Osteopathie und Swedenborg

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SPIRITISTISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS UND DIE ERKLÄRUNG RELIGIÖSER UNABHÄNGIGKEIT

Viele Spiritisten entschieden sich dafür, die mit ihnen verbundenen religiösen Denominationen bzw. Sekten formal zu verlassen, als sie sich stärker in ihrer neuen Religion engagierten. Wie der Historiker Bret Caroll notiert, durchliefen Spiritisten eine Autoritätskrise. Sie waren der Überzeugung, dass ihre bestehenden Kirchen, Institutionen und religiösen Führer an Vitalität verloren hätten und keine Loyalität mehr verdienten. Die Spiritisten betrachteten sich selbst als aus anderen religiösen Traditionen hervorgehend, um an der spiritistischen religiösen Bewegung zu partizipieren und ein tieferes Verständnis der Wahrheit, breiteren Raum für das Gewissen und weniger formale Strukturen als in den institutionellen Kirchen zu entfalten. Sie beschrieben sich selbst als ihrer jeweiligen Tradition entwachsen und „[…] bereit, eine rationalere, spirituellere und praktischere Religion anzunehmen.”

Einige dieser Erklärungen klangen ziemlich eloquent, emotional oder dringlich. Ein Beispiel ist John S. Adams, der sich 1854 aus seiner kongregationalistischen Kirche in Chelsea, Massachusetts zurückzog und in Carolls Spiritualism in Antebellum America folgendermaßen zitiert wird:

„Sie [die Spiritisten] verlangen von mir meine eigene Freiheit zu leben. Ich muss meinen freien Willen anwenden, ganz im Gegensatz zur kirchlichen Autorität. Ich erkenne keine andere Autorität an als die Gottes [und würde] niemals Gottes Wahrheit aufgeben […] nein, niemals.”299

Nicht alle Spiritisten brachen die Verbindung zu ihren Kirchen ab. Das galt insbesondere für die Universalisten, die ihre spiritistischen Ideen mit dem ökumenischen Ansatz des Universalismus verbinden konnten. Viele Universalisten wurden so zwar Spiritisten, blieben aber zugleich bei ihren Gemeinschaften. An einigen Orten blühte der Spiritismus sogar innerhalb der universalistischen Gruppen auf. Das war beim Unitarismus zu einem geringeren Grad zwar auch der Fall, aber für die meisten Denominationen und Sekten galt es nicht. Die Mehrheit der Spiritisten ließ ihre ursprünglichen Traditionen hinter sich, sobald sie sich dem Spiritismus zuwandten.300

Für die Spiritisten bedeutete das nicht eine gänzliche Zurückweisung jeglicher Autorität. Vielmehr ging es ihnen um eine wichtige Unabhängigkeitserklärung, um nach religiöser Autorität in neuen und erfüllenderen Formen zu suchen. Sie interpretierten es so, dass sie das Joch der organisierten Religion abschüttelten, um religiöse Freiheit und eine neue religiöse Ordnung zu erleben. Sie stimmten darin überein, dass ein religiöses Glaubensbekenntnis wesentlich sei; doch sie akzeptierten nicht mehr die von ihnen als alt und starr wahrgenommenen Glaubensbekenntnisse und Praktiken der nicht-inspirierten Tradition.

Als Gruppe standen sie einem organisierten Klerus kritisch gegenüber und betrachteten das Priestertum als einen Versuch, Spiritualität zu monopolisieren. Sie behaupteten weiterhin, dieses Amt sei zur bloßen Routine degeneriert – entfernt von einer lebendigen Inspiration durch Gott. Viele Spiritisten wiederholten die antiklerikalen Sichtweisen von Davis und betrachteten einen formalen Klerus als Hindernis für geistiges Wachsen. Das führte – wie bereits erwähnt – zu einer großen Bewegung von ‚Kirchenfernen’, die nicht geneigt war, sich während der ersten Jahrzehnte der spiritistischen Bewegung an größere, dauerhafte Institutionen zu bilden. Erst Jahrzehnte später entstanden während des Niedergangs der Bewegung diverse Organisationen.301

