seit Jahresbeginn von der evangelikalen Fernsehpredigerin Paula White, einer beinahe fanatischen Anhängerin des Präsidenten, die klargestellt hat: »Wer Nein zu Trump sagt, sagt Nein zu Gott.«

Um den zum dritten Mal verheirateten Trump, der mutmaßlich auch Schweigegeld an eine Pornodarstellerin gezahlt hat, zu einem christlichen Retter hochzustilisieren, greifen seine evangelikalen Anhänger zu immer bizarreren Verrenkungen. Zuletzt wurde der US-Präsident von ihnen immer wieder mit dem Perserkönig Kyros verglichen, der gemäß dem Alten Testament die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft befreit hat – ein makelbehafteter Sünder, der trotz oder gerade wegen seiner Schwächen als Gottes Werkzeug diene, um dessen irdische Pläne zu vollenden. Und damit auch apokalyptische Prophezeiungen erfülle: »Ich halte Trump für den Antichristen und wähle ihn genau deswegen, damit der Tag des Jüngsten Gerichts eingeleitet wird«, erklärt uns ein Trump-Anhänger unverblümt auf einer Wahlkampfveranstaltung.

Trumps Kampf um die evangelikalen Stimmen setzte sich auch während des Lockdowns in der Corona-Krise fort. Er drängte die Gouverneure des Landes wiederholt zum raschen Wiederaufsperren der geschlossenen Kirchen: Wenn Alkoholläden und Abtreibungskliniken als »systemrelevant« eingestuft würden, müsse das für Kirchen umso mehr gelten, klagte der Präsident.

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte Trumps aggressives Werben um christliche Wähler Anfang Juni: Der Präsident ließ Demonstranten, die friedlich am Lafayette-Square hinter dem Weißen Haus gegen Polizeigewalt und Rassismus demonstriert hatten, brutal mit Tränengas und Schlagstöcken vertreiben. Wenige Minuten später spazierte er über den leergefegten Platz zur angrenzenden St. John’s Episcopal Church, wo er sich mit einer Bibel in der Hand fotografieren ließ, als starker Mann von Gottes Gnaden. Der brachiale PR-Stunt sorgte in vielen Kreisen für Entsetzen. Zahlreiche afroamerikanische Baptisten-Pastoren aus der Hauptstadt verurteilten die Aktion scharf – sie hielten in den Folgewochen mehrere Protestmessen vor der Kirche ab.

»Es hat uns angewidert, dass der Präsident die Bibel für sein politisches Fotoshooting missbraucht hat«, sagte Pastor Keith Byrd von der Zion Baptist Church im ORF-Interview. »Er hat ein Buch hochgehalten, dessen Inhalt er nicht kennt, da hätte er genauso gut das Telefonbuch in Kamera halten können! Würde Trump die Bibel auch lesen, dann würde er Mitgefühl zeigen mit all den schwarzen Familien, die Kinder verloren haben.«

»In der Bibel steht, Gott ist auf der Seite der Unterdrückten«, rief ein weiterer afroamerikanischer Pastor zu den versammelten Gläubigen. »Ich warne Sie, Mr. President, Ihre Hände sind viel zu klein, um gegen Gott in den Ring zu steigen! Wir werden dafür sorgen, dass Sie abgewählt werden.«

Es ist eine Kampfansage, die ein weiteres interessantes Charakteristikum der US-Christen verdeutlicht: die enorme Kluft zwischen weißen Christen und nicht-weißen Gläubigen. Seit den 1980er Jahren haben weiße christliche Wähler, egal ob Protestanten oder Katholiken, immer mehrheitlich die Republikaner gewählt, während nicht-weiße Christen für die Demokraten gestimmt haben. Das heißt, diese Gruppen eint zwar die gemeinsame religiöse Identität und Praxis, aber politisch stehen sie einander diametral gegenüber, organisiert je nach Hautfarbe.

 

Und hier nun liege der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der Verbundenheit zwischen Trump und den Evangelikalen, sagt Robert Jones, der Leiter des auf religiöse Gruppen fokussierten Meinungsforschungsinstituts PRRI: »Die weißen Evangelikalen haben eine historisch tief verwurzelte, problematische Tradition, strukturellen Rassismus zu ignorieren oder sogar zu fördern. Sie waren einer der größten Unterstützer der Sklaverei und danach der Diskriminierungs- und Rassentrennungsgesetze. Und jetzt, wo sich die US-Bevölkerungsstruktur zunehmend ändert, weniger weiß und weniger christlich wird, sind sie in Panik geraten. Und da holt Trump sie ab, indem er verspricht, die Uhr zurückzudrehen – »Make America Great Again« –, zurück zur weißen Dominanz. Und in diesem Kontext müssen wir auch seinen konfrontativen Umgang mit den Antirassismus-Protesten sehen.«

Doch mit seiner religiös kodierten »Law and Order«-Haltung ist Donald Trump möglicherweise über das Ziel hinausgeschossen. Selbst traditionelle Verbündete des Präsidenten wie der ultrakonservative und einflussreiche Fernsehprediger Pat Robertson verurteilten das harte Vorgehen gegen Demonstranten: »So etwas tut man nicht, Mr. President, das ist nicht cool«, sagte der 90-Jährige.

Der Bruch innerhalb des evangelikalen Lagers war schon davor immer offener zutage getreten. Im Dezember 2019 rief ausgerechnet das einflussreiche evangelikale Magazin »Christianity Today« dazu auf, Trump des Amtes zu entheben – dessen »tief amoralisches Verhalten« in der Ukraine-Affäre lasse keine andere Konsequenz zu. Trumps religiöse Verteidiger attackierten das Magazin daraufhin öffentlich. »Christianity Today« verlor 2000 Abonnenten, bekam aber auch 5000 neue dazu. Gleichzeitig gründete eine Gruppe von Trump-kritischen Republikanern das sogenannte »Lincoln Project« – eine Plattform, die evangelikale Wähler in Online-Videos vor dem falschen Propheten im Weißen Haus warnt. Eine Umfrage des »Public Religion Research Institute« stellte im Juni 2020 fest, dass der Zuspruch für Trump unter weißen evangelikalen Wählern zwischen März und Juni von 77 auf 62 Prozent geschrumpft ist.

Noch dramatischer war der Umfrage-Umschwung bei weißen Katholiken: Bei ihnen brach die Zustimmung für den Präsidenten im selben Zeitraum von 60 auf 37 Prozent ein. Diese Entwicklung sollte dem Wahlkampfteam Trumps Sorgen bereiten, sagt Meinungsforscher Robert Jones. Denn die US-Wahl werde wohl erneut in einigen wenigen umkämpften Bundesstaaten des Mittleren Westens entschieden und dort sei der Anteil der weißen Katholiken an der Bevölkerung mit bis zu 20 Prozent besonders hoch.

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