Osteopathie und Swedenborg

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SPIRITISMUS, TRANSZENDENTALISMUS UND DIE NEUE KIRCHE ALS VERBREITUNGSMEDIEN FÜR SWEDENBORGS ANSCHAUUNGEN IM 19. JAHRHUNDERT

Zusammenfassend kann man sagen, dass der Spiritismus eine populäre, religiöse und philosophische Bewegung darstellte und zugleich als Medium zur Verbreitung der Ideen Swedenborg diente. Er war damit eine von drei Gruppen – neben dem Transzendentalismus und der Neuen Kirche –, die sich im Nordamerika der Zeit vor dem Bürgerkrieg durch Swedenborgs Anschauungen infizieren ließen. Alle drei Bewegungen markierten unterschiedliche Wege, wie Menschen jener Zeit die Ideen Swedenborgs verwendeten, um religiöse Ideologien zu bilden, aber als Basis diente stets Swedenborg, auf den sie sich bezogen.318

Die Swedenborgianer der Neuen Kirche begründeten ihre Lehre und Weltsicht gänzlich auf Swedenborgs Schriften mit ihren kosmologischen, metaphysischen und theologischen Ideen. Diese Schriften betrachteten sie als autoritatives Interpretationsmedium zur Erklärung des Christentums. Obgleich viele Mitglieder intellektuell liberal eingestellt waren und zu fortschrittlichen Sozialreformen neigten, war die Neue Kirche sicherlich das konservativste swedenborgianische Element in Nordamerika. Ihre Mitglieder stimmten mit den Spiritisten darin überein, dass die Beschreibung der geistigen Realität in Swedenborgs Schriften zutreffe. Allerdings kritisierten sie die Bemühungen der Spiritisten heftig, bewusst Geisterkontakt aufzunehmen. Interessanterweise gab es aber darüber hinaus noch eine Splittergruppe der Neuen Kirche, die Swedenborgianer der Neuen Ära, welche Geisterkontakt befürwortete und in bedeutender Weise mit den Spiritisten interagierte. Allerdings sprach die Neue Ära nicht für die Neue Kirche – und auch sie stellten die Autorität der Schriften Swedenborgs über alle anderen Medien.319

Die Transzendentalisten unterschieden sich von den Swedenborgianern der Neuen Kirche und den Spiritisten, insofern sie keinen Wert auf eine Kosmologie der geistigen Welt legten, sondern sich eher auf die eigene innere Spiritualität konzentrierten. Obgleich sie diese Betonung des persönlichen geistigen Wachsens (Regeneration) mit der Neuen Kirche teilten, akzeptierten die Transzendentalisten nicht die gesamte Theologie Swedenborgs. Der Transzendentalismus unterschied sich allerdings auch deutlich vom Spiritismus. Die Transzendentalisten im Allgemeinen und Emerson insbesondere lehnten die Bemühung der Spiritisten um Geisterkontakte ab und meinten, dass diese keinen Nutzen einbrächten. Emerson und die Transzendentalisten betrachteten die Schriften Swedenborgs als inspiriert, doch hatten sie für sie nicht die gleiche Autorität wie im Falle der Neuen Kirche.

Obgleich die Transzendentalisten ähnlich wie die Neue Kirche den Geisterkontakt ablehnten, begründeten sie dies nicht mit den entsprechenden Warnungen Swedenborgs. Wie die Spiritisten akzeptierten die Transzendentalisten die Vorstellung der Hölle nicht. Mehr konzentrierten sie sich auf swedenborgianische Konzepte des Lebens nach dem Tod und das ewige Fortschreiten des Individuums. Die Transzendentalisten teilten mit den Spiritisten die Erhebung Swedenborgs „[…] zu einem Vorläufer einer individuellen, demokratischen und erfahrungsbezogenen Religion, die dem 19. Jahrhundert in Nordamerika angemessen ist.” Und obgleich Transzendentalisten und Spiritisten auf die religiösen Ideen Swedenborgs fokussierten, schlossen sie doch auch dessen wissenschaftliche Anschauungen mit ein.320

