DJOUDJOU - Blut-Organe

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Johnny muss zum Psychologen, er hört eine Stimme in sich – Das Unglück nimmt seinen Lauf

Es war am Anfang nur das Weinen eines Kindes. Es weinte unregelmäßig. Und dann irgendwann war das Kind fast ohne Pause da, so dass er kaum noch schlafen konnte. Das, zusammen mit der Affäre seiner Frau, machte ihn depressiv und fertig. Zum ersten Mal seit Jahren nachdem er das Haus der Eltern verlassen hatte, musste er sich wieder psychologisch helfen lassen.

Sein Psychologe versuchte, die Sache so sachlich und rational wie möglich zu erklären. Das Kind, das weinte, wäre er selbst, der einfach den Betrug seiner Frau und den Tod des Vaters nicht verkraften konnte.

Mehrere Psychologen wiederholten fast die gleiche Erklärung. Es wurde aber nicht besser. Er sammelte indessen immer mehr Beweise, dass seine Frau ihn betrog, aber es fehlte ihm der Mut sie zur Rede zu stellen. Er hatte Angst, dass sie ihn deswegen verlassen könnte, um zu ihrem Liebhaber zu gehen. Die Vorstellung, wieder eine wichtige Person in seinem Leben zu verlieren, machte ihm richtig Angst.

Als er dann entdeckte, mit wem seine Frau ihn betrog, wurde ihm alles zu viel. Er hatte einen Nervenzusammenbruch und musste stationär behandelt werden. Seine Ängste von früher kamen wieder, der Kampf gegen den Tod, damals auf dem Fußballplatz, der Tod seines Vaters, die Einsamkeit in der Kindheit, alle waren wieder da, und die harte Arbeit, die er über 15 Jahre an sich geleistet hatte, war wieder futsch. Und diese Stimme?

Diese Stimme in ihm war nicht still. Das Kind hatte aufgehört zu weinen, aber jetzt redete es ständig. Es redete in zwei Sprachen. Die eine kannte er gut und verstand sie, weil er selbst gut Französisch sprach, aber die zweite Sprache war ihm unbekannt.

Diese Stimmte übernahm langsam, aber stetig die Macht über ihn, und er wusste nicht, was er tun konnte. Er besuchte die besten Psychologen, sogar in Amerika, aber die Stimme war nicht zu stoppen. Alle Leute meinten, er sei psychisch krank, und hätte Wahnvorstellungen wegen seiner schwierigen Lebenssituation, und die Affäre seiner Frau wäre der Auslöser.

Aber er war sich sicher, dass es keine Einbildung war, es war keine Wahnvorstellung, keine Halluzination, er selbst war nicht krank, nicht verrückt. Diese Stimme existiert wirklich, sagte er immer.

Irgendwann fing das Kind wieder an zu weinen und erstmals drohte es richtig. Die meiste Zeit hatte es bis dahin in der unbekannten Sprache geredet, die er gar nicht so einfach wiedergeben konnte, aber nun sprach es häufiger Französisch: „Libérez moi, libérez moi“ oder „vous devez mourir, pour que je sois libérez“ und dann redete es wieder in der unverständlichen Sprache.

Als er das Dr. Helling, seinem Psychologen erzählte, entschied dieser sich, Dr. Camara zu Hilfe zu ziehen. Dr. Camara war Facharzt für Psychotherapie, ein bekannter Spezialist der Region und seine Praxis war in Frankfurt.

So kamen Johnny und Dr. Camara in Kontakt. Nach einem Telefonat vereinbarten sie einen Termin in seiner Praxis in Frankfurt.

Dr. Camara hatte ihm dabei gesagt, dass er die Sache mit seiner Frau auf den Tisch bringen sollte, um eine Belastung weniger zu haben, und danach würde man sehen, wie sich die Stimme veränderte. Er riet ihm auch, einen langen Sparziergang zu machen und sich Gedanken über seine Kindheit bis heute zu machen, damit sie beim nächsten Termin darüber reden könnten.

