Fürstin des Lichts

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Irgendwann war es wiederum Katja, die die Faxen dicke hatte, wie sie das hinterher nannte. Der andere Grund, so erkannte ich: Sie musste ihr bizarres Geheimnis schlicht mal ausspucken. Also ballerte die Kommissarin ihrem Chef hemmungslos einige schwer verdauliche Tatsachen über mich um die Ohren.

Mit versteinerter Miene stand er wortlos auf und ging.

Was soll ich tun?“, bat ich die Sphäre um Rat.

Lass ihn, er wird das Gesagte verdrängen und danach so tun, als kämen die Informationen ausschließlich von Katja selbst.“

Mehr umständlich denn behutsam erklärte ich es der Kommissarin. Sie zeigte sich fürs Erste einverstanden. Dabei schwang noch etwas anderes, Zartes in ihrer Seele mit.

Ups, Katja beginnt sich in ihren Chef zu verlieben. Da werde ich mich hübsch heraushalten.“

Sie wird deine Hilfe benötigen, Lilia.“

Oh nein!“

Oh ja“, brummten sie im tiefsten Bass zurück.

Befreit genossen wir Frauen unser Frühstück nun doppelt. Nach dem ersten Glas Sekt wagte ich mich an meine eigentliche Mission. „Katja, was wäre, wenn du schon vorher von einem Mordkomplott wüsstest?“

„Na, das wäre echt cool. Jedenfalls, wenn der Täter trotzdem hinter Gittern verschwindet“, erwiderte sie herzhaft. Ganz langsam folgte der schräge Blick in meine Richtung. Ich sah ihr Gehirn förmlich rattern. „Du meinst, du willst sagen, also…“

„Nicht nur tolles Essen und verschwundene Leichen, genau.“

Drückende Unsicherheit musste in ihrem Inneren aufkeimender Angst weichen, flackernder Mut griff an, bevor ihr Instinkt zögerlich das Rudern durch unbekannte Gewässer übernahm. Die Kommissarin würde es schaffen. Sie musste es schaffen!

Was vom Sonntag für mich allein übrig blieb, investierte ich in ein zukünftiges Mordkomplott. Einmal ist immer das erste Mal. Oder?

Zur Belohnung gönnte ich mir hinterher als verspätetes Abendessen eine Pizza der Größe L, belegt mit frischem Gemüse. Der Vorteil, wenn man allein lebte, war, hemmungslos mit den Fingern essen zu können. Mein Bauch nahm unterdessen die Form einer Melone an, sozusagen von der Honig- zur Wassermelone anschwellend. „Ein wenig Bewegung könnte jetzt nicht schaden.“

Aber draußen herrschte längst die Nacht über das Firmament.

Aus einem unergründlichen Nichts ließ mein Kopf in seine Stille hinein Clara Pontys „Melancholy“ erklingen. „Der Flügel!“ Ich ging ins Wohnzimmer, entzündete Kerzen und öffnete ihn. Bedächtig setzte ich mich auf den Schemel, ließ meine Augen über die Tasten gleiten. Mit leicht gespreizten Fingern legten sich meine Hände sacht darüber. Zaghaft wiederholte ich „Melancholy“. Von dem akzeptablen Resultat ermutigt, versuchte ich mich an Chopins „Nocturne“. „Ah, welch eine Wonne!“ Verborgene Sehnsüchte glitten durch meine Finger hinaus wie Freudentränen. Darin versinkend, erklang die „Mondschein-Sonate“. Nun mit geschlossenen Augen wogend, verlor ich jedes Gefühl für Zeit und Raum.

Lilia! Lilia!“ Mit donnernder Macht riefen die Sternelben.

Verwirrt wusste ich mich kaum in die Realität zurück zu befördern.

Lilia, komm zu dir!“

Warum, was ist?“

Elin, du musst sie retten!“

Ihre Botschaft sprengte sämtliche Träumereien mit Lichtgeschwindigkeit aus meinem Kopf. „Wo ist sie?“

Schnell, wir führen dich, benutze den Wagen.“

Die Sternelben lotsten, nein, scheuchten mich quer durch die nächtliche Stadt in Richtung Osten, bis eine große Industriebrache auftauchte.

Spute dich, Lilia, ihr müsst schleunigst fort.“

Ich sprang aus dem Wagen, hastete über Steinbrocken, verrostete Drähte und abgekippten Sperrmüll, begleitet von beißendem Güllegestank. „Ist hier ein Abwasserrohr geplatzt?“ Würgend presste ich eine Hand vor die Nase. Meine Augen schossen hektisch hierhin und dorthin, bis ich ein schwächliches Glimmen zu erkennen glaubte.

Elin lag halb verborgen unter einem zerbeulten Blechstück. Behutsam hob ich sie auf. Die Elbe wog – nichts. Ihr Licht schien beinahe erloschen.

Elin, Elin, bitte halte durch, ich bin bei dir, alles wird gut.“

Kaum mehr wahrnehmbares Flüstern: „Lilia, in die Kirche.“

Die Sternelben drängten mit brausendem Gesang zur Eile. Im stolpernden Laufschritt trug ich die Elbe zum Auto, legte sie auf die Rückbank und sprang zurück auf den Fahrersitz. Mit Vollgas ging es über rote Ampeln nach Santa Christiana.

