Hautmalerei

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der Nazi kannte mich. Ich kannte ihn. Laute Diskussionen mit Aret riefen mich auf den Plan. Ich unterbrach eine Session, zog den Vorhang ruppig zur Seite und brüllte nach vorn, was das Affentheater soll. Der Nazi bestand darauf, dass ich ihm einen Spruch von Schlüsselbein zu Schlüsselbein einfräse: Meine Ehre heißt Treue. Ein Wahlspruch der Waffen-SS im Dritten Reich. Nicht zu vereinbaren mit meiner Kunst, meiner Überzeugung, meinem Verständnis von Menschlichkeit, auch wenn ich die Menschen nicht mag. Ich hasse nicht nur Nazis, ich hasse die meisten Menschen. Ich lehnte ab und komplimentierte ihn hinaus. Statt zu gehen wedelte er mit einem Stück Papier, einem Geschenkgutschein, den ihm seine Kameraden überreicht hätten. Ich wusste, dass diese Aktion eines Tages nach hinten losgehen würde, aber Aret war von der PR-Sache mit den Gutscheinen überzeugt. Als ob ich nicht genug Kunden hätte. Aret meinte, dass wir unseren Bekanntheitsgrad und die Akzeptanz steigern könnten, aber ich wusste, dass sie insgeheim mitschneiden wollte. Ständig schaut sie mir über die Schulter. Ich bin mir sicher, dass sie heimlich übt. Sie denkt, sie könnte einen zweiten Arbeitsplatz neben meiner Folterbank einrichten und dann ihren Stil verbreiten. Doch ich brauche sie vorn an der Theke, auch als Schutzschild, nicht zu meinem Schutz, sondern zum Schutz der Anderen.

Jedenfalls war mein Jagdfieber geweckt. Ich zerriss den Gutschein, plusterte mich auf, um die zwei Meter auf Zehenspitzen zu erreichen, und näherte mich dem renitenten Rechten. Man sah ihm die idiotische Ideologie kaum an. Die Kleidung verdeckte alles, auch wenn er stets langarm tragen musste. Ich sah es in seinen Augen aufblitzen. Er wollte einen kurzen Moment rebellieren, doch dann schien er sich einzugestehen, dass aus unserer Beziehung kein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis werden konnte. Mir und Aret einen giftigen Blick zuwerfend verließ er das Studio. Als der Gestank von Verblendung verzogen war, hob ich den zerstückelten Gutschein auf und prägte mir seinen Namen ein. Ein paar Abende und Nächte später hatte ich genug über ihn in Erfahrung gebracht, damit ich mein neuestes Projekt in Angriff nehmen konnte.

Richard Wagner hieß der Böse. Ein unbedeutender Hedgefonds-Manager. Er vermehrte das Vermögen der Reichen, verwehrte es den Armen und zwackte sich einen guten Prozentsatz ab – zwei Prozent Verwaltungsgebühr und 20 Prozent Gewinnbeteiligung. Eines von vielen Rädchen im Unternehmen. Er war unauffällig, arbeitseifrig und höflich, wie man es von Serienkillern und Amokläufern immer hört. In seiner Freizeit war er Vorsitzender einer unscheinbaren Kameradschaft, die deutschem Bier und Allmachtfantasien in einem kleinen Schrebergarten frönte. Freitags traf man sich, um dem Alltag aus Arbeit, Ehefrau und Kindern zu entkommen. Dann wurde in der Dämmerung die Reichskriegsflagge gehisst. Nebenan liegen Parzellen mit kroatischen und italienischen Flaggen, aber niemanden störte der kriegstreiberische Nationalismus. Das Dutzend Springerstiefel grölte rechte Parolen, marschierte um das Lagerfeuer und salutierte militärisch – Rumpelstilzchen für Despoten. Im Hintergrund liefen altdeutsche Schmonzetten auf Schallplatte, die ruhmreiche Soldatenhelden und rechtsradikales Gedankengut priesen. Im Schutz von Eichenstämmen und Stachelbeersträuchern gaben sich die Mannen dem Rassismus hin, den sie im Alltag unterdrückten. Ich sah mir dieses Schauspiel ein paar Mal an. Bald wurde es zu einem Ritus, freitags hinaus in die Gärten zu schleichen und den Biergestank herunterzuwürgen, der aus den heiseren, eisernen Kehlen strömte.