Obwohl er sehr darunter litt, hatte er seiner Frau bis dahin nichts gesagt und hatte den Psychologen verboten, ihr etwas davon zu erzählen. Jetzt ging kein Weg mehr daran vorbei. Er hatte gespürt, dass Dr. Camara ihm helfen könnte, er war der Einzig, der ihm das Gefühl gab, dass er verstanden wurde, dass er nicht verrückt sei.

Er spazierte schon seit fast einer Stunde durch den Wald hinter dem Vivarium von Darmstadt und erinnerte sich an alles, wie es der Therapeut geraten hatte. Er sollte eine Passé Revue machen, bevor sie sich am nächsten Tag wieder trafen.

Er ging sein Leben durch, von dem Moment, als er anfing als Kind Sachen bewusst wahrzunehmen bis zu dem Tag, als er den Schwangerschaftstest in seiner Mülltonne gefunden hatte. Der Tag, an dem die Stimme geboren wurde. Jetzt wollte er mit Lisa darüber reden, und er wollte nun wissen, wer der Liebhaber war.

Als er wieder zu Hause ankam, war Lisa da und wunderte sich, dass Johnny schon so früh nach Hause gekommen war.

„Ich habe dein Auto gesehen, aber du warst nicht da, wo warst du denn?“

„Du hättest mich anrufen können, wenn es dir so wichtig gewesen wäre, wo ich bin“, antwortete er.

„Das habe ich auch getan, aber dein Handy ist aus“, sagte sie.

Johnny nahm sein Handy aus der Tasche, und tatsächlich war es ausgeschaltet.

„Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Sorgen um mich oder um dich?“, fragte er leicht zornig.

„Was soll das, Jo?“

Sie liebte es, ihn Jo zu nennen, wie man ihn in seinem Freundeskreis nannte.

„Wie lange geht das schon, Lisa?“

Lisa war richtig überrascht. „Was, wie lange?“, fragte sie.

„Wer ist er?“

„Von was und wem sprichst du gerade, Jo?“

„Tu nicht so, als ob du nicht verstehst, was ich meine. Seit wann betrügst du mich?“, insistierte Johnny.

„Jo, ich weiß nicht, was mit dir los ist. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, aber mich als untreue Frau darzustellen ist respektlos. Du kennst meine Werte und meine Meinung zum Fremdgehen.“

Lisa war sich ihrer Sache sicher. Sie war sich sicher, dass Johnny sie nicht gesehen haben konnte. Sie hatte tolle Vorkehrungen getroffen und war kein offenes Risiko eingegangen. Als er das erste Mal misstrauisch geworden war, hatte sie sofort reagiert. Sie schrieben sich kaum noch SMS, und sie hatte ein anderes Mailkonto angemeldet, über das ihre Korrespondenz lief. Sie hatte sich nie bei Erkan aufgehalten, ohne dass die Mutter der kleinen Luna dabei gewesen wäre. Deswegen versuchte sie in die Offensive zu gehen, davon ausgehend, dass Jo wieder nur misstrauisch war und überhaupt keine Beweise in der Hand hatte.

„Jo, ich finde sehr beleidigend, was du hier über mich sagst. Ich verstehe, dass es dir nicht gutgeht. Ich verstehe, dass du überfordert bist. Dr. Helling sprach von Einbildungen und Wahnvorstellungen. Ich sage nicht, dass du welche hast, aber vielleicht…“

„Ha! Bitte hör mit dem Theater auf, Lisa. Du machst dich lächerlich, wenn du versuchst, dich wie eine reine Frau darzustellen. Wer hat hier wen respektlos behandelt? Wer geht fremd und verletzt den anderen?“, schimpfte Johnny.

„Ha, ich dich respektlos behandeln? Du warst doch derjenige, der mit dem Hausmädchen eine Affäre hatte. Und jetzt willst du die Sache umdrehen. Wen's juckt, der kratze sich!“, griff Lisa selbstbewusst an.

Jo fühlte sich kurz in die Defensiv gedrängt und rechtfertigte sein Verhalten von damals.

