Fürstin des Lichts

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 6

Zwei Monate nach meinem ersten Arbeitstag im Kommissariat zog ich Mitte September eine niederschmetternde Bilanz. Sicher, auf der einen Seite wurden etliche Verbrechen vereitelt, die Aufklärungsrate betrug sogar satte hundert Prozent. Andererseits gab es für meine Kollegen dadurch zwangsläufig noch mehr statt weniger Arbeit. Ihre ausgelaugte Stimmung lag auf dem Gefrierpunkt. Für das Team hatte ich nichts erreicht, das Böse sog erbarmungslos jeden Krafttropfen heraus. Selbst der coole John brachte selten mehr als „Scheiße“ über seine Lippen.

Resigniert ließ ich die Sternelben mein Fazit wissen. „Haltet ihr zufällig einen Plan B parat?“

Tja, sie hielten. „Lilia, dein Wissen reicht nun aus, einen Teil der Aufgaben allein zu bewältigen. Deine Magie wird dich schützen.“

Bei genauerer Betrachtung gefiel mir ihre Idee, ohne menschliche Komplikationen ein bisschen aufzuräumen. Schritt für Schritt legte ich aus eigenem Antrieb die vorgesehene Strecke auf dem Pfad meines Schicksals zurück. Allein, mir fehlte in der pausenlosen Action die notwendige Distanz, dies zu erkennen.

Nun aber zu Plan B. Zuerst orderte ich eine Kiste voll Handschellen und ein Prepaidhandy in mein Haus. So ausgerüstet, pendelte ich entweder zwischen Wohnung und Tatort oder Kommissariat und Tatort hin und her. Sieben Tage die Woche von der Sphäre abrufbar, inklusive Nächte. Eifrig absolvierte ich mein Soloprogramm, ohne zu bemerken, wie die Anforderungen dabei langsam auf der sphärischen Skala empor kletterten.

Hier einige Kostproben:

Angetan mit einem langen weißen Kleid, von leichtem Schimmern umgeben, betrat ich die Behausung in einer heruntergekommenen Hochaussiedlung am Rande der Stadt. Das vierjährige Mädchen wimmerte erbärmlich in einer Ecke des Wohnzimmers. Seine Mutter hing besoffen schnarchend auf der Couch. Es stank nach Müll, Fäkalien und Alkohol.

„Bist du ein Engel?“, schluchzte die Kleine.

Lächelnd ging ich in die Hocke. „Ja, ein Schutzengel.“ Und zauberte einen Teddy hinter meinem Rücken hervor.

Mit großen verwunderten Augen, ein Geschenk zu erhalten, presste sie schnell das weiche Teddyfell an ihren mageren Körper.

„Gleich kommen liebe Leute, die dich mitnehmen, damit du nicht mehr weinen musst“, erklärte ich dem Mädchen.

Es nickte ernst.

Vor der Wohnungstür wählte ich die 110, bat für die Kleine um einfühlsame Beamtinnen und verschwand.

Die Pistole war bereits auf den Kopf des Kioskbesitzers gerichtet, als ich gegen 23 Uhr geräuschlos den Verkaufsraum betrat. Der war mit allem vollgestopft, was die junge Szene in Friedrichshain für spontane Partynächte benötigte. Erst als ich das vorderste Regal umrundete, erblickte ich die filmreife Szene. Genau in dem Augenblick sackte der Kioskbesitzer ohnmächtig hinter seinem Tresen zusammen. „Waffe runter“, hörte der Jugendliche plötzlich dicht hinter sich. Seine Schrecksekunde nutzte ich, schlug ihm die Pistole blitzschnell aus der Hand und drehte ihm beide Arme auf den Rücken. Mit einem Stoß in die Kniekehlen auf den Boden befördert, sah er sich im nächsten Moment als handliches Schnürpaket außer Betrieb gesetzt. Die tolle Technik hatte ich bei den Kollegen abgekupfert. Der Jugendliche bleckte aggressiv sein Lückengebiss und wünschte mich stumm in die Hölle. Verpackt in Folie, schwebte die Waffe neben die Kasse. Den Rest konnten die herbeigerufenen Kollegen erledigen. Der ohnmächtige Kioskbesitzer würde in wenigen Minuten zu sich kommen.

Während der bullige Kerl, er trug eine modische Hornbrille und einen teuren Anzug, noch auf seine apathische Ehefrau einprügelte, nahm er im Augenwinkel ein Leuchten an der Tür seines Wohnzimmers wahr. „Wer zum Teufel…?“ Seine Frage blieb eine Unvollendete.

