Eine neue Ordnung

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»Genau«, pflichtete Roland mir bei.

Steins nickte.

»Also gut. Dann fahr zu diesem Rasthof, Roland. Je eher wir dort ankommen, umso besser.«

»Wir machen einen Fehler, ich sag’s euch«, maulte Martin.

Rolands Kumpel Gregor sprang vom Sitz aus dicht an mir vorbei und griff nach Martins Pullover. »Jetzt hör auf, Mensch! Reicht dir nicht, dass wir hier in der Scheiße sitzen, statt in der Suite?«

In Gregors gezischtem Satz schwangen Anklage und Hoffnungslosigkeit mit. Ich konnte ihn verstehen. Nicht zuletzt Martins Verhalten hatte die Katastrophe im Bunker mit ausgelöst und zum Verlust unseres sicheren Winterquartiers geführt.

Ich sah Schuld sowie Angst und noch etwas Undefinierbares in Martins Augen, als er sich gegen Gregors Klammergriff wehrte. Vergeblich. Der kräftige Mann hatte beide Hände in die Vorderseite von Martins Pullover verkrallt. Ich konnte sehen, wie weiß die Knöchel seiner Hände waren und dass der gespannte Pulloverstoff Martin Schmerzen bereitete.

Ich legte eine Hand auf Gregors Schulter. »Lass ihn Es ist geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen. Wir müssen uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Dahinten liegt ein schwerkranker Mann im Bus, der Ruhe und Versorgung braucht. Mit Martin können wir weitermachen, wenn wir in Eden angekommen sind.« Ich schenkte Martin ein Lächeln, das alle meine Zähne zeigte. Mit Befriedigung sah ich ihn erbleichen.

»Okay, alle hinsetzen und den Fahrer während der Fahrt nicht ansprechen«, ertönte Rolands sonores Organ. »Nächster Halt: Gasthaus zum schmutzigen Löffel.«

Ich stieß Martin auf den Sitz hinter Roland und setze mich in die Reihe auf der anderen Seite des Ganges. Steins nahm hinter mir Platz. Roland ließ den Bus vorsichtig anrollen.

***

Die Stille in dem LKW-Abteil wurde nur durch das gelegentliche Knacken der Petromaxlampe unterbrochen, die im Gang zum Büro des Majors an der Decke hing und ein wenig Wärme verbreitete.

Jörg räusperte sich, dann beugte er sich nach vorne in Richtung des Majors. »Der Mensch ist zwar des Menschen Wolf, aber das gilt nicht für alle Menschen. Es gibt immer weniger von uns, und gerade darum muss die Menschlichkeit jederzeit gelten. Nur so können wir als Menschen überleben.«

Hauptmann Klingenberger versteifte sich augenblicklich. Seine rechte Hand schob sich in Richtung des Pistolenhalfters, das er an der Hüfte trug. Der Major richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Plötzlich ertönte ein rasselndes Geräusch. Es dauerte einen Moment, bis die Anwesenden es als beginnendes Gekicher erkannten. Schließlich brach der Major in ein lautes, rumpeliges Lachen aus.

Nach einer Weile beruhigte er sich und sagte schmunzelnd: »Menschlichkeit, Herr Hauptmann Weimer? Ich sage Ihnen, wohin die Menschlichkeit die Menschheit führen würde: in den Tod. In den vorläufigen Tod, muss man heute ja sagen. Der Mensch ist tatsächlich des Menschen Wolf. Er ist und bleibt ein Tier, und das Menschliche ist seinem innersten Wesen fremd. Nein«, der Major erhob einen Zeigefinger, »der Mensch braucht eine starke Hand. Einen Leitwolf, wenn Sie so wollen, der Ordnung herstellt und dem er sich unterordnen kann, sonst beißt er irgendwann um sich. Er nimmt dann nur noch Rücksicht auf sich selbst, und alle anderen sind ihm egal. Egoismus ist der einzig echte Charakterzug des Menschen. Auf sich selbst zurückgeworfen zählt nur eines: der eine Mensch. Lassen Sie zwei Menschen hungern und legen dann vor beide ein einziges Stück Fleisch. Was wird wohl passieren? Ich sehe, Sie kennen die Antwort. Geben Sie mir also einen Grund, warum ich Sie und Ihre Truppe nicht hungern lassen sollte.«