„Das ist schon lange her, und du wolltest nach der Geburt von Jonas nichts mehr mit mir zu tun haben. Diese Sache ist erledigt. Hatte mich entschuldigt. Nichts ist mehr passiert.“

„Okay, ich verzeihe dir, auch deine Vorwürfe jetzt. Du bist müde, und du solltest dich ausruhen. Ich betrüge dich nicht, Jo. Wir haben doch alles gut.“

„Lisa, das macht mich verrückt, weißt du“, Johnny setzte sich und fing an zu weinen. „Ja, das macht mich verrückt, zu wissen, dass du mich seit Monaten betrügst. Diese Stimme in mir ist erst entstanden, nachdem ich erfahren habe, dass du mich betrügst.“

„Wie? Hä, was heißt erfahren? Hast du mich jemals hier oder woanders mit einem Mann angetroffen?“, gab sie weiter die Unschuldige.

„Ich wollte dir einmal eine Überraschung machen, da du abgenommen hattest und sehr schön aussahst. Ich wusste aber deine neue Größe nicht und habe deswegen in deinem Schrank in einem deiner Röcke nach der neuen Größe schauen wollen. Da habe ich gesehen, dass du überall Kondome versteckt hast.“

„Ja und? Wir haben doch immer Kondome, du weißt, dass ich keine Pille nehme, und wenn wir es in der Fruchtbarkeitsperiode treiben wollen, ziehen wir doch immer eins über, oder? Siehst du? Siehst du, wie du dir umsonst das Leben schwer machst? Mein Schatz, ich habe die Kondome so verteilt, damit die Kinder nicht dran kommen. Verstehst du? Das sage ich doch. Du bist nur erschöpft“, argumentierte Lisa.

„Ja, das wäre nicht das Problem, wenn es die Kondome gewesen wären, die wir benutzen. Ich kaufe immer die gleichen. Das schlimmste ist aber, dass ich in der Mülltonne einen Schwangerschaftstest gefunden habe. Erst da habe ich deine Verwandlung der letzten Monate verstanden.“

Lisa setzte sich und wusste nun, dass sie ertappt war und es sich nicht mehr lohnte, etwas zu bestreiten.

Auf einmal war es ihr peinlich, wenn sie sich vorstellte, was er sagen würde, wenn sie ihm den Mann nannte. Das würde ihm noch mehr wehtun. Es ging nun darum, sagte sie sich, alles zu tun, dass er nicht erfuhr, mit wem sie Sex hatte. Sie würde lügen. Sie entschied sich deswegen, alles zu gestehen, um nur keinen peinlichen Fragen mehr ausgesetzt zu werden.

„Es tut mir leid, Jo, du hast Recht. Ich hatte eine Affäre mit einem Mann, den ich zufällig im Internet kennengelernt habe. Es tut mir sehr leid. Ich werde sofort damit aufhören.“

Sie hoffte so sehr, Jo damit zufriedengestellt zu haben und die Diskussion schnell zu beenden.

„Es war ein Fehler. Es ist einfach so passiert. Ich glaube, es war mehr die Neugier. Aber ich kann dir versprechen, das hat nichts mit dir zu tun. Er ist nur halb so gut wie du. Es war einfach ein Fehler. Ich bitte um Verzeihung.“

„Wie heißt er? Wo kommt er her? Wie alt ist er? Was macht er?“, fragte Johnny.

 

„Ah, äh, du willst wissen, wie er, na ja er ist, ach, das ist doch nicht wichtig, Jo. Lassen wir das Thema doch hinter uns, und schauen wir nach vorne: Wie gesagt, ich werde damit aufhören“, antwortete sie.

„Lisa, die Art, wie du das Gespräch möglichst schnell beenden möchtest, zeigt mir, dass du etwas Peinliches verbergen willst. Mein Instinkt als Rechtsanwalt sagt mir, dass du lügst. Wer ist der Mann? Man sagt oft, und es stimmt meistens, dass der Apfel nicht weit vom Baum fällt. Wer ist dieser Mann, verdammt nochmal? Es ist mein Recht es zu wissen. Bitte höre auf, mich wie ein Kind zu behandeln. Du machst mich krank. Wegen dir bin ich das, was ich jetzt bin. Die Stimme fing in dem Moment an, als ich den Test gesehen habe.“

„Es tut mir leid, Jo. Das Kondom war ein paar Mal geplatzt, und ich dachte, dass ich schwanger sein könnte, deswegen der Test, aber ich bin nicht schwanger. Einen Aidstest mache ich auch noch.“

„Aber wer ist der Mann? Unser Nachbar?“

„Bist du verrückt? Übertreibe auch nicht. Ich bin keine Hure und keine verantwortungslose Frau“, sagte sie sauer.