SPIRITISTISCHE ZEITSCHRIFTEN UND ZEITUNGEN

Die spiritistische Bewegung wurde durch Zeitschriften und Zeitungen repräsentiert. Da Printmedien die primären Massenmedien Mitte des 19. Jahrhunderts waren, war es naheliegend, dass eine populäre Bewegung wie der Spiritismus in starkem Maße in Printmedien zum Ausdruck kam. Aber die spiritistischen Zeitschriften und Zeitungen boten mehr als bloße Übermittlung von Perspektiven sympathisierender Autoren zu spiritistischen Themen. Sie halfen auch dabei, die spiritistische Lehre zu verbreiten und die Spiritisten im Land zu vereinen. Wie schon erwähnt, war der Spiritismus eine weit verbreitete, diffuse Bewegung ohne zentrale Hierarchie und Organisation. Doch das gedruckte Wort erfüllte eine vitale Funktion, indem es die Beteiligten dieser verbreiteten Bewegung kommunikativ verband.302

Von Beginn an konzentrierten sich besagte Printmedien auf den religiösen Aspekt des Spiritismus. Die erste spiritistische Zeitschrift, die anspruchsvolle Monatszeitschrift Shekinah des Philosophen der Harmonie S. B. Brittan, wurde 1851 gegründet. Ihr Titel entstammte dem Hebräischen und bedeutet ‚Gegenwart Gottes’, was auf den jüdisch-christlichen Hintergrund des Spiritismus hindeuten sollte. Bereits 1852 folgte, ebenfalls von Brittan herausgegeben, die wöchentlich erscheinende Zeitung The Spiritual Telegraph, welche zum reichweitenstärksten und langlebigsten spiritistischen Periodikum der 1850 er werden sollte und bis 1860 erschien.

Neben zahlreichen kurzlebigen Periodika gab es eines, das zur bedeutendsten spiritistischen Veröffentlichung nach 1860 avancierte: Banner of Light. 1857 gegründet übertraf sie schon bald The Spiritual Telegraph und galt schon als einflussreichste und meistgelesene spiritistische Zeitung des späten 19. Jahrhunderts. Sie erschien bis in das Jahr 1907.303

Shekinah, The Spiritual Telegraph und Banner of Light verbreiteten jeweils ausführlich die Schriften von Davis. Sie tendierten alle dazu, sich auf den religiösen Aspekt des Spiritismus zu konzentrieren und banden dabei vieles von der swedenborgianischen Lehre mit ein, was Davis von Swedenborg übernommen hatte. Sie bezogen sich auch auf Swedenborg und publizierten einiges aus seinen Schriften. Banner of Light war sogar bekannt dafür, dass es den Swedenborgianismus zusammen mit Davis’ Werk und der magnetischen Heilung verfocht und die Gesundheitsreform verteidigte. Die drei bedeutenden Zeitschriften sprachen zudem auch andere Reformgedanken und Themen von öffentlichem Interesse an, wie etwa das Alltagsleben spiritistischer Medien.304

Spiritistische Printmedien spielten also eine Schlüsselrolle bei der Vereinigung der amerikanischen Spiritisten – ob sie nun in einer Großstadt oder in einer Kleinstadt lebten, vom Nordosten bis tief in den Mittleren Westen, von den großen Zentren spiritistischer Aktivität bis hin zu den abgelegenen, isolierten Zirkeln. Zwischen 1850 bis 1860 dominierte The Spiritual Telegraph als wichtigste und am weitesten verbreitete spiritistische Zeitung, danach bis 1890 Banner of Light. Auf diesen Pfaden gelangten spiritistische (und swedenborgianische) Ideen zu interessierten Lesern im ganzen Land. Sie zogen auch das Interesse all jener an, „[…] die sich aus der Fessel der Glaubensbekenntnisse zu lösen […] begannen und dienten dazu, alle zu verbinden, die schon am Spiritismus beteiligt waren.305