Dem Wagner folgte ich nach Hause, wo er Frau und Kind autokratisch beherrschte. Alkoholisiert war dieser Mensch nicht zu ertragen, weshalb sich seine Frau mit dem Sohn im Kinderzimmer einschloss. Sie tat so, als würde sie schlafen, wenn er gegen die Tür pochte. Der Kleine wachte zum Glück nicht auf. Weil sich Wagner bereits mit den Kameraden ausgetobt hatte, fehlte ihm die Kraft Dummheiten anzustellen. Er legte sich stinkend ins Bett. Die Erdgeschosslage der wichtigen Räumlichkeiten ermöglichte mir eine ausgiebige Erkundungstour. Wahrscheinlich zog Wagners Frau die Rollläden nicht komplett zu, damit sie im Notfall gesehen und gehört würde. Ein schönes Haus. Ich imaginierte wie ich darin leben würde. Kind und Frau würde ich adoptieren, wenn das zum Gesamtpaket gehört.

Ich verfolgte das Familienleben auch, als Wagner nüchtern den Patriarchen gab. Er schrie seine Frau weder an noch schlug er sie, aber diese subtile Spannung, dieses Machtgefälle, das er jeden Tag ausreizte, belastete die Ehe. Ich belächelte die gestellten Fotos an den Wänden. Hochzeit. Urlaub. Ausflüge. Derart im Übermaß, dass man erschlagen wurde, wenn man das von außen gut situiert wirkende Haus betrat. Jeder sollte sehen, wie harmonisch die Familie Wagner ihrem Dasein fristete. Ich muss gestehen, dass ich die Frau auch einmal halbnackt erwischt hatte. Sie kam aus der Dusche. Ihr Bademantel fiel günstig und legte eine Tätowierung frei. Ihre Scham interessierte mich nicht, aber die Zahl am Oberschenkel krallte sich meinen Fokus: 444 – DdD im Alphabet, Deutschland den Deutschen. Schlecht gestochen und längst verblasst. Wahrscheinlich ein jugendlicher Vorstoß in ihrer Sturm-und-Drang-Phase, wo sie im Milieu ihrem Zukünftigen über den Weg gelaufen war. 666 würde ich daraus machen wollen – die Zahl des Antichristen. Ich haderte kurz mit dem Gedanken, wie ich sie mir schnappe, sie entführe, verschönere und wie ein ungeliebtes Haustier aussetze, konzentrierte mich dann aber wieder auf die zerrüttete Ehe und den verkappten Ehemann, den ich durch mich ersetzen könnte.

Mein Sinn für Rechtschaffenheit hatte genug gesehen. Früher mordete ich schon für sehr viel weniger. Ich wollte die Familie vom Scheusal erlösen. Erbe und Witwenrente würden für ein anständiges Leben genügen. Liebe existierte nur zwischen Mutter und Sohn. Theoretisch hatte schon sein Abgang aus dem Studio gereicht, als er sich eine Zigarette anzündete, nachdem ich ihn hinauskomplimentiert hatte. Zuerst zog der Dunst in den Laden und dann warf er den Stummel achtlos auf den Boden, demonstrativ könnte man meinen, und ließ diesen ausglühen. Mit aufheulendem Motor und durchdrehenden Reifen war er vom Parkplatz gerauscht. Den Kies, den er dabei aufgewirbelt hatte, hat das Firmenfahrzeug abbekommen. Steinschläge im Frontbereich. Manche schlucken das herunter. Andere erstatten Anzeige. Ich richte.

»Guten Morgen!«

Aret reißt mich aus den Gedanken.

Mit ihr kommt die Sonne ins Geschäft. Egal wie hart ihre Nacht war, oder wie beschissen die Männer, die sie benutzten, belogen und betrogen, sie lächelt stets, wenn sie durch die Glastür kommt. Andere Menschen würden dieses Lächeln nicht deuten können, würden von einem mulmigen Gefühl befallen werden, weil Aret mit ihren ausrasierten Kopfseiten, dem Metall im Gesicht und dem auffälligen Kobra-Tattoo, das vom Hals bis ins flachbrüstige Dekolletee reicht, eher abschreckend als vertrauenserweckend wirkt. Harte Schale, weicher Kern, gebrochene Seele.

»Wie geht´s, Chefchen?«

Ich hasse diesen Ausdruck, aber ich kann ihr nicht böse sein. Ich mache ihr Platz und bringe ihr einen Pott Kaffee, während sie die Unterlagen des Tages durchblättert.

»Wie war die Nacht?«

Ihre Standardfloskeln für den Gesprächseinstieg kommen mir schon so vertraut vor, dass ich sie unbeantwortet im Raum stehen lasse. Sie meint es ohnehin rhetorisch. Denn sie weiß, wie es mir geht und sie weiß, wie meine Nächte sind – dunkel und einsam, gleich meinem Innersten.