„Wer denn dann? Wen willst du decken? Sag es doch! Warum willst du es nicht sagen? Vielleicht ist es sogar Erkan? Wer weiß, alles ist möglich. Ich traue dir alles zu. Das ist der Mann, mit dem ich dich öfter sehe, wegen Luna und Melanie, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er es sein kann. Sag mir einfach wer es ist, damit ich die Sache hinter mir habe.“

Lisas Gewissen gewann über ihren Stolz.

„Es ist so peinlich, Jo, aber es ist so passiert, einfach so passiert. Es tut mir leid. Du kennst den Mann…“

„Ist es doch Erkan? Sag bitte nicht ja!“

Lisa reagierte nicht, was bedeutete, dass es stimmte.

Erkan, halb Türke, halb Deutscher war der Opa von Luna, der Freundin ihrer Tochter Melanie. Er wohnte im gleichen Haus wie seine Tochter und ihre Familie. Seine Frau war schon vor 10 Jahren gestorben. Er war 65 Jahre alt und Rentner. Er kümmerte sich um die kleine Luna, da ihre Eltern mit dem Nahrungsmittelladen sehr beschäftigt waren. Deswegen war Luna fast überall mit ihrem Opa. Er war ein kleiner Mann, vielleicht 1,70 m, mit einem ordentlichen Bierbauch. Deswegen hätte Johnny niemals im Leben gedacht, dass seine Frau so einen Mann auch nur küssen könnte.

Auf einmal fing das Kind in seinem Kopf an zu weinen. Jo stand auf und schrie: „Nein, höre auf, bitte, höre auf, bitte!“ Es war das erste Mal, dass er sich so gegen diese Stimme auflehnte. Dr. Camara hatte ihn gefragt, warum er mit der Stimme nicht redete. Er hielt seinen Kopf in den Händen und schüttelte ihn hin und her. Bald wurde er total rot, was Lisa Angst machte. Sie ging zu ihm, versuchte ihn zu beruhigen.

„Lass mich bitte in Ruhe, berühre mich nicht. Mit Erkan? Warum nur mit dem? Bin ich so schlecht im Bett gewesen, dass du nur einen alten Rentner nehmen kannst?“

„Es tut mir echt leid. Es war nicht geplant, nicht gewollt. Ich habe beim ersten Mal gedacht, dass es nur ein Ausrutscher war, aber dann ist es weitergegangen. Ich weiß es, Jo, ich weiß, dass der Mann alt ist, nicht gut aussieht, dass er eigentlich eine Beleidigung für dich ist“, erklärte Lisa.

Jo hörte ganz still zu. Er hatte sich wieder beruhigt, stand am Fenster und schaute nach draußen in den Garten.

„Ja, warum hast du es dann gemacht, und warum so lange? Hast du dich verliebt? Liebst du ihn?“

„Es ist besser, wenn wir es dabei belassen, Jo. Es war ein Fehler. Ich werde die Beziehung beenden“, sagte Lisa.

Johny drehte sich prompt zu ihr um: „Du sprichst von Beziehung. Das heißt es war gar keine Affäre. Es war eine echte Beziehung?“

„Ich möchte dich nicht weiter verletzen, Jo. Du bist sehr aufgewühlt. Es ist besser, wir sprechen ein anderes Mal darüber. Ich glaube, es war schon ein dicker Brocken für dich zu erfahren, dass ich dich mit Erkan betrogen habe.“

„Nein, Lisa, kümmere dich nicht um mich. Habe kein Mitleid mit mir. Wenn ich dir so wichtig gewesen wäre, hättest du so etwas nicht getan. Ich will alles wissen und damit abschließen. Alle Details, auch wenn sie mir wehtun werden. Lieber ein Ende mit Schmerzen als Schmerzen ohne Ende. Liebst du ihn? Bitte antworte mir ehrlich.“

„Wie du willst, Jo.“

„Ja, ich will. Liebst du ihn?“

„Wenn es dir hilft, die Details zu wissen, dann…“

„Hör mit deinen kindischen Psychoandeutungen auf, und antworte mir auf die Frage: Liebst du ihn?“

Lisa überlegte, und nach einigen Minuten sagte sie: „Vielleicht ja, vielleicht nein.“

„Was soll das heißen, vielleicht ja, vielleicht nein?“, frage Jo ziemlich gereizt.