DIE GEOGRAFISCHE VERBREITUNG DES SPIRITISMUS

Der Spiritismus entstand im Bundesstaat New York und New York sollte auch der Hochburgen spiritistischer Aktivität bleiben, von wo aus sich der Spiritismus über das Land verbreitete. Die Bevölkerung im westlichen Teil des Bundesstaates New York war bereits bekannt für ihre Begeisterung für neue Ideen, weshalb die Gegend später auch den Spitznamen ‚Burned-over District’ bekam, da mehrere Wellen spiritueller Bewegungen, einem rasenden Waldbrand vergleichbar, über sie hinweg fegten. Phrenologie, Mesmerismus und Swedenborgianismus waren dort vor der Ankunft des Spiritismus bereits populär gewesen. Ende der 1840 er hatten dort die Ideen Swedenborgs eine begeisterte Anhängerschaft gefunden und der Swedenborgianismus war sehr gefragt.306

Nachdem Bush Davis unterstützt hatte, welcher seinerseits die Glaubwürdigkeit die Fox-Schwestern verbürgte und diese Ereignisse mithilfe der Philosophie der Harmonie interpretierte, akzeptierten New York und seine Umgebung den Spiritismus sehr schnell. New York im Besonderen und der Nordosten im Allgemeinen standen dem liberalen Denken dieser Richtung aufgeschlossen gegenüber und dies sollte sich auch über viele Jahre nicht ändern. Viele der Neulinge im Swedenborgianismus mit mesmerischem Hintergrund akzeptierten den Spiritismus als eine Erweiterung ihrer mesmerischen und swedenborgianischen Überzeugungen und verbreiteten seinen Einfluss rasch über den gesamten Nordosten der Vereinigten Staaten.307

1849 und 1850 reisten die Fox-Schwestern durch den Nordosten und schürten ihrerseits ein wachsendes Interesse für die neue spiritistische Bewegung. Es gab zudem eine bedeutende Anzahl durch Swedenborg beeinflusster universalistischer Geistlicher in dieser Region und viele von ihnen änderten Ihre Ansicht, um den Spiritismus als Befürworter der neuen Sache zu fördern. Die spiritistischen Zeitschriften Shekinah und The Spiritual Telegraph entstanden in New York und so breitete sich die spiritistische Bewegung rasch über den Nordosten und von dort aus weiter in westlicher und südlicher Richtung der Vereinigten Staaten sowie bis nach England und Europa aus. Gleichwohl gab es in den ersten Jahrzehnten der Bewegung im Burned-over District mehr Spiritisten als in anderen Gegenden des Landes. Man kann mit Sicherheit sagen, dass neugierige, aufgeschlossene Intellektuelle in den 1850ern aus diesem Teil des Landes gut mit den Ideen Swedenborgs und des Spiritismus versorgt wurden.308

 

SPIRITISTISCHE ÜBERZEUGUNGEN

Die Spiritisten vertraten detaillierte und komplexe Überzeugungen über ein sehr strukturiertes Leben nach dem Tod, die stark auf den Beschreibungen in Swedenborgs Schriften beruhten. Obgleich sie nicht die gesamte Theologie Swedenborgs übernahmen, standen sie der revidierten Version von Swedenborgs Sichtweise der geistigen Welt nahe, wie etwa die Philosophen der Harmonie. Die Spiritisten vertraten ihre spiritistische Ideologie sehr differenziert und dennoch blieben sie bezüglich ihrer metaphysischen Perspektive auf die geistige bzw. die natürliche Wirklichkeitsebene erstaunlich konsistent. Sie sahen darin einen ‚großen harmonischen Bereich’ bzw. ein geistiges Universum, welches von Gott geschaffen worden sei, um dieser natürlichen Existenzebene zu entsprechen. Der Tod war in ihren Augen lediglich ein Übergang, den jedes Individuum zum Verlassen der natürlichen Welt zu vollziehen habe, um als Geistwesen weiter zu existieren – mit derselben Identität wie im natürlichen Leben und dazu fähig, in Ewigkeit kontinuierlich fortzuschreiten.309