Ich nicke, als sie mir die anstehenden Termine nennt, die ich mir bereits angeschaut hatte. Dann prüft sie den Getränkevorrat und das Polster an Schokoriegeln, checkt die E-Mails, die Social-Media-Accounts, schaltet das Studiotelefon an und testet den Drucker. So ein fleißiges Bienchen. Selbst meinen Arbeitsbereich nimmt sie unter die Lupe, inklusive des geheimen Kokain- und Morphiumlagers unter meinem runden Drehhocker. Währenddessen beobachte ich sie, ihre enganliegende Kleidung, die Begierde weckt, und ihren sehnigen Körper. Ihre knappen Shirts zeigen viel Haut und lassen erahnen, was darunter liegt. Dazu trägt sie meistens Pants und Overknee-Strümpfe. Sie kann es sich leisten. Anerkennend mustere ich sie jeden Morgen. Ich kann nicht glauben, dass es Männer gibt, die so eine hübsche Frau belügen und betrügen. Wäre ich nicht ihr Chefchen und wäre ich nicht zu Höherem berufen, würde ich mit Blumen und Kerzenschein um sie werben. Im Status quo erfreue ich mich einfach an ihrer Schönheit, die ebenso männliche wie weibliche Klientel anspricht. Platt gesprochen, ein gutes Aushängeschild für Tintenschmerz.

Wir trinken zusammen Kaffee. Dabei beantwortet sie Anfragen und Kommentare, veröffentlicht ein paar Schnappschüsse meiner Arbeiten und prüft die Finanzen.

Dann tritt der maritime Debütant ein. Ein Hänfling mit Brille und Vogelnest auf dem Kopf. Ein Student, vermute ich, irgendwas Naturwissenschaftliches. Der Strickpullover von der Oma ist so obsolet, dass er bald wieder modern wird.

»Hallo«, sagt der junge Mann zurückhaltend, sichtlich eingeschüchtert von der zierlichen Frau, die viel Haut präsentiert, und mir, dem gruselig Tätowierten, der ihn mit durchweg schwarzen Augen löchert. »Ich habe einen Termin.«

Wortlos gehe ich nach hinten, um alles vorzubereiten. Ich höre wie Aret den Burschen begrüßt und mit dem Rechtlichen vertraut macht. Danach folgen Unterschriften und unsicheres Räuspern des Gastes. Der Kronkorken eines koffeinhaltigen Erfrischungsgetränkes zieht ein Zischen nach sich. Aret versorgt den Klapperstorch mit einem ersten Schuss. Ein Zeichen für mich. Vorsorglich fülle ich eine Spritze mit flüssigem Kokain. Bevor der mutmaßliche Student nach hinten kommt, spanne ich einen Mundschutz um und schlüpfe in schwarze Latexhandschuhe, die ich auf meine Haut klatschen lasse. Aret versteht den Wink und fragt nach einer etwaigen Latexallergie. Der Kunde verneint und wird von ihr zu mir geführt. Die Rückfallbox mit den latexfreien Nitrilhandschuhen bleibt unangetastet.

 

Sie hat sich bei ihm eingefädelt, was ihn noch nervöser macht. Auch sie mag das kompromittierende Spiel mit den Gefühlen der Menschen.

»Eine Wette«, erklärt sie mir an seiner statt. »Es ist sein Erstes.«

Der Mundschutz verbirgt meine schmalen Lippen. Die Aussicht auf einen vor Schmerz kreischenden Jüngling verdirbt mir die Stimmung. So wie er sich verhält, wird er den ganzen Häuserblock zusammenschreien. Ich greife unter meinen Sitz und umschließe das Morphium. Eine zweite Spritze muss her.

Während Aret den Kunden auf der Holzbank so fixiert, dass er den auserkorenen Arm nicht mehr bewegen kann, bereite ich die zweite Spritze vor. Als er mit entblößtem Oberkörper halb aufrecht auf der unnachgiebigen Holzbank sitzt und mich mit furchtsamen Augen anschaut, ramme ich ihm das Kokain der ersten Spritze in den Brustmuskel.

»Was ist das?«, will er aufgeregt wissen.

Ich blicke zu Aret. Eine Aufforderung.

Sie tätschelt ihn. »Eine Betäubung. Und wenn die Schmerzen zu groß werden, bekommst du noch eine.«

Sein Zittern legt sich. Er entspannt sich und lächelt sogar, wenn auch fremdbestimmt durch die Droge.