Der ‚Trialog’ zwischen der Neuen Kirche, dem Transzendentalismus und dem Spiritismus hinsichtlich swedenborgianischer Ideen war dabei behilflich, das Interesse an Swedenborgs Arbeiten auszuweiten. Sowohl Emersons erstes Buch über die transzendentalistische Philosophie, Nature (1836), als auch Davis erstes Buch über die Philosophie der Harmonie, Pricniples of Nature (1847), wurden zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung als swedenborgianisch verstanden. Beide Bücher beinhalteten viel von Swedenborgs Metaphysik und Wissenschaft. Beide Autoren verwiesen auf wissenschaftliche Werke Swedenborgs wie die Oeconomia regni animalis sowie auf seine theologischen Schriften. Obgleich sie politisch und ideologisch zum Teil deutlich differierten, teilten die Transzendentalisten und die Spiritisten swedenborgianische Konzepte wie geistiges Wachsen und Regeneration, dass übergreifende Gesetze das natürliche und geistige Universum leiteten, dass die Verbindung von Geist und Natur in jedem Menschen als Seele-Körper-Verbindung vorhanden sei – und insbesondere die Lehren von Korrespondenz und Einströmen.321

Der Spiritismus hatte bezüglich der drei Gruppierungen im Nordamerika in der Mitte des 19. Jahrhunderts die bei weitem meisten Anhänger. Ihre Vertreter intensivierten die Beziehungen zu Swedenborg bei anderen metaphysischen Religionen in Nordamerika und machten diese für eine große Anzahl von Menschen verfügbar. So schreibt der Historiker Brett Carrol:

„Die Spiritisten halfen dabei, Swedenborg im religiösen Leben der Nordamerikaner zu etablieren, und ihre weit verbreitete Bewegung half dabei, seinen Einfluss weit zu streuen. Dies insbesondere in Bezug auf seine Ideen der Geisterkommunikation und Medienvermittlung – weit über jenen kleinen Kreis liberaler Intellektueller hinaus, die sich dem Transzendentalismus und der Neuen Kirche zugehörig fühlten.” 322

13. ALFRED RUSSEL WALLACE: EVOLUTION, SPIRITISMUS UND SWEDENBORG

1858 verkündete Charles Darwin die Evolutionstheorie und bemerkte, dass diese Theorie, welche die Variation der Arten und das Überleben des Bestangepassten umfasste, zeitgleich und unabhängig voneinander durch ihn selbst und Alfred Russel Wallace entwickelt worden sei. Die Evolutionstheorie hatte enorme Konsequenzen und Auswirkungen auf das intellektuelle und religiöse Denken der europäischen und amerikanischen Gesellschaften.

Interessanterweise bauten die Spiritisten, die sich selbst als sowohl naturwissenschaftlich wie religiös verstanden, das Konzept der Evolution in ihre Sicht des Universums ein. Die spiritistische Idee einer Gottheit mit göttlicher Intelligenz, welche das Universum zum Zweck des Himmels für das Menschengeschlecht führt und bei der es ein Leben nach dem Tod gibt, adaptierte die Evolution als ein vergleichbar geleitetes Fortschreiten hier auf der Erde. Allerdings gefiel den Spiritisten Wallaces Perspektive dabei wesentlich besser, da sie eher zu ihren Überzeugungen passte als diejenige Darwins, und sie benutzten das Konzept der ‚Evolution’ als eine wichtige Metapher für soziale Verbesserung.

Wallace war der von A. T. Still präferierte Biologe – und er war Spiritist und auch mit Swedenborgs Schriften vertraut. Die Evolutionstheorie hatte vermutlich erheblichen Einfluss auf Still, was mit ihrem spiritistisch orientierten Mitbegründer zu tun hatte. Wallaces Perspektive auf die Evolution beinhaltete swedenborgianische Elemente, wodurch wiederum swedenborgianische Konzepte bestärkt wurden, die Still in seine eigene Weltsicht und Philosophie einbaute.323

Swedenborg sprach nicht wörtlich von der Evolutionstheorie, da er 100 Jahre vor der Einführung des Begriffs lebte. Er schrieb allerdings ausführlich über Themen wie die Natur der materiellen und der geistigen Welt, die Natur der göttlichen Weisheit, welche die göttliche Vorsehung leite, und die Interaktion des Herrn mit seiner Schöpfung. Wallace baute viele dieser Ideen in seine Sichtweise der Evolutionstheorie ein.

Die Geschichte von Wallace und Darwin, den beiden brillanten und voneinander unabhängigen gemeinsamen Entwicklern der Evolutionstheorie veranschaulicht zwei unterschiedliche Zugänge zu diesem Thema. Durch das Verständnis ihrer Sichtweisen sowie aufgrund von Stills Vorliebe für Wallaces Ideen lassen sich seine Perspektive und Philosophie besser einschätzen.