Hinter Jörgs Stirn rasten die Gedanken. Der Major war offensichtlich geisteskrank. Gleichzeitig hatte er das Leben Jörgs und seiner Pilger in der Hand. Jörg schluckte. Er spürte die Blicke seiner Begleiter, ihre Angst, und gleichzeitig fühlte er eine Welle der Kraft, die von den Kindern ausging und ihn stützen sollte. »Wir sind Überlebende eines Notcamps der Einsatzkräfte. Wir lagen in der Nähe von Bonn, als die Stadt von Zombies überrannt und zerstört wurde. Eine Gruppe dieser … dieser Armee der Untoten hat unser Camp angegriffen. Wir konnten fliehen und uns bis hierher durchschlagen. Wir sind trotz allem gesund und gut ernährt. Wir haben bis jetzt überlebt. Reicht das als Grund?« Jörg sah dem Major ins Gesicht. Der Blick seines Gegenüber hatte sich während seiner Worte verschleiert.

Der Major schwieg und legte den Kopf leicht schief.

»Reicht das als Grund?«, hakte Jörg nach, als das anhaltende Schweigen seines Gegenübers weiter an seinen Nerven rieb.

Geistesabwesend nickte der Major. Ein kleines, fast seliges Lächeln spielte um seine Lippen. »Es reicht, Herr Hauptmann.« Er ging um den Tisch herum und stellte sich zwischen die Pilger, erhob beide Hände auf Kopfhöhe und drehte sich einmal um die eigene Achse. Mit Blick auf Lemmy blieb er stehen. »Willkommen in der Armee der neuen Ordnung!«, intonierte er dann. Seine Augen blieben auf Lemmy gerichtet, der unter dem starren Blick ein wenig in die Knie ging.

»Wie seltsam, jemanden wie dich hier zu treffen, alter Mann«, sprach der Anführer der Armee der neuen Ordnung nun Lemmy direkt an. »Wie lange habe ich dich oder jemanden wie dich schon nicht mehr gesehen?«

»Nicht lange genug, schätze ich. Lass mich … uns einfach in Ruhe. Du hast deinen Willen, oder?«

Der Major nickte zur Überraschung aller. »Du hast recht. Ich habe, was ich wollte.« Er erhob seine Stimme. »Ich habe tatsächlich, was ich wollte. Neue Begabte, die meine Armee verstärken werden. Ich erkenne eure Talente. Ich habe ein Auge dafür.«

Jörg sah mit Erstaunen, dass ihnen der Major tatsächlich zuzwinkerte.

»Wer … woher wissen Sie, was mit uns ist?«, ließ sich eine hohe Stimme vernehmen. Alle Köpfe drehte sich zu Belinda, die erschrocken die Luft einsog. »Ich wollte nicht vorlaut sein, oder so«, hauchte sie.

»Eine sehr gute Frage, junge Dame«, ließ sich der Major vernehmen. Er ging wieder um seinen Schreibtisch herum und ließ sich in seinem Stuhl nieder. Die Hände legte er entspannt auf die Tischplatte. »Eine Frage, die eine Antwort verdient.« Der Blick des Offiziers wanderte zu Lemmy. Kaum merklich nickte er ihm zu. Ein kaltes Lächeln huschte kurz über seine Lippen. »Mein Name ist Jonathan Arthur Bane. Ich wurde 1949 in den Vereinigten Staaten von Amerika geboren. Meine Eltern waren Angehörige der Streitkräfte, und wir zogen oft um. Eines Tages kamen beide bei einem Autounfall ums Leben. Zumindest wurde es mir so erzählt. Ich habe danach nie wieder eine grausamere Lüge gehört.«

Lemmy nickte zu diesen Worten, was Jörg mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. Der Major fuhr fort: »Ich erfuhr erst viel später, was wirklich geschehen ist und wer ich wirklich war. Nein, das stimmt nicht. Ich erfuhr nie, wer ich wirklich war. Ich erfuhr nur, was ich wirklich bin: ein Experiment der Regierung, entwickelt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und erdacht, um eine unschlagbare Armee gegen die Sowjets aufzustellen.«

»Natürlich, was auch sonst!«, kam ein Kommentar aus der Gruppe der Zuhörer. Der Major quittierte ihn mit einem Nicken.