Den Spiritisten zufolge gab es sieben Grade oder Ebenen (auch ‚Sphären’ genannt) der Geisterwelt, die über eine Hierarchie hin zur Vollkommenheit reichten und die Gott im Zentrum und als Quelle allen geistigen Lebens und aller entsprechenden Kraft verorteten. Auf ihn nahmen sie durch Begriffe wie ‚Gottheit’ bzw. ‚Göttlicher Verstand’ Bezug, und es war auch nur von himmlischen Graden die Rede; eine Hölle schien es nicht zu geben.

Die Spiritisten gingen davon aus, dass die Lebenskraft Gottes ausstrahle und durch die höheren hin zu niederen, eher peripheren Ebenen verlaufe, wobei jede höhere Ebene als Einström-Quelle für die nächstniedrigere Ebene fungiere, wobei zwischen den Ebenen ein System korrespondierender Ursache und Wirkung bestehe, welches schließlich von der geistigen in die natürliche, materielle Ebene übergehe. Jedes Geistwesen durchschreite graduell verschiedene Ebenen, wobei seine Individualität unverändert bleibe. Dies gelte auch für Kleinkinder und ältere Menschen. Diese Lehre eines Lebens als Engel nach dem Tod, die mit universaler Erlösung verbunden war, tröstete viele, deren Kinder oder Geliebte bereits in jungen Jahren verstorben waren. Das spiritistische Modell beschrieb eine Kontinuität zwischen geistigem und natürlichem Aspekt als Entsprechung, wobei der geistige Aspekt in den natürlichen nicht nur einfließe, sondern ihn dadurch auch belebe. Es gab also eine Kette von der Gottheit hinab bis zur Menschheit. Ein Spiritist beschrieb dies als einen „[…] verbundenen Kanal des Einströmens – ein allgemeines Prinzip des Gebens und Nehmens vom höchsten zum niedrigsten Aspekt.”310

Der Kontakt mit Geisterwesen war das verbindende Element des Spiritismus, doch seine Bedeutung variierte bei den einzelnen Spiritisten beträchtlich. Alle Spiritisten stimmten jedoch darin überein, dass der Mensch ein grundsätzlich geistiges, in einem natürlichen Körper beheimatetes Wesen sei, dass dieser Geist nach dem Tod fortbestehe und dass die Geister der Verstorbenen mit in der natürlichen Welt lebenden Menschen kommunizieren könnten. Gleichwohl bestanden Differenzen über den Stellenwert dieser Kommunikationen. Einige Spiritisten empfanden, dass sich aus diesen Kommunikationen vieles ergeben könne, was gut und wahr sei, andere hingegen meinten, man solle diese Kommunikationen nicht als Selbstzweck betrachten, auch wenn sie als Beleg für eine höhere geistige Realität dienen könnten sowie dafür, dass Personen an sich selbst arbeiten sollten, um zu einem höheren Zustand der Güte zu gelangen – im persönlichen Bereich ebenso wie gegenüber der gesamten Menschheit.