Alfred Russel Wallace wurde 1823 nahe der Kleinstadt Usk in Monmouthshire, England, geboren. In jungen Jahren ging er verschiedenen Tätigkeiten nach, etwa als Landvermesser und Schullehrer. Er hatte eine Vorliebe für Naturgeschichte und wurde ein sehr engagierter autodidaktischer Naturforscher. Aus eigenem Interesse las er in der Stadtbibliothek von Leicester, wo er als Lehrer tätig war, eifrig alle bekannten Bücher über Naturwissenschaft, philosophische Biologie und über Entdeckungen exotischer Orte, die er finden konnte. Viele dieser Bücher las Darwin ebenfalls begeistert, sodass beide auf ihren Berufswegen dadurch gleichermaßen geprägt wurden.324

In jener Zeit entwickelte Wallace auch weitere Interessen. Er las ausgiebig über Phrenologie und entwickelte ein reges Interesse am Mesmerismus. 1844 in Leicester las er George Combes The Constitution of Man und erkundete auch dessen andere Werke. Neugierig wie er war, unternahm er einige phrenologische Aktivitäten und war begeistert von seinen Forschungsergebnissen. Er besuchte mit einigen seiner älteren Schüler Demonstrationen und Vorträge von Spencer Hall, der sowohl Mesmerismus als auch Phrenologie lehrte. Wie in Nordamerika hatte auch in England der Weg von der Phrenologie hin zum Mesmerismus geführt; es gab Vortragsreisende, die als Phrenomagnetiseure zu beiden Themen sprachen. Hall versetzte Wallace in einen magnetisierten Zustand und beeindruckte ihn damit so sehr, dass er, zurück auf dem Campus, einige Schüler in einen ähnlichen Zustand versetzte. Wallace versuchte sich im folgenden Jahrzehnt weiter am Mesmerismus und dies wiederum bereitete die Bühne für sein späteres Interesse am Spiritismus.325

 

Im Alter von 25 Jahren brach Wallace 1848 zum Amazonas nach Brasilien auf und verbrachte dort drei Jahre als naturwissenschaftlicher Feldforscher im Regenwald, wobei er Proben sammelte und diese nach Europa schickte. 1851 kehrte er nach England zurück und begann ab 1854 in mehreren angesehenen britischen naturwissenschaftlichen Gesellschaften aktiv zu werden und sich ausreichend Unterstützung für seine nächste Expedition zu verschaffen, die ihn zum malaiischen Archipel (heute Indonesien) führte. Die Reise wuchs sich zu einer langen Expedition aus, die schließlich von 1854 bis 1862 dauern sollte. Während dieser Zeit sammelte er nicht nur Proben und beobachtete Menschen und Orte, sondern er entwickelte auch seine eigenen Theorien der Naturgeschichte, wozu auch die Theorie der natürlichen Selektion gehörte. Wallace war ein unabhängiger Naturforscher, neugierig, brillant, aber nicht sehr weltläufig und kaum vernetzt.326

Darwin lebte zu jener Zeit in England und verwendete die Informationen, die von naturwissenschaftlichen Feldforschern wie Wallace gesammelt wurden, um seine eigenen Theorien abzuschließen, wozu auch als Basis der Evolutionstheorie die Idee natürlicher Selektion gehörte. Er hatte die Mittel und den Forschungszugang, um seine eigenen Theorien zu entwickeln. Dabei war er äußerst genau und benötigte daher einige Zeit, bis er sein erstes Buch schrieb, welches seine ursprünglichen Ideen entfaltete.327

Darwin und Wallace begannen eine Korrespondenz, während sich Wallace im malaiischen Archipel aufhielt, und diese Verbindung hielten sie über mehrere Jahre hinweg aufrecht. Im Juni 1858 erhielt Darwin einen Brief von Wallace, der im Zusammenhang seiner malaiischen Abenteuer entstanden war. Dieser Brief enthielt Wallaces eigene Theorien der natürlichen Selektion und des Überlebens des Bestangepassten. Darwin war überrascht und bestürzt. Es machte den Eindruck, als handele es sich um eine von Wallace abgefasste Zusammenfassung von Darwins eigener Theorie, eine Art Zusammenfassung des Buchs, an dem Darwin gerade schrieb: Natural Selection. Er war verzweifelt und schrieb an einen vertrauten Kollegen, den er um Rat bat:

„Nie habe ich genauere Übereinstimmung gesehen. Hätte Wallace meine handschriftliche Skizze von 1842, hätte er keine bessere kurze Zusammenfassung schreiben können. Selbst seine Begriffe stehen jetzt als Überschriften über meinen Kapiteln!” 328

Darwin fragte sich, wie er ethisch korrekt vorgehen solle. Er wollte zwar den Vorrang nicht verlieren, der erste gewesen zu sein, welcher die Theorie der natürlichen Selektion entwickelt hatte, aber er konnte Wallaces Brief auch nicht einfach außer Acht lassen, da dieser unabhängig von ihm die gleiche Theorie formulierte. Nach Diskussion mit mehreren seiner Kollegen wurde die Entscheidung getroffen, dass Darwins und Wallaces Ideen zur selben Zeit und in dieser Reihenfolge präsentiert werden sollten. So geschah es in der Linné-Gesellschaft 1858. Darwin verfasste anschließend eine Kurzfassung seines Buchs und veröffentlichte diese Abhandlung 1859 unter dem Titel Origin of the Species.329

Nach weiteren Abenteuern auf seinen Reisen, auf denen er während acht Jahren über 22.000 Kilometer zurückgelegt hatte, kam Wallace 1862 schließlich nach England zurück, um dort zu bleiben. Kaum angekommen, wurde er zum Fellow der Zoologischen Gesellschaft gewählt, eine sehr exklusive und hoch angesehene Auszeichnung. Der Gedanke der Evolution wurde anfänglich nicht von allen Wissenschaftlern mit offenen Armen aufgenommen. Wallace hingegen verteidigte nicht nur seine Evolutionstheorie, sondern auch Darwin gegen seine Kritiker. Darwin erkannte in Wallace seinen größten Verbündeten und war erstaunt über dessen fehlende Erbitterung, denn schließlich hatte er mit Origin of the Species einen wesentlich größeren Bekanntheitsgrad erlangt. Aber das schien Wallace überhaupt nicht zu bekümmern. Schließlich wurde er mit den Jahren auch selbst als bedeutender Naturforscher und Theoretiker bekannt. Darwin und er wurden gute Freunde und Wallace wohnte sogar 1862 in Darwins Haus. 1864 fügte er der Theorie der natürlichen Selektion, sofern sie auf den Menschen angewendet wurde, einige Verfeinerungen hinzu. So betonte er den Unterschied zwischen dem Körper des Menschen und seinem Gehirn bzw. seinem Mentalen. Darwin lobte das als „[…] großartig und sehr eloquent vorgetragen.”330

Wallace baute seinen eigenen Zugang zur natürlichen Selektion und zur Evolution des Menschen weiter aus. Er argumentierte, dass weder die natürliche Selektion noch irgendein Element der Evolutionstheorie das Entstehen bewussten Lebens im Menschen erklären könne. Er führte weiter aus, dass es bestimmte Aspekte des Menschen gebe, die nicht durch die Theorie der natürlichen Variation und des Überlebens des Bestangepassten erklärt würden. Vor allem das menschliche Gehirn sei ein Organ, welches weiter entwickelter sei, als es für das bloße Überleben erforderlich sei; jedoch erachtete er es als notwendig zur Schaffung der menschlichen Kultur.331

Während dieser Zeit gab es bedeutende Veränderungen in Wallaces persönlichem Leben. Im Frühjahr 1845 hegte er große Zuneigung für Annie Witten, der Tochter eines Apothekers und Wissenschaftlers, der sich mit Pflanzen befasste. Russel und Annie heirateten 1866 und zu jener Zeit tauchte er auch in den Spiritismus ein. Er hatte das orthodoxe Christentum viele Jahre zuvor abgelegt, wobei er seinen starken Glauben an die Existenz eines spirituellen Aspektes im Menschen behielt. Er wandte sich dem Spiritismus mit ganzem Herzen zu, „[…] seine Begeisterung hatte die Intensität einer Konversion.” Rasch machte er sich mit der Bewegung vertraut und wurde ihr standhafter Anwalt: eine Position, die er für den Rest seines langen Lebens behalten sollte. Zudem war er aufgrund seiner früheren Kontakte zweifellos auch gut vertraut mit Mesmerismus und Phrenologie.