Ich nicke Aret zu. Sie geht nach vorn, den Vorhang hinter sich schließend. Folgend schmiere ich eine Salbe auf den Arm, den ich beschneiden werde. Ein gebräuchliches Lokalanästhetikum. Die fensterlose Nische wird lediglich durch die Deckenstrahler erhellt. Das Tageslicht schirmt der Vorhang ab, auch wenn an den Rändern leichter Schimmer zu sehen ist.

»Welches Motiv?«, stammelt er benommen. Das Kokain entfaltet seine ganze Wirkung. Der Spargeltarzan rutscht in eine Art Wachkoma.

Ich beginne. Die ersten Schnitte setze ich flach an, damit ich sehe wie seine Haut beschaffen ist. Schon kommt mir das erste Blut entgegen, das ich mit dem Tupfer aufsauge. Das gewählte Mosaikseepferdchen hat viele gerade Kanten, weshalb ich zügig vorankomme. Unter mir häuft sich ein Berg aus vollgesogenen Tupfern an. Als ich merke, wie der Mann wegknickt, verpasse ich ihm eine saftige Ohrfeige. Er schüttelt sich und ist wieder beisammen, wenn auch eingeschränkt und zugedröhnt. Ich beeile mich. Eine zweite Dosis Kokain könnte heftigere Auswirkungen haben, bei diesem jungfräulichen Hänfling. Nachdem ich alle erforderlichen Schnitte getätigt habe, packe ich eine Kompresse darauf und studiere den Kunden, der schläfrig und glückselig zum Vorhang starrt. Die seitlichen Sonnenschimmer scheinen ihm zu gefallen. Wahrscheinlich denkt er, dass er im Himmel sei. Ohne das Morphium wage ich mich an die Desinfektion, die wahnsinnig brennt, aber gleichzeitig auch die Gerinnung fördert, sofern er an keiner Gerinnungsstörung leidet – ein Punkt, den das Vorgespräch und das Infoblatt thematisieren, und hoffentlich ausschließen. Ich nehme die blutige Kompresse ab und schütte das Propanol über den Oberarm. Der Mann zuckt, bleibt aber ruhig. Sein Arm ist sowieso fest fixiert. Im nächsten Schritt reibe ich die grauschwarze Mischung aus Asche und Schießpulver ein. Je nach Stelle mehr oder weniger, um Schattierung und Form zu schaffen. Einige Häufchen werden von den Wunden aufgenommen, andere fallen nach unten – der normale Ausschuss. Um einer Sepsis vorzubeugen beaufschlage ich die Furchen erneut mit Propanol. Dabei werden zwar weitere Pulverreste ausgewaschen, aber in verschwindend geringer Anzahl, denn die Haut hat sich den Großteil schon einverleibt. Später bekommt er noch ein Breitbandantibiotikum rektal von Aret eingeführt. Den meisten Kunden gefällt die kleine Prostataeinlage. Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen mit Kokain oder Morphium wurden mir noch nicht mitgeteilt. Bisher hat es jeder überlebt. Die Anzahl der Wiederholungstäter spricht für sich.

Mundschutz und Handschuhe landen im Abfalleimer auf den gebrauchten Handschuhen der letzten Nacht, genauso wie die vollgesogenen Tupfer und Kompressen. Das Skalpell lege ich in eine separate Metallschachtel, um es später zu reinigen. Ich betrachte den geschwollenen, fleckigen Arm, lockere die Bebänderung, weil sich das Blut staut. Das Seepferdchen ist mir gelungen. Abstrakt und martialisch, aber einzigartig und faszinierend. Der Blutfluss ebbt ab. An den Wundrändern bildet sich Schorf. Die Hautkrater verschließen sich schon bald wieder. Die Bohnenstange hat den Eingriff überstanden, wenn auch flach atmend, mit glasigem Blick und Schweiß auf der Stirn.

Aret kommt. Sie hatte mein Aufräumen mitbekommen. Ihre zarten Hände schlüpfen in schwarze Latexhandschuhe, Größe XS, und holen angekündigtes Zäpfchen aus dem Schrank. Ihr Lächeln sagt alles. Sie freut sich auf ihr Mitwirken. Wir drehen den Mann in Seitenlage. Ich halte ihn fest. Aret legt den Po frei. Das Zäpfchen erhält Gleitgel. Sie zieht die schlaffen Pobacken auseinander, visiert das Loch an und schiebt das Antibiotikum hinein. Ein kurzes Stöhnen bestätigt, dass der Schüchterne wieder etwas spürt. Die Betäubung lässt nach.