„Am Anfang dachte ich, dass es nur ein Ausrutscher ist…“

„Das hast du zigmal gesagt, und jetzt?“ unterbrachte er sie.

„…aber die Gefühle haben sich entwickelt. Es ist nicht so, dass ich sagen kann, dass ich ihn liebe, so wie ich dich liebe. Es ist anders. Meine Gefühle für ihn sind anders. Es ist nicht so, dass ich mir die Frage gestellt habe, wo ich mich besser fühle, wen ich mehr liebe. Oder ob ich dich verlassen würde für ihn. Nein, es ist wie eine Ergänzung. Er füllt ein Loch, das ich selbst gegraben habe. Das hat wirklich nichts mit dir zu tun. Ich bin glücklich mit dir, und liebe dich über alles, aber Erkan tat mir gut, das half mir, ausgeglichener zu sein und machte mich noch stärker für uns, für unsere Familie. Hast du gemerkt, dass hier etwas fehlte? Ja, ich habe dich vielleicht betrogen, Liebling, aber dafür habe ich etwas getan, was mir sehr gutgetan und mein Selbstvertrauen gestärkt hat. Ich meine nicht, dass du das nicht geschafft hast, aber kann man von einem Mensch erwarten, dass er alle unsere Wünsche und seine eigenen erfüllt? Wäre das nicht zu viel, mein Schatz? Wirklich, glaube mir, dass das nichts mit dir zu tun hat. Einen Mann wie dich werde ich nicht noch einmal finden. Aber es gibt bestimmte Sachen, die du nicht erfüllen konntest, obwohl du dir alle Mühe gegeben hast. Du bist perfekt. Du hast einen tollen Körper, du bist groß, du bist ein sehr schöner, eleganter Mann, du bist erfolgreich. Das ist manchmal beängstigend, weil du fast der perfekte Mann für alle Frauen bist. Aber ich! Nach der Geburt von Melanie hat sich mein Körper verändert. Meine Brüste hängen, ich habe nicht mehr alles Fett von meinem Bauch wegbekommen, meine Vagina ist nicht mehr so frisch wie vorher. All das ist normal, hast du mir gesagt, wenn ich gejammert habe, und du hast mir auch gezeigt, dass du mich liebst wie ich bin. Aber trotzdem blieb dieses Gefühl von Unvollkommenheit in deiner Nähe. Man fühlt sich ein bisschen minderwertig. Mit Erkan habe ich nun einen Mann, der auch unvollkommen ist, wie ich, bei dem ich mich vollkommener fühle. Neben ihm fühle ich mich wie die schönste Frau die Welt. Er hat mehr Makel als ich, sein Bauch ist imperfekter als meiner, vieles bei ihm hängt mehr als bei mir. Auf einmal entdeckte ich, wie schön ich doch bin, und warum du mich so geliebt hast und liebst, wie ich bin, weil alles recht schön ist. Durch Erkan habe ich dein Lob mehr geschätzt, habe ich erkannt, wie wertvoll deine Komplimente für mein Aussehen sind. Er hat mir geholfen, mein Selbstwertgefühl zu stärken. Verstehst du, Jo? Das hat wirklich nichts mit dir zu tun, aber es hat uns gutgetan, indem es mir gutgetan hat. Ich bin lockerer, offener, hemmungsloser geworden. Erinnerst du dich, als wir das letzte Mal, leider vor Wochen, miteinander geschlafen haben? Wie stolz du auf mich warst, weil ich etwas mit dir ausprobiert habe, was ich mich früher nicht getraut habe zu tun? Mit Erkan zusammen sein hat mir gezeigt, wie toll du bist. Ich will dich auf keinen Fall verlieren.“

Lisa spürte, dass diese Erklärung eine Wirkung auf Jo zeigte. Er sackte auf der Couch zusammen. Sein Gesicht war nicht mehr so angestrengt.