Ich feuerte eine Blendkugel ab, trat ihm die Füße weg und platzierte hastig, der Kerl mochte hundert Kilo wiegen, Handschellen an seinen Händen und Füßen. Die übel zugerichtete Frau stand schwankend da, Blut rann von ihrer Unterlippe zum Kinn hinab. Es tropfte auf den edlen Teppich. Behutsam umfasste ich ihre Taille und geleitete sie zur Couch. Vor Schmerzen stöhnend, sackte sie zusammen.

„Ich rufe Ihnen den Notarzt.“

Wahrscheinlich hörte sie mich gar nicht. Ihre leeren Augen blickten ins Nirgendwo.

Draußen verständigte ich Notarzt und Einsatzzentrale. Rasch verabschiedete ich mich aus der schmucken Reihenhaussiedlung für Besserverdienende. Selbst in diesem Viertel kroch abendlicher Kloakegestank aus den Gullydeckeln hervor.

Frisch aus dem Knast entlassen, besorgte sich der ehemalige Schweißer zuerst eine Knarre bei seinem alten Zellenkumpel. Der Enddreißiger befand sich auf einem Rachefeldzug ohne Gnade gegen seine Exfrau und deren neuen Freund. Ohne ihn! Seine Ex betrachtete er als sein Eigentum. Bekam er die Schlampe nicht, dann auch kein dahergelaufenes Arschgesicht. Danach würde er sich den korrupten Scheidungsrichter vorknöpfen. Nix zu verlieren, lautete ab jetzt sein Motto.

Am frühen Abend, als der Ex-Knacki die Wohnungstür im Erdgeschoss des sanierten Altbaus eintrat, leuchtete ich im Flur still vor mich hin. Seine blindlings losgeballerte Kugel scheiterte an meinem Schutzschild. Die Zweite erwischte ihn selbst als Querschläger. Aufjaulend ließ er seine Waffe fallen. Geübt setzte ich den Brutalo außer Gefecht.

„Nichts anfassen“, beschwor ich kurz darauf das stumm nickende Paar. Die Zwei hielten sich im Schlafzimmer versteckt.

Auf dem Weg zu meinem Auto versuchte ich mal wieder vergeblich, möglichst lange die Luft anzuhalten. „Ständig dieser Kloakengestank!“ Er waberte mit Brechreiz erregender Intensität vor allem zwischen der Abend- und Morgendämmerung durch die Straßenschluchten. Angeblich, weil die Berliner zu sparsam mit dem Wasser umgingen und dadurch die Abwasserrohre verschlickten.

Täter wie Zeugen konnten oder wollten keine Beschreibung von mir liefern. „Ein Engel“, beschieden sie achselzuckend bis schamrot die genervten Beamten. Nachdem sich diese Aussage monoton wiederholte, entstand das Gerücht über den Berliner Racheengel. Es verbreitete sich auf Sturmflügeln durch die Stadt.

Bei meinen Kollegen, die selbstverständlich eins und eins addierten, stießen meine Alleingänge auf ein geteiltes Echo. Kai kämpfte erbittert um den Erhalt seiner Ignoranz. Jan grinste fröhlich und Katja wiederholte gebetsmühlenartig, wenn die neueste Story rund ging: „Wir müssen reden.“

Da die Kriminalchefin zuletzt fast platzte, igelten wir uns eines Nachmittags in ihrem Büro ein.

„Lilia, das ist hart am Rande der Selbstjustiz“, polterte sie los. Irgendwie schwenkten ihre Gedanken um neunzig Grad. Prustend fragte sie: „Wie stellst du das bloß an?“

„Katja, wenn ich Essen ordern kann …“ Den Rest ließ ich offen.

„Dann?“

„Wir fahren nach der Arbeit zu mir, keine Widerrede.“

Schmollmund. „Kriege ich Vitello Tonnato mit Crostini?“ Plötzlich schlug sich Katja mit der flachen Hand an die Stirn. „Habe ich ja total vergessen! Die Kollegen von der Streife beklagen sich, dass der Racheengel nie die Schlüssel zu den Handschellen da lässt.“

Genervt rollte ich mit den Augen. „Sonst noch Probleme?“

Gegen 22 Uhr sanken wir im Gartenhaus fix und fertig auf die Küchenstühle und machten uns über das verspätete Abendessen her.

Jay kam angeflitzt. „Lil, hast du Parmesan?“

„Im Kühlschrank, kannst du mitnehmen.“

„Super!“ Und schon schwang er die langen Beine hinaus.

„Ist der niedlich. Wie konntest du mir den vorenthalten?“, schmachtete Katja.