»Ja, was auch sonst. Nicht wahr, Lemmy?«

Unwillkürlich schossen alle Köpfe zu dem großen Zottel herum, der den Major mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen intensiv ansah.

Flehentlich, dachte Jörg. Flehentlich. Er schaut den Major flehentlich an?

Bevor er jedoch etwas dazu sagen konnte, räusperte sich Lemmy. »Lass gut sein, Jonathan. Die Vergangenheit ist tot. Und sie aufersteht bestimmt nicht wieder.«

Der Major lächelte ein kleines, sarkastisches Lächeln. »Du musst es ja wissen, alter Freund.«

»Was meint er damit?«, verlangte Jörg zu wissen. Mühsam unterdrückter Ärger gerann in seiner Stimme zu Wut.

Lemmy hob beruhigend die Hände. Ich erkläre alles. Später, sandte er in die Gedanken von Jörg.

»Lemmy, ich bitte dich«, sagte Bane. »Entspanne und mach das Beste aus der Situation. Du kannst hier bald unter Freunden sein.«

»Warum klingt das bei dir wie eine Drohung, Jonathan?«

Der Major hielt seine Hände in einer Geste verletzter Unschuld vor die Brust. »Und das nach allem, was wir erlebt haben. Du tust mir Unrecht, Lemmy. Wenn du dich mir und der neuen Situation nur ein wenig öffnen würdest, wäre alles viel leichter.«

»Ha! Leichter? Für dich vielleicht, Mann! Aber so leicht mache ich es dir nicht. Vergiss es und lass mich und die Kinder hier in Ruhe!«

Der Major senkte den Kopf und sah mit entrücktem Blick auf die Tischplatte. Dann nickte er. »Also gut. Ich verstehe. Wir reden ein anderes Mal darüber.«

Jörg hatte den Dialog der beiden mit steigender Verwunderung verfolgt. Bei dem Wort »Kinder« hatte er seltsamerweise das Gefühl, auch damit gemeint zu sein, ebenso wie Marion. Lemmy musste eine Menge erklären. Und diesmal würde die ganze Wahrheit auf den Tisch kommen!

Der Major räusperte sich. »Ich sehe eine Menge Fragen in Ihren Gesichtern. Vielleicht kann ich Ihnen einige davon beantworten, indem ich Ihnen meine Geschichte erzähle. Meinen ehemaligen Namen kennen Sie jetzt. Er gehört zu einer längst toten Person. Diese Person, die ich einmal war, verlebte eine ganz normale Soldatenkinderkindheit, bis meine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Das habe ich zumindest lange, lange Zeit geglaubt. Bis ich meine Akten fand und die Wahrheit erfuhr. Ich bin ein Kind des Phönix-Projektes. Und wie der Namenspatron dieses Zuchtprogrammes habe ich mich aus der Asche der Zivilisation erhoben.«

»Projekt Phönix? Klingt eher wie ein Luftwaffentestprogramm«, plapperte Marion nervös dazwischen.

Jörg verstand sie gut. Die Situation zehrte extrem an den Nerven, selbst wenn man nur der verbalen Kommunikation folgen konnte, so wie sie.

 

Der Major lächelte. »Sie haben recht. Zunächst war es auch ein Projekt der Luftwaffe – zumindest offiziell. Im Hintergrund zogen jedoch diverse Geheimdienste die Fäden. Ziel dieses Projektes war es, durch gezielte Zucht und Manipulation PSI-begabte Menschen zu erschaffen. Der Weltkrieg hatte gezeigt, dass mit konventionellen Methoden der vermeintliche Sieg nicht nur teuer erkauft, sondern wenig beständig war. Die Schlappe in Korea und der Kalte Krieg taten ein Übriges, um die Köpfe hinter Phönix davon zu überzeugen, dass nur dieses Programm dauerhaft Aussicht auf Erfolg hatte. Sie kennen vielleicht den Film, in dem Männer Ziegen zu Tode starren wollen?«

Ein paar der Anwesenden nickten.