Wir lassen ihn noch eine Weile liegen, seinen Rausch auskurieren. Aret hat immer ein Auge auf ihn. Ich gönne mir ein stilles Wasser. Für den Rest ist sie zuständig. Foto, Folienverband, Belehrung, Gesundheitshinweise, Verhaltenstipps. Beglückwünschen, abkassieren, anlächeln, heimschicken.

Xander & Ysop

Jasmin Xander fuhr zur Arbeit. Wie jeden Morgen. Und wie jeden Morgen wälzte sie sich durch den stockenden Pendlerverkehr. Hunderte vor ihr, hinter ihr, neben ihr. Das Radio dudelte immer dieselben Lieder herunter, die Witze dazwischen wurden stetig schlechter und die Wettervorhersage stimmte sowieso nicht. Ihr Thermobecher mit dem selbstgemachten Kaffee von zuhause stand in der Halterung zwischen Armaturenbrett und Armlehne. Sie gönnte sich alle paar Meter einen Schluck. Bis zum Polizeipräsidium würde er leer sein.

Das Pistolenholster lag im Beifahrerfußraum; die Pistole im Handschuhfach. Nicht dass jemand auf dumme Gedanken kam. Neben dem Holster befand sich ein Blaulicht mit Magnetfuß – von der füßigen Klimaanlage angepustet. Das Kabel steckte im Zigarettenanzünder. Daneben war ein digitales Funkgerät eingebaut, gekoppelt mit der Freisprecheinrichtung. Sie hatte den Frequenzempfänger ausgeschaltet. Für dringende Fälle hatte sie ihr Dienstmobiltelefon dabei, ebenfalls gekoppelt mit der Freisprecheinrichtung.

Sie spielte mit ihrem Ehering, drehte ihn mit dem Daumen um den Finger. Die eingearbeiteten Steine glitzerten im Sonnenlicht, doch der Glanz der Fassung war längst ermattet. Sie fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Überstürzt geheiratet, weil sie schwanger war. Zehn Jahre waren seitdem vergangen. Mitten im Studium gab es diesen Moment der Unachtsamkeit. Ein Streit auf einer Party. Eifersüchteleien. Zur Versöhnung landeten sie im Bett. Harter, unerbittlicher, unsittlicher Sex, wie sie ihn noch nie vollzogen hatten. Beide ließen ihrer Wut freien Lauf – bis die Ladung mit Wucht ins Schwarze traf. Der Alkohol vernebelte. Erst am nächsten Morgen starrten sich beide an, als wüssten sie, dass sie ein Kind gezeugt hatten. Vier Wochen später kam die Gewissheit, neun Monate später ihr Sohn. Den kriminalistischen Verwaltungsfachwirt konnte sie noch abschließen, aber die Abschnitte bei der Bereitschaft, der Streife und der Kriminalistik wurden ihr untersagt. Sie schwebte im Vakuum, bis der Mutterschutz nach acht Wochen ablief. Zur Wiedereingliederung durfte sie in den Innendienst: Aktenablage, Beweismittelsicherung, Berichtswesen. Als die erfolgreiche Rückbildung ärztlich attestiert wurde und ihr Baby nachweislich eine Tagesmutter hatte, durfte sie im Schnellverfahren Schießtraining, Festnahmen, Nahkampf und Einsatztaktik durchlaufen. Mit der Brustfütterung hatte es ohnehin nicht funktioniert – Saugverhalten passte nicht mit Warzenkonstellation überein, irgendein ärztliches Fachchinesisch. Und bevor sie daran zerbrach, dass sie ihrem eigenen Kind keine stillende Mutter sein konnte, stürzte sie sich in den Staatsdienst. Nicht ganz unerheblich war der Hauskredit, den sie abbezahlen mussten. Sie brauchten zwei volle Gehälter. Die Immobilienentscheidung kam in der Schwangerschaft – Nestbautrieb. Jasmin haderte, neben der Vermählung, auch mit diesen beiden Weggabelungen in ihrem Leben, trotz der bedingungslosen Liebe für ihren Sohn.

Der Autokorso zog sich. Sie konnte schon die Silhouetten der Hochhäuser sehen, die die Stadt prägten. Irgendwo dahinter kauerte das Präsidium in einem flacheren Ausläufer vom Postkartenmotiv der Stadt. Ihr Blick schweifte zum Blaulicht. Sollte sie sich diesen Vorteil verschaffen? Das eingebaute Signalmodul, vorn hinterm Kühlergrill, würde die Akustik, die sie über einen eingebauten Schalter neben der Klimaanlage betätigen könnte, zum blauen Blitzlichtgewitter liefern, das durch die LEDs in der Sonnenblende, die sie herunterklappen müsste, und versteckt im Kühlergrill verstärkt werden würde. Jetzt wünschte sie sich einen Notfallanruf, um die Verkehrsteilnehmer auf die Probe zu stellen und die Rettungsgasse zu erzwingen.