„Längst vergeben. Aber wo wir gerade beim Thema sind: Wie läuft denn der Fall Konstantin?“

„Nix. Nix läuft. Keine Zeit. Punkt.“ Ihr Riesenfrust kam jammernd aus der Ecke. „Ich sehe Konny fast nie, seit er die Wirtschaftskriminalität leitet. Außerdem ist er genau so ein Arbeitspferd wie ich.“ Mehr sehnsüchtig denn im Spaß fragte sie: „Kannst du ihn vielleicht herzaubern?“

„Mit mir als Anstandsdame dabei?“, ulkte ich. „Tschuldigung! Mal überlegen. Ein Candle-Light-Dinner im Dachrestaurant des Carlssens?“

Katja klimperte verträumt mit ihren Wimpern. „Wann?“

„Samstag.“

Wir klatschten ab.

Satt und zufrieden lehnte sich Katja zurück und kam gleich auf den Themenhit im Kommissariat zu sprechen. „Racheengel, wie?“

Als Teil der Antwort erschien ihr heißgeliebter Espresso. Ich zeigte darauf. „So, das ist ein Gegenstand. Wenn du es ungenau betrachtest, ist ein menschlicher Körper kaum mehr. Du fütterst deinen Körper mit Nahrung, das tue ich ebenfalls. Darüber hinaus speichere ich Licht als zweite Energiequelle.“

Meine Erwartung, sie würde vor Schreck sonst wie darauf reagieren, wischte Katja mit der neugierigen Forderung „zeig mal“ vom Tisch.

Das liebte ich an ihr. Also stellte ich mich ein paar Meter entfernt in die Küchenecke und brachte meinen Körper langsam zum Leuchten.

„Oh!“

Als Nächstes entstand eine Lichtkugel auf meiner ausgestreckten Hand.

„Oh, Lil!“

Einen guten Teil ihres Entzückens schob ich dem zweiten Glas Wein zu. Egal, ihr Herz genoss das Schauspiel. Besser noch, ihr Verstand kam nicht auf die eigentlich naheliegende Idee, dass die Kugel ebenso eine tödliche Waffe sein könnte. Zugegeben, ich selbst hatte die Kleinigkeit bis zu exakt jenem Augenblick erfolgreich verdrängt. Aber mein egoistischer Hinterkopf wühlte immer häufiger die grausigen Schilderungen der Sternelben über Dämonen hervor.

Ende November, an einem miesewettrigen Tag, brachten mir die Sternelben nahe, dass Kai ab dem nächsten Tag fehlen würde. Maßlos entsetzt wollte ich seinen Tod um jeden Preis verhindern.

 

In der hereinbrechenden Nacht begleitete ich spontan die Gruppe aus Amelie, Kai sowie Kollegen einer Spezialeinheit zu der Tankstelle am Cityring, wo eine Schießerei zwischen zwei rivalisierenden Rockerbanden stattfinden sollte.

Einer der Hells Angels, ausstaffiert mit üppigem Vorstrafenkonto, „roch“ offensichtlich unsere Anwesenheit und suchte nach einem Fluchtweg. Den aber versperrte mittlerweile Kai zwischen zwei Zapfanlagen. Der Rocker zielte ohne jeden Skrupel zu töten auf Kais Hinterkopf. Aber ich flog ihm regelrecht gegen seinen ausgestreckten Arm. Die zornentbrannte Wucht meines Aufpralls schleuderte den Rocker so unglücklich auf die steinerne Gehwegkante, dass sein Genick brach. Der gelöste Schuss aus seiner Waffe verhallte im Verkehrsgetöse.

Zum ersten Mal hatte ich einen Menschen getötet. Dennoch fuhr ich erleichtert, das Schicksal überlistet zu haben, heimwärts.

Am nächsten Morgen plauderte ich entspannt mit Jan im Konferenzraum. Ihr Hobby bestand darin, reihenweise Männer zu erobern.

„Lilia, du solltest wirklich mal mitgehen, in den Klubs wimmelt es von knackigen Typen. Du musst das Leben unbedingt auskosten, bevor die Cellulitis zuschlägt.“

Wir lachten noch, als Katja kreidebleich den Raum betrat. Sie schluckte schwer und verkündete heiser: „Kollegen von der Streife haben mich verständigt. Kai ist – Kai hatte einen Fahrradunfall – ein Lkw – er ist – tot.“

So ließen mich die in ihrer unendlichen Sphäre ruhenden Lichtwesen die volle Bitterkeit irdischen Schicksals schmecken. Die Kollegen um mich herum spendeten einander Trost. Doch mir schnürte Einsamkeit das Herz ab. Totale Isolation. Mit eiskalter Klarheit wurde ich zum ersten Mal seit Monaten meiner Selbst gewahr: Ein menschlicher Restposten unter Sphärenkontrolle. Irgendwann in der zurückliegenden Zeit war sogar mein Alter Ego verstummt.