Die Spanne der Spiritisten reichte von Medien, die ihre Geisterkontakte zur Unterstützung liberaler christlicher Überzeugungen nutzten, bis hin zu konfessionell gänzlich ungebundenen und nichtkirchlichen Praktikern, die ihre eigene göttliche Inspiration und Wahrheit ohne die Verwendung eines Mediums proklamierten. Es gab auch Spiritisten, die sich hauptsächlich auf Séancen und Geisterkontakte konzentrierten und keine höhere philosophische oder religiöse Deutung verfolgten. Gleichwohl vertraten die meisten Spiritisten eine Mischung aus all diesen Richtungen, wobei eine religiös-philosophische Interpretation des Phänomens des Geisterkontakts üblich war, und das unabhängig davon, ob der Kontakt durch ein Medium erfolgte oder durch eigene innere Erfahrung. Sie waren darüber hinaus der Überzeugung, dass ein angemessenes Urteilsvermögen gegeben sein müsse, um einen echten von einem nicht authentischen Kontakt zu unterscheiden. Die Spiritisten setzten sich intensiv damit auseinander, zu beurteilen, was ein bloßer psychischer Eindruck und was eine authentische spiritistische Offenbarung war. Auf diese Art und Weise betrachteten sie sich selbst, aber auch ihre Vorgänger.311

Swedenborg war als Person bei den Spiritisten aller Couleur einer der favorisierten Vorläufer. Er galt Davis als leitende geistige Instanz, dessen Schriften belegten klar seine Variationen swedenborgianischer Ideen. Viele Spiritisten wurden durch Swedenborgs lebendige Beschreibungen des Lebens nach dem Tod inspiriert und betrachteten ihn als Vorläufer ihrer Bewegung und als ein Beispiel für jemanden, der zum Geisterkontakt fähig gewesen sei. Einige Spiritisten benutzten Swedenborgs Lehren allerdings kaum und konzentrierten sich stärker auf ihn als Beispiel im Kontext des Geisterkontakts, mit einem nur flüchtigen Blick auf die höhere kosmische Ordnung. Obgleich sie einige swedenborgianische Ideen in ihre Paradigmen einschlossen, richtete sich die Aufmerksamkeit dieser Spiritisten deutlich stärker auf seine Beschreibungen spiritueller Erfahrungen als auf seine Lehren; folglich ignorierten sie seine Anweisungen, absichtlichen Geisterkontakt zu unterlassen. Letztlich suchten aber tatsächlich alle Spiritisten die Kommunikation mit der geistigen Welt auf eine Art und Weise, wie sie Swedenborg niemals gut geheißen hätte.312

Die Spiritisten glaubten an die Einheit von Wissenschaft und Geist und sie hofften, dass die Fortschritte in der Wissenschaft die Existenz des Geistes verifizieren würden. Dann werde eine geistige Wissenschaft entstehen und im Verständnis der Interaktion von Geist und Körper fortschreiten, zu mehr Einsichten in die menschliche Entwicklung gelangen sowie eine Verbesserung von Individuum und Gesellschaft ermöglichen, da diese Wissenschaft Gottes Gesetze beleuchten könne. Sie betrachteten diesen neuen Glauben als eine neue Wissenschaft, welche die geistige Realität erkennen und ein Überzeugungssystem mit wissenschaftlicher Beweiskraft aufbauen werde, welches sie stütze. Die Spiritisten betrachteten die geistige Welt so, dass diese einem allgemeinen Gesetz folge, das dem Naturgesetz des materiellen Universums entspreche und einer ‚universalen Vorhersehung’ folge. Sie behaupteten weiter, dass alles einer göttlichen Ordnung folge und sie „[…] begriffen eine einzige Natur, deren geistige und physische Dimension vermischt sind und entsprechend derselben Prinzipien des Naturgesetzes operierten.” Damit sind sie nicht den Anhängern des ‚Übernatürlichen’ zuzuordnen, denn sie folgten Swedenborgs Bemühungen, Religion und Wissenschaft miteinander zu harmonisieren. Allerdings bewegten sie sich jenseits eines rein auf physischer Sinnlichkeit beruhenden Studiums der materiellen Welt und favorisierten eine Wissenschaft des Geistes, welche die Natur der Seele erhellen sollte. Sie waren der Überzeugung, dass in der geistig-sinnlichen Erfahrung eine Wissensquelle liege und trachteten danach, Trance und innere Erfahrung als valide Forschungswerkzeuge für den Geist zu etablieren.313