Nach einer Dreiviertelstunde Berufsverkehr erreichte sie endlich die Tiefgarage unter dem Steinquader, der avantgardistische Architektur und triste Transparenz vereinen sollte. Das oberirdisch sechsgeschossige Raumschiff lag an einer wichtigen Ausfallstraße vom Stadtzentrum kommend nach Norden, umschloss acht Innenhöfe und vereinnahmte einen ganzen Straßenblock. Neben der gesamten Führungsriege der städtischen Polizeibehörde beherbergte das Gebäude Einsatzzentrale, 3. Polizeirevier, Polizeigewahrsam, Spezialeinheiten, Schießanlage, Hubschrauberlandeplatz, Sporthalle, Verwaltung, Zentrale Dienste, Kriminalmuseum, sowie Kriminaldirektion - ihr Ziel.

Jasmin ließ den Aufzug beiseite und nutzte die Treppen. Als berufstätige Mutter hatte man keine Zeit für Sport in der Freizeit, oder eher freien Zeit. Der Kleine war zwar schon in der Schule, aber der Haushalt machte sich nicht von allein. Wenigstens hatten sich die Geldsorgen erledigt, als ihr Mann einen gutbezahlten Job annahm. Fürsorge und Verfügbarkeit nahmen ab, Konto und Reizbarkeit nahmen zu. Distanziert lebte man mittlerweile nebeneinander, gaukelte dem Kind Idylle vor und fragte sich, wo das hinführte. Dann beschwichtigte man sich, indem man sich vor Augen führte, wie gut es einem ging. Man hungerte nicht. Man fror nicht. Man kränkelte nicht. Und Sex holte man sich woanders.

Im Büro exerzierte sie ihre Routine durch, wenn der Tag, wie heute, ohne Vorkommnisse begann.

Ankommen.

Setzen.

Durchatmen.

Meditieren.

Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf ihre Atmung, verlangsamte diese und lauschte dem gedämpften Trubel, der von der Straße durch die Fensterfassade waberte. Die Bürotür hatte sie vorsorglich geschlossen. Milchglas hinderte Flurgänger an eindringlichen Blicken. Sie zählte hoch und wieder herunter. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen. Die Zehen spürten die leichte Vibration des Bodens, wenn Flugzeuge über die Stadt flogen, Müllwagen unten vorbeifuhren oder die Putzkolonne den Putzmittelwagen über den Flur schob. Ihre Finger legte sie auf die ledernen Armlehnen des Stuhls, fühlte die abweisende Kälte, die sich mit der Zeit in glatte Wärme verwandelte. Sie atmete bewusst tief in die Brust.

Danach benutzte sie den Wasserkocher und setzte Tee auf. Ein großer Becher Kaffee im Auto genügte ihr, sonst würde sie wie ein Gummiball durch die Gegend springen. Währenddessen schaltete sie ihr Mobiltelefon wieder laut und legte es auf ihren Schreibtisch. Ein Bild ihres lachenden Sohnes prangte auf dem leuchtenden Display, das ihr außerdem Uhrzeit, Datum, Netzstärke und Akkustand zeigte. Was fehlte, war eine Nachricht ihres Mannes, der gestern nicht nach Hause gekommen war. Es gab solche Phasen, in denen er sich nicht meldete, sich irgendwo volllaufen ließ und bei einem Kumpel pennte. Dafür bunkerte er in seinem Büro mehrere Anzüge, Hemden, Krawatten und Hygieneartikel. Jasmin rechnete eigentlich jeden Tag damit, dass er Schluss machte – so einfältig und unreif das auch klang. Das Feuer zwischen beiden war längst erloschen. Zuerst blieb man zusammen wegen dem positiven Schwangerschaftstest, dann wegen Kind und Kredit. Beides war aus dem Gröbsten raus. Es gab keinen Grund, die Scheinehe aufrecht zu erhalten. Sie selbst hatte vor einem Jahr den ersten Schritt gewagt – sie hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen: Xander.