Eine gefühlstaube Ewigkeit verging, so schien es mir, bis ich nachmittags endlich die Flucht ergreifen konnte. Nicht nach Santa Christiana, um mit den Lichtwesen zu reden. Nein, ich wollte heim – in mein altes Leben.

Es goss wie aus Kübeln, im Schleichtempo erreichte ich in meinem Wagen mit letzter Kraft das Gartenhaus. Zusammengesunken über dem Lenkrad, begannen reumütige Tränen zu fließen. Schluchzendes Weinen, bis die vollkommene Erschöpfung mich in den Schlaf entließ.

Leicht verwirrt erwachte ich in meinem Bett.

Elin betrachtete mich aus unergründlichen Augen. „Sie sorgen sich um dich.“

Blödsinn! Ich bin doch nur ein willenloses Geschöpf, das sie nach Gutdünken benutzen. Oder besser noch: steuern wie einen Roboter.“ Ungebremst redete ich mich in Rage. „Ja, ja, ich weiß. Damals habe ich mich allzu gern verlocken lassen, mit Schönheit und eigenem Haus und dem ganzen Kram. Aber worauf läuft die Geschichte letztlich hinaus? Am Ende bin ich höchst wahrscheinlich eine verdammte, gefühlskalte Killermaschine!“

Die Elbe drückte mir schweigend einen Becher Tee in die Hand.

Aber mein Zorn lief sich gerade erst warm. „Mach dir doch nichts vor, Elin! Dieser ganze Wahnsinn mit den Dämonen und erst recht ihrem Fürsten. Glaubst du allen Ernstes, wir hätten irgendeine verdammte Chance? Sie schicken uns auf die Schlachtbank und suchen sich danach einfach neue Kandidaten! Ich glaube ihnen das Märchen sowieso nicht, außer uns beiden gäbe es niemanden.“

Elin verließ stumm das Schlafzimmer. Zuerst krachte der Teebecher gegen die Wand, dann ergriff ich das Kopfkissen, pfefferte ein nie gelesenes Buch hinterher, kippte die Nachttischlampe herunter, sprang aus dem Bett und verwandelte das komplette Zimmer in Chaos. Meine Stimme brüllte wieder und wieder heraus: „Ich bin ein Mensch!“

Besinnungslos sank ich über dem Trümmerfeld zusammen.

Erneut wachte ich in meinem Bett auf. Das Zimmer befand sich selbstverständlich wieder in einwandfreiem Zustand. Wild raufte ich mir die Haare, verwünschte meine grenzenlose Naivität, zog kurzerhand meine Joggingsachen an und stürmte aus dem Haus. Weglaufen vor mir, vor ihnen da oben und der ganzen durchgeknallten Welt. Atemlos hastete ich durch das dünne Schneetreiben der frühzeitigen Winternacht. Ziellos folgte ich dunklen Straßen mit hell erleuchteten Häusern, in denen normale Menschen ihr normales Leben führten. Schließlich rannte ich blindlings in den ausgestorbenen Stadtpark, dessen uralte Bäume bedächtig ihre gewaltigen Äste in schwindelerregende Höhen streckten. Jeder kannte seinen Platz – bis auf mich.

Keuchend blieb ich endlich stehen, umschlang trostsuchend den Stamm einer Buche und lehnte meine Stirn daran. Das harte, duftende Holz sog den kranken Schleier des Irrsinns aus meinem Kopf. „Was tue ich hier?“ Statt einer Antwort versetzte ein Pfeilblitz den Park für einen Sekundenbruchteil in grelles Licht.

Lilia, schnell, fort von hier!“, befahl Elin.

Etwas Tiefschwarzes schoss durch die Dunkelheit. Sofort rief ich einen Pfeil auf. Grauen und bestialischer Gestank schwängerten die Luft. Ich feuerte. Daneben. Feuerte nochmal und nochmal, eine ganze Kaskade. Endlich kam mir die Idee, eine Leuchtkugel zu formen. Mit ihrer Hilfe sah ich sofort ein massiges Wesen zwischen den Baumstämmen huschen.

Elin?“

Lauf, Lilia!“ Kurz sah ich ihr Elbengewand aufschimmern.