»Dieser Film war als Ablenkungsmanöver für die Öffentlichkeit gedacht. Er sollte die PSI-Diskussion ins Lächerliche ziehen und war erfolgreich damit. In Wahrheit basierte der Film nur auf realen Misserfolgen, denn wir waren mehr als erfolgreich.« Bei diesen Worten ließ er seinen intensiven Blick über die Kinder schweifen. Etwas wie Wohlwollen blitze in seinen Augen auf. »Ja, wir waren überaus erfolgreich. Ich selbst war Teil des Programmes, wuchs im wahrsten Sinne des Wortes in ihm auf, nachdem meine Eltern getötet worden waren. Ich erwies mich als glühender Verfechter des Programms und als absolut loyal. Schließlich waren die Angehörigen des wissenschaftlichen Stabes, die militärischen Mitarbeiter und die Testpersonen meine neue Familie. Eine meiner Begabungen ist es, in Sekunden zu erkennen, ob jemand ebenfalls PSI-Talent hat und wie stark es ausgeprägt ist.«

Jörg musste sich nicht zu den anderen umdrehen, um ihre plötzliche Anspannung zu spüren. Spielte der Major nur ein Spiel mit ihnen? Mit trockenem Mund folgte er weiter dessen Worten.

»Ich wurde schließlich Leiter des Programmes. Nach und nach baute ich ein weitverzweigtes Netzwerk von Wissenschaftlern und Kontaktpersonen auf, das sich über die ganze Welt erstreckte. Wir nahmen Einfluss auf die Entwicklung vieler Kinder. Die zahlreichen Fehlschläge konnten uns nicht entmutigen, wenn sie auch gelegentlich sehr kostspielig waren oder ungeheuer negative Publicity einbrachten. Ich erinnere mich da an das Desaster mit einem gewissen Schlafmittel, dessen katastrophale Nebenwirkungen den Nutzen der Genveränderungen, die es bewirken sollte, bei Weitem in den Schatten stellten.«

»Sie … Sie waren dafür verantwortlich?«, schrie Marion »Eine meiner Tanten war eines der Opfer! Wissen Sie, wie sehr sie unter den verkümmerten Armen zu leiden hatte? Sie Monster!«

Marion machte Anstalten, sich auf den Major zu stürzen. Da stand Klingenberger wie aus dem Boden gewachsen vor ihr und gab ihr eine Ohrfeige. Marion erstarrte, dann schluchzte sie plötzlich auf. Jörg ging zu ihr und nahm sie in den Arm.

Der Major nickte Klingenberger zu, bevor er weitersprach: »Frau Theobald, Ihre Tante hat etwas unglaublich Großem gedient. Und wie bei allem Großen sind Opfer unvermeidlich. Dass es so viele sein würden, war allerdings nicht geplant. Doch die Probleme hatten auch ein Gutes: Die nächsten Generationen der genverändernden Substanzen waren deutlich ausgereifter und ihre Wirkung phänomenal. Es treten zwar immer noch körperliche Veränderungen auf, aber längst nicht mehr jedes Mal und auch nicht in der Heftigkeit, wie damals.«

»Aber Sie sind ein Zombie! Wieso können Sie hier stehen und uns all das erzählen?«, wollte Bernhard wissen. Auch ihm merkte man die Anspannung nur zu deutlich an.

»Eine gute Frage, mein Sohn. Ich war bei Ausbruch der Seuche auf einer geheimen Forschungsstation in Norwegen, abgelegen und jenseits des Polarkreises. Wir hatten uns einen der Zombies beschafft, um seinen Metabolismus unter Arktisbedingungen zu erforschen. Leider hatten wir sein letales Potential unterschätzt. Bei einer Untersuchung rastete er aus, und wir hatten erhebliche Mühe, in wieder zu bändigen. Dabei verletzte er mich. Ich bekam die Symptome, die wir aber zunächst für eine Grippe hielten. Uns war der Übertragungsweg des Virus nicht ausreichend bekannt.