„Wie ist es mit dem Sex? Gefällt er dir? Ist er besser als bei uns?“

„Nein, mein Schatz, ich habe nicht verglichen. Der Sex mit ihm ist, wie es mit ihm ist. Er ist nicht besser oder schlechter. Er ist einfach anders. Es ist einfach so, dass ich mir bei ihm, aus den Gründen, die ich dir erzählt habe, mehr zutraue. Ich habe keine Hemmungen mehr wegen meines Aussehens. Da ich wusste, dass ich für ihn ein Sechser im Lotto war – seine Augen sagten mir alles – fühlte ich mich freier und konnte mit ihm das tun, was ich mit dir nicht tun kann, weil ich mich dir gegenüber minderwertig fühle. Aber, wie gesagt, ich fühlte mich von Monat zu Monat immer sicherer und stärker und selbstbewusster. Das hat mir gut getan und dafür danke ich dem alten Mann. Deswegen ist er mir wichtig geworden, ohne wichtiger zu sein als du. Bitte, Jo, versuche mein Glück zu verstehen. Versuche nur zu sehen, dass es mir gutgeht, dass ich etwas für mich getan habe, etwas, was mich in meiner Persönlichkeit stärker gemacht hat.“

„Habt ihr es jeden Tag getrieben, und wo?“, wollte er nur wissen.

„Was wird das ändern, es zu wissen?“, antwortete Lisa.

„Viel. Es hilft mir, die Sache zu verarbeiten. Wenn ich das Gefühl habe, dass du mir etwas verschweigst, wird es schwerer. Es tut weh, aber dann ist nichts mehr verborgen. Es gibt kein Geheimnis mehr, und weil es kein Geheimnis mehr gibt, gibt es keine Fantasie, keine Vorstellung und Einbildung mehr. Vielleicht hilft es mir in meinem Zustand? Ich will alles hören, alle Details“, sagte er sehr ruhig und fast freundlich.

„Ich tue alles, was dir helfen kann, mein Schatz. Wir haben im Hotel angefangen und dann waren wir ab und zu bei mir zu Hause und ein paar Mal auch bei ihm. Wir haben immer erst miteinander geschlafen, wenn die Kinder nicht da waren. Es war fast immer am Vormittag. Ja, wir haben es sehr oft gemacht, und am Anfang war ich sehr streng mit den Kondomen, aber mit der Zeit ließ ich nach, und seit einigen Wochen schlafen wir ohne miteinander. Er ist sehr ausdauernd für sein Alter. Ich dachte, dass alte Männer ihn nicht hoch kriegen. Er ist sehr wild, und im Bett hat er keinen Respekt vor mir, und das macht mich sehr an. Ja, ich habe von Anfang an immer einen Orgasmus mit ihm gehabt. Nicht weil er besonders toll ist, nein, weil alles sehr elektrisierend war. Wir haben schon alles Mögliche gemacht. Am Anfang wollte ich ihn nicht oral befriedigen, dann ging es nur mit Kondomen und nun ohne. Es gibt noch etwas, was ich dir sagen kann, damit alles raus ist und kein Geheimnis mehr bleibt. Vielleicht wirst du mich dafür hassen oder deine Sache sofort packen und verschwinden, aber es ist besser, dir alles zu sagen. Ich will dir nichts vorenthalten. Er hat mich dazu gebracht, einen Dreier zu haben. Ich habe mehrmals mit einer Frau und ihm Sex gehabt. Es tut mir sehr leid, Jo. Ich schäme mich sehr, aber es war wichtig, dir alles zu sagen.“

Sie näherte sich ihm und setzte sich neben ihn.

„Es tut mir sehr leid. Ich würde akzeptieren, wenn du dich von mir trennst. Ja, ich habe dein Vertrauen missbraucht.“

„Wer ist die Frau?“, fragte er nur.