Das Schattenwesen raste auf die Elbe zu, vielleicht zehn Meter entfernt. Sah sie es nicht? Mein nächster, hastiger Lichtschuss fand sein Ziel, während ich auf Elin zuhielt. Den ersten Dämon erlegte ich mit banaler Beiläufigkeit. Elin kauerte am Boden. Nahebei versickerte die stinkende schwarze Gestalt im Erdreich. Vorsichtig hob ich die Elbe auf und spurtete, so gut es eben mit schwindender Energie ging, nach Hause.

Erst im Licht der Außenleuchte entdeckte ich einen schwarzen Fleck, der sich auf Elins schlaffem Körper hin und her bewegte. Das Dämonengift suchte einen todbringenden Eingang. Noch hatte es ihren Mund nicht gefunden. Instinktiv formte ich aus meiner letzten Kraftreserve eine Lichtkugel und führte sie darüber. Die Elbe stöhnte leise, der Fleck zerfiel.

In meinem Auto rasten wir nach Santa Christiana.

Die durchwachte Nacht neben Elin auf der Couch holte mich endgültig auf den Boden höchst unerquicklicher Tatsachen zurück. Meinen zugewiesenen Platz auf dem undurchsichtigen Schachbrett von Elben und Dämonen konnte ich wohl kaum verlassen. Woher stammte diese betonharte Überzeugung? Letztlich ging es um den Ausgang des Spiels: Schachmatt, Remis oder Sieg. „Sieg? Mit einem Bauernmädchen?“, lachte ich bitter in mich hinein. Warum tat Elin sich dies, einsam und allein wie sie war, überhaupt an? Menschen erschienen ihr ziemlich primitiv, aber dann die ganze Mühe, die sie in mich investierte. Wozu? Zu viele Fragen, kein erkennbarer Sinn. „Nichts heilt die Seele so wunderbar wie Musik“, warf mein Gedächtnis zusammenhanglos dazwischen.

Behutsam öffnete ich den Flügel. Die Morgendämmerung nahte. Leise begleitete ich das in meinem Kopf aufspielende Orchester zu Ravels „Lever du jour“. Das Stück passte hervorragend zu meinem zerzausten Innenleben. Genauso wie Mussorgskys schwermütige „Morgendämmerung“. Elin saß mittlerweile mit geschlossenen Augen auf der Couch und lauschte. Ihr zuliebe ließ ich „Fantasia on Greensleeves“ von Williams erklingen, obwohl seine Komposition mich jedes Mal mit trauriger Sehnsucht nach unbeschwerten Zeiten am Meeresstrand erfüllte.

Verzeih bitte, dass du meinetwegen in Gefahr geraten bist“, wandte ich mich der Elbe zu.

Sie winkte ab.

Darum fasste ich mir ein Herz und bat: „Elin, erkläre mir, warum der Dämon daran scheiterte, dich sofort zu töten.“

Das weißt du nicht?“, fragte sie konsterniert über meine Wissenslücke. „Im Gegensatz zu Dämonen verfügen wir über Schutzmagie. Sie wissen um diese Fähigkeit, aber auch, dass ihre Verwendung reichlich Energie kostet. Daher trachten sie stets danach, uns so lange in einen Kampf zu verwickeln, bis unsere Kraft schwindet. Doch genug davon, geh jetzt frühstücken.“ Damit verschwand sie in ihr Zimmer.

Anstatt Tee zu zaubern, fertigte ich ihn per Hand. Beim bloßen Gedanken an Frühstück drehte sich mir der Magen um. „Alles nur noch gequirlte Scheiße!“ Zorn, dein lärmender Begleiter. Völlig daneben, weil absolut nutzlos, verfrachtete ich ihn in die Gesellschaft der Magensäure.

Das Telefon im Flur klingelte.

„Lilia, entschuldige die frühe Störung“, kam es vom anderen Ende der Leitung.

Den Satz konnte ich ihm einfach nicht abgewöhnen.

„Hallo, Raimund. Was hast du auf dem Herzen?“, fragte ich so leichthin wie möglich.

„Na, also“, druckste er herum, „also vergangene Nacht kam ich vom Sterbebett eines Gemeindemitglieds zurück“.

„Ja?“

„Im Altarraum schien Licht. Also ging ich nachsehen. Niemand war dort. Aber es schien eindeutig dein Licht gewesen zu sein.“

„Wer dann?“, fragte ich unsinnigerweise, halb unter Schockstarre.

„Genau, wer dann. Ich dachte, du weißt es.“

Wer war in der Kirche?“, donnerte ich himmelwärts.

Keine sphärische Auskunft unter dieser Frage.

Ich drohte abermals zu explodieren und sog deshalb tief Luft ein. „Raimund, mach dir keinen Kopf deswegen, das wird sich aufklären“, beschied ich mühsam beherrscht.