In jener Zeit hatte sich der Spiritismus gerade von Nordamerika nach Großbritannien verbreitet und war dort ziemlich populär geworden. Sogar einer von Darwins Cousins, Hensleigh Wedgwood, wurde ein enthusiastischer Spiritist und besuchte zusammen mit Wallace in London Séancen. Obgleich viele andere Wissenschaftler Versuche mit dem Spiritismus unternahmen und einige ihn still unterstützten, bekannte sich kein derartig bekannter Wissenschaftler wie Wallace öffentlich mit Unterstützung und Verteidigung der Bewegung zu ihr. Wallace wurde auch mit den Werken des swedenborgianischen Theologen Professor George Bush sowie unmittelbar mit den Schriften Swedenborgs vertraut und verteidigte diese gegen zeitgenössische Kritik.332

1867 bekamen Wallace und seine Frau ihr erstes Kind. In diesem Jahr bearbeitete er seine Reisenotizen und veröffentlichte mehrere wissenschaftliche Aufsätze und Zeitschriftenartikel. Dazu begann er die Arbeit an einem Buch, das seine Reisen beschrieb. Es waren drei Jahre nötig, bis es im Januar 1869 schließlich in zwei Bänden und unter dem Titel The Malay Archipegalo veröffentlicht wurden. Wallace widmete das Buch Charles Darwin, der es wohlwollend beurteilte; auch die übrigen Rezensionen waren sehr positiv. Zu dieser Zeit war Wallace als erfolgreicher und angesehener Naturforscher und Wissenschaftler bekannt. Ihm wurde auch die renommierte Königliche Medaille der Royal Geographical Society verliehen.333

Im Jahr der Veröffentlichung bezogen beide, Darwin und Wallace, die Evolutionstheorie explizit auf den Menschen. Wallace unterschied sich darin jedoch von Darwin insofern, indem er feststellte, dass der Mensch auf einen höheren Status der Vollkommenheit zustrebe – und dies sei nicht zufällig. Er war zwar auch der Ansicht, dass die Gesetze der Variation und des Überlebens des Bestangepassten auf die Menschheit anwendbar seien, allerdings würden Belege zeigen, dass es

„[…] eine Macht gebe, […] welche das Handeln dieser Gesetze in eine bestimmte Richtung und auf besondere Ziele hin geleitet habe – und […] dass eine Höhere Intelligenz bei der Entwicklung des Menschengeschlechts dieselben Gesetze zu Erfüllung eines edleren Ziels angewendet hat.”334

Wallace schrieb weiter:

„Doch lasst uns die Augen nicht vor der Evidenz verschließen, dass eine übergeordnete Intelligenz über die Ausübung dieser Gesetze gewacht hat, um so ihre Variationen zu leiten und ihre Akkumulation zu bestimmen. So wird schließlich eine Organisation geschaffen, die ausreichend vollkommen ist, um den unbestimmten mentalen und moralischen Fortschritt zu ermöglichen und diesen sogar zu unterstützen.”335

Darwin stimmte dieser Idee gar nicht zu und war vielmehr traurig darüber, dass Wallace sich von seiner eigenen Einschätzung der Evolutionstheorie verabschiedete. Er glaubte wiederum, dass die physische, intellektuelle und psychische Natur des Menschen evolutionär von den Tieren abstamme und betrachtete diese Einbeziehung einer höheren Macht folglich als Kapitulation vor dem orthodoxen Christentum.

Tatsächlich lehnte Wallace das Konzept der Evolution als Teil des Naturgesetzes niemals ab. Und obgleich er eine übergeordnete Intelligenz, welche die Schöpfung zu bestimmten Zielen lenke, anerkannte, hatte er sich bereits klar vom Christentum distanziert. Vielmehr hatte er nun den Spiritismus mit seinem Konzept einer Gottheit akzeptiert, die aus einer göttlichen Weisheit bestehe, welche das Universum durch göttliche Vorsehung leite und auf natürlicher wie geistiger Ebene durch ein allgemeines Gesetz agiere – ähnlich wie es Swedenborg beschrieben hatte.336

Beispiele aus Swedenborgs Schriften belegen, dass darin ähnliche Auffassungen enthalten sind:

„Wir sehen ein Bild des Unendlichen und Ewigen in der Variation von allem in der Tatsache, dass nichts genau gleich mit etwas anderem ist und nichts in Ewigkeit existieren kann. […] Dies zeigt, dass die Variation unendlich und ewig ist.”337

„Wenn man auf das geschaffene Universum schaut und dabei seinen Entwurf betrachtet, erscheint es so voller in Liebe gründender Weisheit, dass man sagen wird, alles mit allem zusammen genommen sei die Weisheit selbst.” 338

„Der Herr hat das Universum nicht um seiner selbst willen geschaffen, sondern wegen der Menschen, von denen er wollte, dass sie im Himmel sind. […] Es folgt dann, dass die göttliche Liebe (und daher die göttliche Vorsehung) das Ziel eines Himmels hat, der aus Menschen besteht, die zu Engeln geworden sind und Engel werden.”339

„Diese Gesetze befähigen uns dazu, die Natur der Vorhersehung zu kennen und Menschen, die ihre Natur kennen, müssen sie anerkennen, weil sie diese tatsächlich sehen.” 340

Wallace veränderte seinen Standpunkt nicht mehr. In seinem langen Leben entwickelte er seine Ideen weiter, wobei er den Menschen als duales Wesen aus natürlichen und geistigen Aspekten betrachtete, wobei der geistige Aspekt nach dem Tod fortbestehe. Er argumentierte, dass die geistige Natur des Menschen kein einfaches Nebenprodukt der Evolution sei, dass der Menschen mehr sei, als ein Materialist erklären könne, und dass der Geist in Ewigkeit fortschreite.341

„Der Mensch ist ein duales Wesen und besteht aus einer organisierten geistigen Form, die sich zugleich mit dem physischen Körper herausbildet und ihn durchdringt – beide besitzen einander entsprechende Organe und Entwicklungsschritte. Der Tod ist die Trennung dieser Dualität und bewirkt keine moralische oder intellektuelle Veränderung im Geist. Die fortschreitende Evolution der intellektuellen und moralischen Natur entspricht dabei der persönlichen Bestimmung. Das Wissen, die Errungenschaften und die Erfahrungen des irdischen Lebens bilden die Basis des Lebens als Geisterwesen.” 342

 

In der Tat könnten Wallaces Ansichten so zusammengefasst werden: Überleben des Bestangepassten und Fortschreiten des Geistes.

Swedenborg hatte im Jahrhundert davor geschrieben:

„Die Seele ist die universale Essenz des menschlichen Mikrokosmos oder Körpers. Sie ist universell präsent, mächtig, aktiv, bewusst und vorsehend im ganzen Körpers und allen seinen Organen.” 343

„Damit der Mensch für immer leben möge, wird das Sterbliche von ihm weggenommen. Sein sterblicher Teil ist der materielle Körper, der bei seinem Tod entfernt wird. Sein unsterblicher Teil, der sein Mentales umfasst, ist so unverhüllt, und wird dann ein Geist in menschlicher Form; sein Mentales ist dieser Geist.” 344

„Jedem wird nach dem Tod die Möglichkeit gewährt, sein Leben zu ändern – sofern dies überhaupt möglich ist.” 345

Wallace sah drei wichtige Übergänge in der Geschichte der Evolution, die nicht von der Evolutionstheorie erklärt würden: der Übergang vom anorganischen zum organischen Aspekt, jener von der Pflanze zum Tier und der Übergang vom Tier zum beseelten Menschen. Er war der Überzeugung, dass bei allen drei Übergängen ein Einströmen stattfinde, ein Einströmen von Seiten der Gottheit, einer schöpferischen Macht mit lenkendem Verstand, der einen letzten, die Evolution lenkenden Zweck führe. Dieser Zweck bestehe in „[…] der Entwicklung des Menschen, jener einen, krönenden Hervorbringung des gesamten kosmischen Prozesses der Entwicklung des Lebens.” Er stellte fest, dass es an einem Punkt der Evolutionsgeschichte ein ‚Einströmen’ bzw. ‚ein Einhauchen des Geistes’ gegeben habe, was den Menschen in der Natur auszeichne. Dies bezeichnete den wesentlichen Unterschied zu Darwins Standpunkt, dass nämlich die gesamte mentale, moralische und spirituelle Natur des Menschen sich aus den niederen Tieren durch denselben Prozess entwickelt habe, aus der auch die physische Struktur des Menschen entstanden sei. Doch trotz ihrer unterschiedlichen Betrachtungsweise der Evolution blieben Darwin und Wallace bis an ihr Lebensende Freunde.346