Die Spiritisten rebellierten gegen das Konzept einer irdischen Geistlichkeit. Manche sahen sich dabei zwar von Geistern geleitet, aber alle weigerten sich, die Autorität kirchlicher Geistlicher anzuerkennen. Sie waren der Ansicht, dass der Spiritismus von

„[…] der religiösen Bigotterie befreit [ist], frei von den Ketten des Glaubensbekenntnisses und der Sekten, von den Fesseln konfessioneller Dogmen entbunden und in eine Sphäre des Lichts versetzt, in der sich die Seele entfalten kann.”

Sie lehnten den konventionellen Klerus also rundweg ab und fokussierten auf ihre eigenen spirituellen Erfahrungen und diejenigen ihrer Medien: Somit bestand keine Notwendigkeit mehr für Geistliche, die sie auf dem Weg zur individuellen und sozialen Wiedergeburt hilfreich leiten hätten können.314

DAS ANWACHSEN EINES AN PHÄNOMENEN UND SENSATIONEN ORIENTIERTEN SPIRITISMUS

Obgleich die religiösen und philosophischen Anschauungen der Spiritisten die Bewegung leiteten und prägten, war der auf Phänomene bzw. Erscheinungen bezogene Aspekt von ebenso großer Bedeutung. Viele Menschen hatten ihren ersten Kontakt mit dem Spiritismus aufgrund ihrer Neugier auf Geisterkontakte. Sobald sie von der Realität des Geisterkontakts überzeugt waren, begannen sie sich mit den religiösen und philosophischen Aspekten der Bewegung zu beschäftigen.315

Unglücklicherweise gewann dieser auf Phänomene bezogene sensationalistische Aspekt am Spiritismus nach dem Bürgerkrieg deutlich an Popularität und er wurde zunehmend als Betrügerei abgestempelt. Am Ende des Jahrhunderts waren diese sensationalistischen Aspekte vorherrschend und führten mehr und mehr zu bühnenreifen ‚Offenbarungen’, von denen viele öffentlich als Betrug entlarvt wurden. Auch einige Reformideen wurden ins Extrem getrieben und das Verhalten der Medien wurde immer mehr infrage gestellt. Obgleich die spiritistische Ideologie fortbestand, machte die Entlarvung spiritistischer Aktivitäten die Bewegung in der Öffentlichkeit zunehmend unglaubwürdig. Wie zuvor erwähnt, verließen Davis und andere spiritistische Führer die Bewegung und Ende des 19. Jahrhunderts bemühten sich einige Spiritisten, sich so zu organisierten, dass die betrügerischen, sensationalistischen Entertainer ausgesondert wurden. Der Spiritismus als religiöse Bewegung bestand bis ins 20. Jahrhundert fort. Er wurde erstmals 1893 mit der National Association of Spiritualists institutionalisiert, woraufhin weitere Gruppierungen entstanden. Gleichwohl wurde der Spiritismus in der öffentlichen Wahrnehmungen eher mit den betrügerischen Praktiken assoziiert, die im Verlauf des Spiritismus eher spät auftraten, als mit einer dynamischen, sehr populären intellektuell-religiösen Bewegung, die bestehende Paradigmen herausforderte.316

Eine weitere Bedrohung des Spiritismus entstand durch das Auftreten neuer metaphysischer Bewegungen in den 1870ern, wie etwa der Neugeist-Bewegung, der Theosophie und der Christian Science. Wie der Spiritismus beruhten auch diese auf Gedanken Swedenborgs, aus denen sie neue Ideen kreierten, welche innere Spiritualität und inneres Wachstum als Alternativen zum konventionellen Christentum eröffneten. Dies wird in späteren Abschnitten noch erörtert.317