Kaum aufgelegt, begann ich sofort mit Ursachenforschung, indem ich brüllte: „Raus damit!“

Die Sternelben weigerten sich.

Sagt es mir!“, brüllte ich mindestens ein halbes Dutzend Mal.

Piepsig sangen sie endlich: „Es war Leya.“

Alles klar?!“

Sie ist eine Verbannte.“

Was?“

Mit hölzernen Schritten ging ich zurück in die Küche, setzte mich an den Tisch, umklammerte mit sämtlichen Fingern seine Kante, schloss meine Augen und polterte: „Höre ich jetzt von euch die komplette Geschichte oder soll ich diese Leya rufen?“

Nein, warte!“

Heißt das, ich könnte sie tatsächlich herbeirufen?“

Nein, sie darf ihr Haus nur für Santa Christiana verlassen.“

Und warum?“

Es war, als würde ich eine Stecknadeldose leeren, indem ich jede piekende Nadel einzeln herauspulte.

Die Elbe Leya zog es zu den Menschen. Sie missachtete die Regel, ihnen fern und unsichtbar zu bleiben. Schließlich kehrte sie uns den Rücken.“

Das ging?“

Deshalb wurde die Elbe verbannt“, schmetterten die Lichtwesen theatralisch.

Das wollte mir nicht in den Kopf. „Moment mal, Elin hält doch auch zu mir Kontakt, noch dazu, weil ihr es wollt.“

Zu jener Zeit galten andere Regeln.“

Na, dann könnt ihr die Verbannung jetzt ja getrost aufheben.“ Energisch trommelten meine Fingerspitzen auf die Tischplatte. „Ich gehe diese Leya besuchen.“

Lilia, nein, sie ist eine Abtrünnige!“

Ist sie bösartig?“

Nein.“

Irgendwelche stichhaltigen Einwände?“

Die Sternsängerinnen schwiegen.

Wo wohnt sie? Raus damit!“ Einmaliges Brüllen war auch bei diesem Punkt zwecklos. Meine Finger zählten acht Anläufe mit.

Im Feenhaus.“

Tatsächlich freiwillig übermittelten sie mir das Bild eines Hauses im Stadtwald.

Aber das ist doch mein Wald, wo ich jogge. Da gibt es kein H…“ Natürlich, Magie, was sonst. Mein Zorn meldete sich schäumend aus der Magensäure zurück. „Ihr hattet behauptet, es gäbe niemanden sonst außer Elin und mir. Lügnerinnen!“

Die Grundfeste unseres ungleichen Bündnisses erbebte, splitterte und krachte. Ich kappte die sphärische Verbindung.

Elin stand vor mir, silbrige Tränen weinend.

Wenn eine Elbe weint, lassen die Blumen ihre Blütenblätter fallen und die Sonne verfinstert sich, heißt es in einem ihrer Lieder.

Elin, wusstest du …?“, stammelte ich.

Nein“, hauchte sie.

Keine von uns konnte das tränenreiche Leid der Anderen lindern oder ertragen, so strebten wir stumm auseinander.

Dunkelheit senkte sich auf meine Seele und Dunkelheit umhüllte meinen Verstand. Am Anfang war der Gesang und er gebar eine Lüge. „Lüge! Lüge!“

Dumpf kamen und gingen lichtlose Tage. Ich fühlte nichts, dachte nichts, aß nichts. Kein Weg hinaus.

 

Endlich sang Elin ein Lied, tieftraurige Verse über den Tod der Elbenfürstin. Da weinte ich trockene Tränen. Und das Dunkel lichtete sich zu leblosem Grau.

Nur noch ein Schatten meiner Selbst, quälte ich mich zu Fuß den weiten Weg bis zum Feenhaus.

Aus dem Buch „Inghean“

Ungekannte Gaben der Macht besitzt das Menschenkind. Sie drohen unsere Pläne zu durchkreuzen. Wann endlich erwacht meine Fürstin?

Der satte Geruch heißer Schokolade stieg mir in die Nase, erwartungsvoll öffnete ich meine Lippen. Das sahnige Gebräu rann durch meine trockene Kehle hinunter in einen Magen, der seine Hungerproteste bereits vor Tagen eingestellt hatte. Vorsichtig riskierte ich einen Blick unter den Wimpern hervor und schaute direkt in ein gutmütiges Gesicht. Umkringelt von schwarzen Locken.

„Da bist du ja endlich“, strahlte mich die Fremde an.

„Wo – wer – was?“, krächzte ich.

„Erst Kuchen“, lautete ihre Antwort.