„Ich wollte es nicht, glaube mir. Er hat immer gefragt und immer gefragt und insistiert. Am Anfang habe ich nur so im Internet geschaut, um zu wissen wie zwei Frauen es machen. Das hat sich nicht schlecht angefühlt. Danach habe ich, wirklich aus purem Spaß, eine Anzeige gemacht, dann mit einer Frau hin und her geschrieben, und dann, ohne es zu planen, ist es passiert. Sie kommt aus Frankfurt und ist eine Stadtpolitikerin. Sie ist auch verheiratet.“

Es dauerte sehr lange bis er noch etwas sagte.

„Und nun?“

„Ich werde versuchen, damit aufzuhören, mit allem“, sagte sie.

„Kannst du das wirklich? Willst du es? Warum solltest du etwas lassen, das dir so guttut? Ich will nicht, dass du dich morgen beklagst, dass ich Schuld sei, wenn es dir danach nicht mehr gutgeht.“

„Ich weiß es nicht, Jo, ich weiß es nicht, ob es mir guttun würde, jetzt aufzuhören, aber ich werde es versuchen, weil ich weiß, dass es dich verletzt hat. Vielleicht hätte ich es dir früher sagen können, aber du weißt selbst, unsere Gesellschaft ist nicht offen dafür, auch wenn es fast jeder insgeheim tut oder davon träumt. Wenn du willst, dass ich aufhöre, tue ich es sofort auf der Stelle.“

Johnny stand auf, schaute seine Frau an und sagte: „Ich gehe jetzt Melanie abholen.“

Es war sehr hart gewesen, alles das zu hören, aber irgendwie war er auch erleichtert, dass er nun alles wusste.

Er wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte. Seine Frau hatte Recht. Der Sex war die letzten Male wirklich viel besser gewesen, und seine Frau hatte sich nie so verhalten, dass er das Gefühl gehabt hätte, sie sei frech geworden oder sie würde ihn nicht lieben oder so. Aber die Vorstellung, was dieser Mann mit ihr machte, war immer noch unangenehm. Er fragte sich nun, warum er eifersüchtig war. Weil es seiner Frau gutgetan hatte und er nicht derjenige war, der ihr so guttat? Oder weil er auch gern so genießen würde? Er erinnerte sich an dieses schöne Gefühl, als er selbst mit dem Hausmädchen etwas gehabt hatte. Er glaubte seiner Frau, weil es bei ihm ähnlich gewesen war. Es war nie darum gegangen, seine Frau durch die Liebhaberin zu ersetzen. Es ging einfach um ihn, um Genuss, um Lust, um Spaß. „Sie soll halt weitermachen, wenn es ihr Spaß macht“, sagte er sich zuerst, doch dann revidiert er sofort diese Meinung, und am Ende stand für ihn fest, dass sie selbst entscheiden solle, eine Entscheidung, die zu ihr passte, und er würde auch entscheiden, eine Entscheidung, die zu ihm passte. Auf alle Fälle war, wie Dr. Camara es gesagt hatte, ein Brocken gefallen, so dass er nun die Hoffnung hatte, dass dieses Kind, das seit Monaten mit ihm sprach endlich verschwinden würde.

 

Es schien auch so zu sein. Die Stimme war weg und sein Leben änderte sich wieder. Seine Frau hatte entschieden, die Beziehung zu Erkan auf Eis zu legen, auch wenn sie nicht versprach, dass sie es nie mehr tun würde. Sie wollte mal probieren, ob sie es schaffte. Es schien, als ob die Liebe in der Familie neu entflammt war, und glücklich buchte die ganze Familie in den Osterferien einen Wochenurlaub auf Mauritius in Afrika.

Mitten im Urlaub kam die Stimme leider wieder. Das Kind fing wieder an zu weinen. Nur weinen und schreien. Das Kind schrie fürchterlich, minutenlang, dann leise, dann wieder laut. Es war einfach furchtbar und kaum zu ertragen. Sie brachen den Urlaub ab und kehrten zurück nach Darmstadt.

Diese Stimme jammerte nun fast ununterbrochen, sogar nachts. Sie jammerte und weinte.