Als ich schließlich kollabierte, wurde ich künstlich beatmet und intravenös ernährt. Ich fiel ins Koma. Bei meinem Erwachen war ich das.« Er drehte sich wie ein Tänzer einmal um die eigene Achse. »Nach und nach entdeckte ich, was aus mir geworden war. Ich verstand dich plötzlich besser, Lemmy. Und ich entdeckte noch etwas: Als ich mein Krankenzimmer verließ, stellte ich fest, dass der Stützpunkt komplett zombifiziert war. Seltsamerweise spürte ich die Zombies, so wie man ein Licht in der Nacht aus der Ferne sieht. Ich … konnte nach diesen Lichtern greifen. Und wenn ich sie ergriffen hatte, konnte ich mit ihnen tun, was immer mir beliebte.«

Jörg sah mit Unbehagen, dass die Erinnerung den Major geradezu in Verzückung zu versetzen schien.

»Ich konnte die Zombies lenken! Wenn auch nur mühsam. Experimente zeigten, dass Elektroschocks die Kontrolle deutlich vereinfachten.«

»Darum die Halsbänder?«, mutmaßte Bernhard.

Der Major nickte. »Die und die Elektroketten. Ich besaß nun eine Kampftruppe. Und ich hatte überlebt.«

Lemmy schnaubte, was ihm einen Seitenblick des Majors eintrug.

»Es war eine Fügung, ohne Zweifel. Ich hatte jetzt eine Mission.«

»Die Menschen zu versklaven?«

»Frau Theobald!«

Der Aufschrei des Majors ließ Marion einen Schritt zurückweichen. Alle Anwesenden spürten die Welle der Macht, die von Bane aus durch den Raum schwappte. »Sie haben keine Ahnung. Also schweigen Sie!« Gemäßigter fuhr er fort: »Meine Aufgabe war klar. Ich musste eine neue Ordnung errichten, eine neue Gesellschaft formen. Eine Gesellschaft, die die Fehler der alten, untergegangenen Zivilisation nicht wiederholen durfte. Einer der Fehler, der immer wieder zu Unruhen und Konflikten geführt hatte, war das Aufbegehren der Unterschichten. Was lag also näher, als diese Schicht aus den Zombies zu bilden, die es in endloser Zahl gibt? Eine Rasse von geborenen Arbeitstieren: leicht zu lenken, stets ersetzbar und einfach zu versorgen.«

»Und wer soll sie lenken?«, frage Jörg. »Wer bildet in dieser famosen neuen Welt die herrschende Rasse?«

»Sie können sich die moralische Empörung sparen, Herr Weimer. Sie wissen die Antwort selbst.«

»Sie meinen ...«. Jörgs Augen wurden im Moment des Begreifens groß.

***

»Gemütlich«, hörte ich Erich sagen und sah, wie er die Spinnweben zur Seite fegte, die die Eingangstür des dunklen und muffigen Gastraumes versperrten. Er trat auf die knarzenden Dielen und bedeutete Roland, der mit ihm zusammen Levi trug, den Kranken vorsichtig auf einer Eckbank abzulegen. Dann sah er sich im Raum um. Der Strahl seiner Taschenlampe zuckte über leere Tische, Stühle, die bar jeder Ordnung im Raum herumstanden, und streifte zahlreiche zerbrochene Flaschen, die auf dem Tresen und in den Regalen dahinter lagen. Ein Bein schaute hinter der Theke hervor. Ein Damenschuh ließ den Schluss zu, dass es sich beim Besitzer um eine Frau gehandelt haben musste. Der Zustand des Beines erlaubte nicht mehr als eine bloße Vermutung.

»Boah! Mir wird schlecht. Wie das stinkt!«, würgte Gregor hervor und stürzte an eines der Fenster des Schankraumes, das er sofort aufriss.

Zusammen mit einem Schwall eiskalter, aber frischer Luft stürmten Myriaden von Schneeflocken in den Raum. Gregor ließ das Fenster noch einen Moment geöffnet, dann schloss er es gegen den Druck des heulenden Windes.

»So! Besser«, sagte er und wischte sich den Schnee von der Jacke.