Sie hielt mir eine Gabel voll hin. Diese Delikatesse schmucklos als Kuchen zu bezeichnen, war geradezu sträflich. Er verursachte eine Geschmacksexplosion aus Schokolade, kandierten Früchten, Nüssen, Gewürzen und Honig.

Mit vollem Mund, sie sorgte ständig für Nachschub, versuchte ich den ersten Teil meiner Fragen zu wiederholen. „Wu?“

„Du befindest dich im Feenhaus.“

„Gut.“

Mehr heiße Schokolade.

„Wer?“

Erschrocken fragte die Fremde zurück: „Hast du vergessen, wer du bist?“

„Ich bin Lilia. Aber du?“

„Na, ich bin Leya. Wer sonst.“

Ich machte große Augen ob ihres menschlichen Anblicks. „Du siehst vollkommen anders als Elin aus.“ Obwohl, ihre Augen, ja, das innere Licht und die erfahrene Weisheit darin verrieten den elbischen Geist. Allerdings waren ihre Augen smaragdgrün.

„Alles nur Tarnung, außerdem gefalle ich mir so besser.“

Komisch, sie will überhaupt nicht wissen, wer Elin ist. Leicht schmatzend hakte ich nach: „Kennst du Elin?“

Leya nickte. „Sie erschien heute Morgen und hievte dich über meinen Bannwall.“

„Was?“

„Aha, dritte Frage. Aber danach ruhst du dich aus. Also, deine Kräfte erloschen, kurz bevor du mein Haus erreichen konntest. Ich sah dich zusammenbrechen, ohne zu dir gelangen zu können. Als ich schon anfangen wollte, mir vor Kummer die Haare auszuraufen, kam Elin. Gemeinsam legten wir dich ins Bett und hier bist du nun.“

Den letzten Satz bekam ich bloß noch halb mit, weil mir erneut die Augen zufielen.

Elin gesellte sich zu Leya.

Meine Güte, bei mir ist mehr los als in den letzten zweihundert Jahren! Schwester, erzähl, was haben die Sternelben nun wieder angerichtet?“

In der Stille ihrer geflügelten Gedanken wirkte das ungleiche Paar wie versteinert. Nur Leyas vor Erstaunen hochschnellende Augenbraue, als sie annähernd am Schluss von meiner Forderung hörte, den Bann aufzuheben, verriet ihre Lebendigkeit. Voller Mitleid und Sorge betrachteten die Elben mich.

Sie haben versagt und jetzt sollen wir beide den Karren wieder flott machen. Ist es so?“

Elin, von ihren eigenen Konflikten gezeichnet, stellte nüchtern fest: „Lilia wird den Sternelben nie mehr blind vertrauen.“

Nun, das sollte ohnehin niemand tun“, erwiderte Leya barsch. Sanfter fügte sie hinzu: „Wie dem auch sei, wenn die Kleine es möchte, behalte ich sie erst einmal hier.“

Die nachfolgenden Tage verbrachte ich mehr als zur Hälfte schlafend. In der übrigen Zeit verfrachtete mich die Elbe in einen Gartensessel mit der stets wiederholten Anweisung: „Atmen, riechen, schauen und genießen.“

Ja, sie sprach mit mir tatsächlich unelbisch laut.

Das Feenhaus befand sich mitsamt großzügigem, halb verwildertem Garten unter einer gewaltigen magischen Glocke. Wie in einer Schneekugel, allerdings einer frühsommerlichen.

Leya erklärte dazu achselzuckend: „Wenn schon Bannwall, dann zum Trost mit meiner liebsten Jahreszeit als Dauervergnügen.“

In der warmen Sonne summten Bienen, kleine Vögel zwitscherten in dem üppig blühenden Miniparadies.

Manchmal pirschte die Elbe mit einem Stock umher.

„Was treibst du da eigentlich?“

Verlegen wand sie sich. „Als ich Igel gegen eine Schneckenplage in meinem Garten hinzufügen wollte, sind Gnome mit reingerutscht. Die werde ich nur schwer wieder los.“

Ich prustete los. „Gnome? Das sind doch Märchenwesen!“

„Ja, eben. Ich muss mit meinen Gedanken wohl anderswo geparkt haben.“

Das schien ihr richtig peinlich zu sein.

„Und dagegen existiert kein Mittel?“

„Doch.“ Sie streckte mir den Stock hin. „Wenn ich es schaffe, die flinken Biester mit Rosenholz zu berühren, platzen sie.“

Mir vor Lachen den Bauch haltend, musste ich die naheliegende Frage stellen: „Wieso schickst du die Gnome nicht einfach zurück?“

„Sehr komisch. Dafür müsste ich erst einmal wissen, woher die stammen!“ Verschnupft zog Leya von dannen.