Wallace stellte wiederholt fest, dass der Zweck der Existenz des Menschen in dieser materiellen Welt darin bestehe, dass sich menschliche Geister in menschlichen Körpern entwickelten und auch nach dem Tod des natürlichen Körpers fortbestünden. Dieses Leben nach dem Tod diene ebenfalls der geistigen Entwicklung, welche auf einem in dieser Welt gelegten Fundament aufbaue, doch im ewigen Wachstum und in der Vollkommenheit in der spirituellen Welt fortdauere.

„Schauen wir auf den Menschen, dessen eigentlicher Zweck es hier ist, ein Andersals-Andere-Sein, eine Individualität auszubilden, um im zukünftigen Leben weiter entwickelt zu werden, erkennen wir viel deutlicher, wie unser ganzes irdisches Leben eine Vorbereitung darauf darstellt. In dieser Welt haben wir das Maximum an Anders-als-Andere-Sein geschaffen. Dabei hat uns ein Potential für individuelle Bildungsmöglichkeiten geholfen und, insofern ein jeder Geist von der Gottheit abstammt, sind diese nur durch die Zeit, die jedem von uns zur Verfügung steht, begrenzt. In der Welt der Geister verkürzt der Tod die Phase des Bildungsfortschrittes nicht. Die besten Bedingungen und Möglichkeiten werden geboten für den kontinuierlichen Fortschritt zu einem höheren Status, obgleich das gesamte Anders-als-Andere-Sein hier zu einer unendlichen Variation, zu Liebreiz und Gebrauch führt, der wahrscheinlich auf keine andere Weise hätte zustande kommen können.” 347

Vergleichen Sie dies mit einem Auszug aus Swedenborgs Buch Divine Providence:

„Im Blick auf die Variationen selbst, die im Kontext jener Sachverhalte stattfinden, die konstant, fixiert und beständig sind, gilt: Sie erstrecken sich zur Unendlichkeit und besitzen keine Grenze. Doch es gibt niemals einen, der genau einem anderen im Universum oder einem seiner kleinsten Teile gleicht. Das kann im Gang der Zeit zur Ewigkeit nicht anders sein. Sofern diese Variationen zur Unendlichkeit und Ewigkeit reichen, wer kann sie so anordnen, dass sie eine Ordnung bilden? Wohl nur der Eine, der die Konstanten geschaffen hat, sodass die Veränderungen in ihm stattfinden können. Und wer kann die unendlichen Verschiedenheiten des Lebens im Menschen angemessen behandeln, wenn nicht der Eine, der das Lebens selbst ist? Also derjenige, der die Liebe und die Weisheit selbst ist.” 348

„Da der Himmel vom Menschengeschlecht kommt und da der Himmel mit dem Herrn für immer besteht, folgt, dass dies das Ziel des Herrn bei der Schöpfung war. Weiter, da dies das Ziel der Schöpfung war, ist es auch das Ziel der göttlichen Vorsehung.” 349

Wie kam Wallace zu dieser grundlegend anderen Betrachtungsweise der Evolution? Die Antwort scheint zu lauten: durch seinen Kontakt mit dem Spiritismus und mit Swedenborg. Als ihn ein Interviewer fragte, wie er zu einem die Schöpfung leitenden Gottesgefühl gekommen sei, antwortete Wallace: „Teilweise durch meinen Kontakt mit dem modernen Spiritismus.” Wallace war mit den Schriften des Spiritismus und Swedenborgs vertraut. Er erwähnt Swedenborg mehrere Male und an einem Punkt verteidigte er einige Werke Swedenborgs gegen Kritik. Gleichwohl ist es wahrscheinlich, dass die meisten seiner Überlegungen aus seinem Studium des Spiritismus stammen, denn Wallace zeigte sich als offener Verfechter des Spiritismus und schrieb ausgiebig über das Thema.350