Roland hatte sich derweil hinter die Theke begeben und gebückt. Er kam nun mit dem Bein und einem angewiderten Gesichtsausdruck wieder nach oben. »Sollen wir uns freuen, oder nicht?«, frage er in die Runde.

Erich zuckte mit den Schultern. »Besser, als den Rest auch noch entsorgen zu müssen. Schmeiß es aus der Hintertür. Du, Gregor, Jonas und Michael seht zu, ob ihr Holz findet. Das Bisschen hier unter dem Ofen reicht nicht lange. Gerhard und Tom heizen den Ofen an. Ich gehe mit Sandra auf Erkundungstour. Mal sehen, was unser neues Domizil so an Überraschungen parat hält.«

Ich ging mit Erich durch die Verbindungstür zur Küche. Ich war überrascht, dass niemand aufbegehrt hatte, als er das Kommando an sich gerissen hatte.

»Gut gemacht, Großer«, sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter. Fast musste ich mich dafür auf Zehenspitzen stellen.

Erich sah mich verständnislos an.

»Na, dass du dich so elegant zu unserem Anführer gemacht hast.«

»Ach so, das. Nein, ich bin nicht der Anführer. Ich fand nur, dass die Aufgaben gemacht werden müssen und konnte nicht alles alleine tun.«

Er hatte recht. In beidem. Er war nicht unser Anführer, und die Aufgaben mussten tatsächlich getan werden. Verdammt! Ich hätte die Einteilung vornehmen sollen, als wir noch im Bus saßen. Was war nur mit mir los? Ich fühlte mich seit dem gestrigen Tag … ich weiß auch nicht … als hätte ich einen schlechten Trip geschmissen und jetzt einen Kater. Ich wanderte wie durch leichten Nebel. Ich musste unbedingt mit Steins reden.

»Sieh mal, Sandra, eine Kühlkammer.«

»Lass die mal bloß zu. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie es da drin aussieht und riecht.«

»Ich glaube nicht, dass es so schlimm ist. Vielleicht haben wir Glück und finden dort noch etwas Gemüse oder Obst.«

Erich trat an den Griff der Tür und mühte sich sichtlich damit ab, ihn in die »Offen«-Position zu ziehen. Ich trat neben ihn und legte mit Hand an, obwohl ich ahnte, was uns dahinter erwarten würde.

Knirschend gab der Griff nach, und die Tür glitt leise quietschend zurück.

Erich drehte sich grinsend zu mir. »Na siehste. So schlimm ist es doch gar n...«

Die Hand kam wie eine Schlange aus der Öffnung geschossen und krallte sich in Erichs Schulter.

»Ah! Scheiße! Sandra, hilf mir!«

Ich sprang an Erich vorbei. Im Schein meiner Taschenlampe erschien die Besitzerin der Hand. Ihr gehörte wohl auch das Bein im Schankraum. Mühsam hopste sie auf dem verbliebenen Bein, um das Gleichgewicht zu halten, das ihr die ruckartigen Bewegungen Erichs zu rauben drohten.

Ich trat ihr mit aller Gewalt in den Bauch. Ihr Griff löste sich sofort. Die Kraft des Tritts schleuderte sie nach hinten in den Kühlraum. Ich setze ihr nach und zog im Laufen mein Messer. Sie krachte auf einen Stapel Kartons, da war ich schon über ihr und stieß mein Messer bis zum Griff in ihr rechtes Auge. Sie erschlaffte sofort, so als sei ein Schalter umgelegt worden. Ich stand auf, zog meine Waffe aus ihrem Kopf und reinigte sie an ihrer Kleidung.

Erich stand keuchend an den Türrahmen gelehnt. »Danke. Danke dir. Das war verdammt knapp!«

Ich nickte und grüßte mit dem Messer. Eine Geste zwischen »schon gut« und »pass das nächste Mal besser auf«. Laut sagte ich: »Lass uns den Raum schnell durchsuchen und dann schaffen wir den Kadaver hier raus. Ich glaube, ich kann schon das Kaminfeuer riechen. Wenn die hier auftaut, dann stinkt es richtig.«

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