Gnome, Feen, Riesen und all solche Kreaturen kamen in unzähligen Märchen vor. „Also sollte man sie doch irgendwo einschmuggeln können“, überlegte ich.

„Leya, hast du ein Märchenbuch?“

Sie brummelte irgendwas von „keine Dummheiten machen“, brachte jedoch ein dickes, zerfleddertes Exemplar. Leyas heimliche Leidenschaft galt nämlich Märchen und Sagen.

Eifrig las ich darin und wurde nach knapp einer Dreiviertelstunde fündig. „Leya, komm mal!“

Mit gespieltem Murren stand sie vor mir.

Erst drückte ich sie in den Korbstuhl, dann das Buch in ihre Hände. „Lesen.“

Wenige Minuten später schaute sie verwirrt auf. „Und?“

„Na, pack die Gnome da rein“, ahmte ich ihre hemdsärmelige Art nach.

Erleuchtung! „Du bist ja ein richtig ausgebufftes Schätzchen!“

Zur Belohnung bekam ich ein großzügiges Stück von ihrem süchtig machenden Spezialkuchen.

Sämtliche Ereignisse vor meiner Ankunft im Feenhaus schienen allmählich verblassende Albträume zu sein. Und ich besaß null Interesse, daran zu rühren. Leya stellte keine Fragen. Sie erfuhr von Elin, die ab und zu vorbeischaute, ohne mit mir zu sprechen, sicherlich genug. So bekam ich in dieser künstlichen Idylle auch keine Gewissensbisse, einfach Elin, Katja und all die anderen im Stich zu lassen. Logisch, dass dieses egoistische Amüsement von begrenzter Dauer sein würde.

Der Paukenschlag kam über Nacht. Die Seele der Elbenfürstin Joerdis, im Frühling heimlich von den Sternelben in mich hineingestopft, offenbarte sich mir mit maximaler Dramatik per Traumbotschaft:

In der Industrieruine lauern tiefe Schatten und darin das Grauen. Hier fühlen sich Dämonen verdammt wohl. Elin und ich erkunden vorsichtig eine morbide Halle. Undefinierbares Gerümpel bedeckt den Boden, durch das fehlende Dach in schwindelerregender Höhe sickert die Nacht ein. Wir haben keine Ahnung, wieviele Dämonen uns erwarten.

Worauf warten die Ungeheuer noch?“

Möglich, dass sie versuchen werden, uns zu umzingeln. Wir sollten besser draußen warten“, beschließt die Elbe.

Zu spät. In der nächsten Sekunde, wir befinden uns noch mitten in der Halle, erfolgt ihr Angriff aus sämtlichen Richtungen. Auseinander stürmend suchen wir Deckung an den Mauern. Weiße und schwarze Blitze, tödliche Peitschen, Schwerter und Würgeringe durchpflügen den Kampfplatz. Mehrere Treffer verschaffen uns ein wenig Zeit. Plötzlich Totenstille. Verwirrt sehe ich mich um, sehe ihn, den Fürsten. Gleichzeitig stürmen zwei Dämonen auf mich ein, der Dämonfürst aber wendet sich Elin zu.

Neiiiin! Elin!“ Mich in eine rotierende Lichtsäule verwandelnd, zerfetze ich in glühendem Zorn das erste Monster. Der zweite Dämon erlischt durch einen gewaltigen Peitschenschlag. Wo ist Elin? Eine Hand voll Wimpernschläge bis zum Tod.

Ihr sich auflösender Körper liegt im Dreck, der schwarze Fürst ist fort. Bevor Elin die Erde endgültig verlassen würde, erscheint sie in meinem Geist. „Fürstentochter, deine ewige Dienerin.“ Sie verneigt sich und schwindet.

„Eliiin!“ Schreiend fuhr ich aus dem Albtraum hoch. Beide Elben erschienen an meinem Bett. Schluchzend wiederholte ich ihren Namen, schlug die Hände vor mein bodenlos entsetztes Gesicht. Zwecklos.

Wusstest du, dass dies geschehen wird, Schwester?“

Elin verneinte starr vor ungläubigem Entsetzen.

Die Zeit meines Sehens begann mit erbarmungsloser Härte und eiskalter Klarheit. Nach Monaten stummen Beobachtens hatte Joerdis ihr Urteil über mein Inneres gefällt. Salopp ausgedrückt, hielt sie mich für ein emotionales Weichei. Daher der fürstliche Paukenschlag.