Für ihn gab es materielle und geistige Konflikte in der Evolutionstheorie. Er glaubte, dass sein Konzept des Überlebens des Bestangepassten und des Fortschreitens des Geistes, das von einer übergeordneten Intelligenz geleitet wird, sowohl mit der Evolutionstheorie als auch mit den Ideen des modernen Spiritismus kompatibel seien. Dagegen sah er die rein materialistische Interpretation der Evolutionstheorie problematisch, sobald sie sich auf etwas bezog, wo dies nicht angemessen erschien. Wallace kannte als großer Naturforscher seiner Zeit und Mitbegründer der Evolutionstheorie die Kraft und die Grenzen dieser Theorie deutlicher als die meisten. Daher glaubte er auch, dass eine übergeordnete Intelligenz Ereignisse durch geistige und natürliche Gesetze leite und dass die Evolutionstheorie einen Teil jener natürlichen Gesetze beschreibe – aber nicht alles. Das wird gut durch die folgenden Äußerungen veranschaulicht:

„Jede neue Entdeckung in der Natur bekräftigt die ursprüngliche Hypothese [der Evolution]. Doch das ist die vernünftige und ehrliche Evolution, die sich überhaupt nicht mit Anfängen beschäftigt und bloß ein paar Verbindungsglieder in einer ziemlich offensichtlichen Kette folgt. Über die Kette sagt die Evolution nichts aus. Ich bin selbst davon überzeugt, dass es in einer Phase der Erdgeschichte einen bestimmten Akt der Schöpfung gab. Von diesem Moment an war die Evolution an der Arbeit, es wurde Führung ausgeübt.”351

„Es mag uns unmöglich erscheinen, genau zu sagen, wie diese Führung ausgeübt wurde und mit welchen Kräften das genau geschah. Doch für diejenigen, die Augen haben, um zu sehen, und Verstandeswesen sind, die gewöhnt darin sind, zu reflektieren, [ist es deutlich:] in den winzigsten Zellen, im Blut, in der gesamten Erde und überall im Universum der Sterne – in unserem kleinen Universum, wie man sagen könnte – gibt es eine intelligente und bewusste Richtung. Mit einem Wort: Es gibt einen übergeordneten Verstand.”352

Vergleichen Sie dies mit einem weiteren Zitat aus Swedenborgs Divine Providence:

„Die Menschen, die aufgrund ihrer Erkenntnis Gottes spirituell geworden sind und weise dadurch, dass sie ihr Streben nach eigener Bedeutung aufgegeben haben, erkennen die göttliche Vorsehung in der gesamten Welt und jedem ihrer kleinsten Teile.” 353

Wallace behielt sein großes Interessen an der Evolutionstheorie und am Spiritismus während seines langen Lebens. Ebenso verfolgte er Interessen in anderen Bereichen, die er als beständig und kohärent mit anderen Ideen ansah. Er interessierte sich für neue Ideen der Landreform und für Sozialreformen, blieb dabei stets seinen spiritistischen Überzeugungen treu und bekam dennoch als anerkannter Naturforscher und moderner Philosoph höchste Anerkennung. Viele weitere Auszeichnungen wurden ihm verliehen, darunter einen Ehrendoktor der Universität Oxford, die Darwin-Medaille der Royal Society, die Gründer-Medaille der Royal Geographic Society, die Königliche Medaille der Linné-Gesellschaft und sogar der Verdienstorden des englischen Königs. Wallace publizierte weiter zu vielen Themen und die Rezensionen waren durchweg wohlwollend.354

Schließlich ging er wieder auf Reisen, diesmal nicht als Forscher, sondern als Redner. Dazu arrangierte er 1886 eine Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. Lange Reden waren zwar nicht seine Lieblingsbeschäftigung, aber er war hoch interessiert an der Möglichkeit, amerikanische Spiritisten zu besuchen. So begann er seine Tour in Neuengland. An seinem ersten Wochenende in Boston besuchte er den Herausgeber der spiritistischen Zeitschrift Banner of Light, der Wallace mit örtlichen Spiritisten bekannt machte. Wallaces jüngster Aufsatz Are the Phenomena of Spiritualism in Harmony with Science? war in Bostoner Zeitschriften nachgedruckt worden. Daher traf er sofort auf interessierte Intellektuelle und Spiritisten. Wallace setzte seine Reise durch die Oststaaten, den Mittleren Westen und weiter nach Kalifornien fort und schrieb währenddessen für Banner of Light. Er besuchte Gegenden, die für einen Naturforscher von Interesse waren und traf sich mit Spiritisten im ganzen Land. Zuletzt erfüllte er sich noch einen Traum: Den Besuch der gigantischen Mammutbaum-Wälder an der amerikanischen Westküste.355

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