In der Schule wurde sie gehänselt. Zander oder Filet hatte man sie genannt. Nicht schlimm, aber auch nicht gerade erbaulich für ein labiles Küken, das um Anerkennung kämpfte und gegen die Schmähungen Gleichaltriger, die sich über ihren frühen, enormen Brustumfang amüsierten. Mit der Bürde ihres Namens driftete sie ab. Ein paar Jugendliche mit dummen Ideen fingen sie auf. Ein altes Tattoo auf ihrem Oberschenkel zeugte von der Sünde, zu der sie sich hinreißen lassen hatte, um ihrem jetzigen Mann zu gefallen. Um zu rebellieren. Die Bedeutung wurde ihr erst später bewusst. Sie wollte es sich schon seit Ewigkeiten mittels Laser entfernen lassen, aber der törichte Lapsus vernarbte unschön wegen der schnörkelhaften Methode des unerfahrenen Tätowierers und einer darauffolgenden Infektion, weshalb ein Lasereinsatz lediglich die Tinte zerstören würde. Die Hügel auf ihrer Haut gehörten aber zu ihr wie die Muttermale ringsherum.

 

Als sie die interne Post durchsiebte, betrat ihr Ermittlungspartner das Büro, das sie sich mit ihm teilte. Da er immer später als sie zum Dienst erschien, genoss sie die paar Minuten Einsamkeit.

Nathanael Ysop telefonierte mit gerunzelter Stirn. Er trat ein und schloss die Tür, was er sonst nie tat. Dann stierte er zu seiner Kollegin, während er dem Sprechenden lauschte.

Jasmin fühlte sich immer noch unwohl in seiner Gegenwart, obwohl es schon einige Jahre her war. Damals, als ihre Ehe mal wieder einen Tiefpunkt am Scheideweg erreichte, fing Nathan sie auf, half ihr auf die Knie, und vögelte den Schmerz aus ihr heraus. Einige Wochen ritten sie gemeinsam, meistens von hinten, ohne in das Gesicht des anderen blicken zu müssen. Sie redeten nicht darüber, küssten sich nicht auf die Lippen und ließen den Akt stumm geschehen. Selbst das Stöhnen unterdrückten sie. Jasmin unterdrückte sogar Tränen – Tränen der Lust, Tränen der Befreiung. Ihr Kollege zog sein Ding durch, respektvoll, still und stilsicher, wie ein Kavalier, der sich seiner Funktion als Druckventil bewusst ist.

Nathan sträubte sich zuerst gegen die Intimität, die sie nonverbal einforderte. Er füllte sie ab, bis sie schläfrig wurde, bombardierte sie mit Dokumenten, die sie durchackern wollte, und hörte ihr zu, wenn es aus ihrem Mund sprudelte. Schließlich konnte er aber nicht anders, besorgt um das Wohl seiner beruflichen Partnerin. Eine wortlose Übereinkunft. Unbedeutender, zwangloser Sex. Das Licht blieb aus. Sie fühlten sich, begrapschten sich, befriedigten sich. Auch Nathan trug ein Päckchen mit sich herum. Gescheiterte Beziehungen, mal länger, mal kürzer. Aufgelöste Verlobungen. Geplatzte Hochzeiten. Einseitige Seitensprünge. Lügen. Enttäuschungen. Narben. Die Allzeitbereitschaft des Jobs ist ein Beziehungskiller. Die Abgründe menschlicher Perversionen sind Emotionskiller. Mordkommission bedeutet, ein vergangenes Kapitalverbrechen ohne Vorwissen zu analysieren und anhand sichergestellter Spuren in akribischer Ermittlungsarbeit einen oder mehrere Tatverdächtige einzugrenzen, ihren Bewegungsablauf zu rekonstruieren und sie im besten Falle anhand eines Geständnisses oder erdrückender Beweislage zu überführen. Ein Puzzle ohne Blaupause. Immer wieder die Reise durch die Psyche kranker, kalter Menschen.

Er nahm das Mobiltelefon vom Ohr, steckte es ein und setzte sich Jasmin gegenüber. Auch bei ihm lösten ihre hohen Wangenknochen Gefühle aus, jedoch versöhnlicher als bei seiner Kollegin, die Gesicht von Geschlecht trennen konnte.

»Es gibt eine Leiche«, begann Nathan leise. Dabei beobachtete er seine Partnerin.

Jasmin nickte und schnappte sich ihre Utensilien – Holster, Jacke, Telefon. Sie wunderte sich, warum sie als Einzige in Bewegung verfiel.

Nathan überlegte, wie er einfühlsam an die Sache herangehen konnte. Er war sich nicht sicher, was der Beamte in der Leitung beschrieben hatte, aber bevor er sie gegen die Wand laufen ließ, wollte er sie lieber vorher aus dem Verkehr ziehen.

»Ich glaube, wir sollten den Fall abgeben«, schlug er deshalb vor.

Sie schüttelte den Kopf. »An Kurz und Klein? Kannst du vergessen! Die zwei Nieten sollen ruhig auf ihren faulen Ärschen hocken bleiben!«

Wie Jasmin den Türgriff in die Hand nahm, erhob Nathan die Stimme, aber nicht, um sie zu rügen, sondern, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, sie zu bremsen. »Wie geht es deinem Mann?«

Er kannte diesen Sozialversager, der Frau und Kind wie Marionetten behandelte, flüchtig, hatte ihn ein paar Mal gesehen, ihm die Hand geschüttelt und Small Talk gehalten. Er konnte diesen Businessschmarotzer nicht leiden, weil der sich mit Blutdiamanten schmückte. Außerdem hörte er eine gewisse Gesinnung heraus, die seinem Demokratieverständnis widerstrebte. Er fragte sich sowieso, wie Jasmin ihr schwarzes Schaf, das eigentlich braun war, vor der Dienststelle geheim halten konnte. Aber da mischte er sich nicht ein. Vielleicht diente sie dem Staatsschutz als Informantin. Andersherum gab es mehr Reibungspunkte. Denn ihr Mann musste die Ehe zu einer Polizistin rechtfertigen, verteidigen. Als Aussteigerin schlugen ihr sicherlich auch diverse Anfeindungen entgegen, außer sie beherrschte das Rodeo männlicher Eitelkeiten ebenso wie das Ballett polemischer Rhetorik.

Jasmin erkannte den Ton ihres Partners. Die Frage klang weder leicht noch interessiert. Es hörte sich nach einer Warnung an. Sie entfernte die Hand vom Türgriff. Das Mobiltelefon hatte immer noch nicht vibriert. Ihr Mann hatte sich noch immer nicht gemeldet. Und Nathan lehnte sonst auch keine Leiche ab, oder reichte sie an Kurz und Klein weiter, die wie Hyänen darauf warteten, dass die Löwen keinen Hunger mehr haben und die Beute freigeben.

»Was ist los?« Schwer von Begriff zu sein gehörte nicht zu ihren Tugenden. Die Aufklärungsrate vom Gespann Xander & Ysop lag bundesweit unter den ersten fünf. Regelmäßig horchten Bundes- und Landeskriminalamt nach, ob man zu einem Stellenwechsel bereit sei. Doch beide scheuten den Neuanfang, obwohl er beiden gut zu Gesicht gestanden hätte.

»Bin mir nicht sicher«, zauderte Nathan.

»Kannst du in ganzen Sätzen antworten und mir endlich sagen, was los ist?« Jetzt wurde Jasmin lauter. Unruhe befiel sie.

»Die Beschreibung der Leiche passt auf deinen Ehemann«, packte Nathan aus. Er hatte sich noch nicht vom Stuhl hochbequemt. Aber er schaute demütig zu Boden, so als würde er heftigen Gegenwind erwarten.

Im Flur trampelten Leute vorbei. Gesprächsfetzen drangen ins Büro, das plötzlich eisig und steinig wirkte. Karge Tundra mit Permafrostboden.

Jasmins Augen huschten umher, unschlüssig, was sie fixieren sollten. Computer, Pflanzen, Schränke, Lampen. Nichts konnte ihren Blick binden. Sie musste das Gehörte erst verdauen. Im Affekt kramte sie ihr Mobiltelefon heraus und suchte vergebens nach einer neuen Nachricht. Die letzten geschriebenen Worte von ihrem Mann datierten von gestern: bin unterwegs. Kein Emoticon, keine Sehnsuchts- oder Liebesbekundung. Nur ein schlichter Halbsatz, der besagte, dass er auf dem Weg nach Hause sei und sie das Essen vorbereiten solle. Sofern es keinen akuten Einsatz gab, war Jasmin lange vor ihm zuhause, hatte eingekauft, die Hausaufgaben des Kleinen kontrolliert, aufgeräumt, die Wäsche angeschmissen und den Müll rausgebracht. Eine brave Hausfrau, der man den harten Job bei der Kripo nicht zutrauen würde.

Oder eine Tarnung, um Neider und Gegner zu besänftigen.

Auf den einfallslosen Satz ihres Mannes hatte sie nicht geantwortet. Vergebliche Liebesmüh. Er hätte es eh nicht gelesen. Die letzten Herzchen oder Küsschen stammten aus den Anfängen der Beziehung, als noch analog gefunkt wurde. Danach kamen nur noch Standardmitteilungen über den Füllstand des Kühlschrankes, wichtige Termine beim Kinderarzt oder der Schulleitung. Manchmal auch wütende Nachfragen, wo er denn bliebe. Und seltener auch besoffene Antworten, dass sie sich um ihren eigenen Scheiß kümmern solle.