Vorsichtig mit dem linken Arm Elin haltend, tastete ich nach dem Schlüssel für die Kirchentür. Die Lichtwesen erleuchteten bereits den Altarraum. Langsam ließ ich mich auf das Kissen sinken, zog Elin auf meinen Schoß und richtete ihre offenen Handflächen zum Licht aus. Mein Herz stolperte vor Kummer, Furcht und Erschöpfung, doch meine Gedanken gehörten allein ihr. „Werdet ihr sie retten? Bleib bei mir, Elin!“

Das Licht erstrahlte heller, immer heller um uns. Aber ihr leiser Gesang schläferte mich bald ein, friedlich gegen die Seitenwand des Altars gelehnt. So wurde niemand Zeuge des ungeheuerlichen Geschehens. Inmitten ihres grellen Lichtkegels erschien ein feiner, silberner Strahl. Er zielte auf meine Seele, verharrte, und verschwand in mir.

Genau diese Horrornacht wählten die Sternelben aus, um klammheimlich die Seele ihrer Elbenfürstin Joerdis in meinen Körper zu geleiten.

Lilia, aufwachen, die Morgendämmerung beginnt!“

Benommen gewahrte ich meine Umgebung. „Wie geht es ihr?“

Das Elbenvolk ist zäh, sorge dich nicht länger.“

Die Elbe bewegte sich.

Elin! Bist du okay? Was ist eigentlich passiert?“

Abwehrend verschloss sie ihren Geist. „Vielleicht später.“

Aber jetzt bleibst du nachts erst einmal zuhause, bis du wieder richtig fit bist“, forderte ich streng.

Ein kleines Lächeln als Antwort. Doch mir zog sich der Magen zusammen bei dem Gedanken, wie knapp die Elbe ihrem Tod entronnen sein mochte.

Danke, Elbentochter.“

Raimund öffnete im ungünstigsten Moment den Vorhang seines Schlafzimmerfensters, nämlich als wir über den Kirchhof gingen. Noch bevor er in seinem Kopf die Frage, was ich zu der frühen Uhrzeit dort tat, zu Ende formulieren konnte, sah er mich leuchten.

Gemeinsam mit Elin hatte ich eine so enorme Energiedosis abbekommen, dass trotz des Tagesanbruchs ein unübersehbarer Lichtschein um mich schimmerte.

Raimund stierte. Ruckartig zog er den Vorhang wieder zu, nur um ihn fünf Sekunden später erneut beiseite zu zerren. Eine bockige Stimme in seinem Innern tönte: „Und sie ist doch ein Engel!“

Da saßen Elin und ich bereits im Wagen und fuhren davon.

Aus dem Buch „Inghean“

Die Seelenschmelze wurde in der vergangenen Nacht vollzogen. Noch ist das Menschenkind ahnungslos, wen es nun in sich trägt und welche Bürde damit verbunden ist.

Die Hiobsbotschaft über Raimunds morgendliche Beobachtung erwischte mich beim Frühstück. „Du musst zu ihm“, befahlen die Sternelben.

Irrsinnige Kopfschmerzen malträtierten mich.

Rufe nach Elin, sie kann den Schmerz lindern.“

Doch nicht deswegen, sie soll sich erholen.“

Lilia, tu es.“

Das war mir wahnsinnig peinlich, aber die Elbe winkte ab und setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch. „Ein klarer Fall von Energiemissbrauch. Leg deine Hände auf meine.“

Vertrautes Kribbeln erfasste meine Hände.

Ich zapfe dich ein wenig an“, erklärte Elin.

Zum Zeitvertreib sang sie ein Elbenlied über die Sterne. Der Schmerz verschwand.

Bitte, kann ich dir jetzt vielleicht helfen?“

Möchtest du das wirklich?“

Mutig bejahte ich.

Dann will ich mich mit den Sternelben beraten.“

Im selber Einbrocken hielt ich die einsame Spitze.

Raimund wartete in schierer Seelennot auf mich, berichteten die Sternelben auf dem Weg zum Pfarrhaus. Einmal vor der Tür noch tief Luft holen. Klingeln. Die Haustür wurde derart schnell aufgerissen, als hätte der Priester dahinter gestanden.

„Lilia.“ Er musterte mich von oben nach unten und rückwärts, begleitet von einer lupenreinen Gefühlskakophonie. Dank Elin gab ich zwar keine Leuchtboje mehr, was Raimund dennoch keineswegs beruhigte. Im Gegenteil, jetzt traute er seiner eigenen Beobachtung vom Morgen kaum mehr über den Weg.

„Darf ich trotzdem hereinkommen?“

„Äh, ja natürlich.“

Kaum saßen wir an dem runden Tisch, redete ich Klartext – wie üblich ohne gründliche Überlegung. „Raimund, ich bin kein Engel. Ein Teil von mir ist elbisch, deswegen habe ich heute Morgen geleuchtet.“

„Elbisch?!“

„Engel sind …“

„Elbisch?“

„Sekunde, lass mich ausreden. Also, es hat nie Engel mit Flügeln und all dem Zeug gegeben, sondern es sind Elben. Ein alter Übersetzungsfehler der Mönche. Verstehst du? Der Rest ist einem Übermaß an menschlicher Fantasie geschuldet.“

Ein einziges, gigantisches Fragezeichen saß mir gegenüber.

„Raimund“, nahm ich den nächsten Anlauf, „die Elben sind nicht aus Fleisch und Blut. Sie benötigen zum Leben die Energie des Lichts“. Nochmal tief Luft holen. „Da ich nun mal weder ganz Mensch noch ganz Elbe bin, benötige ich beides, Essen und Licht. Vergangene Nacht bekam ich sozusagen von Letzterem eine Überdosis ab und deshalb habe ich geleuchtet.“

„Sind?!“

Himmel, an welcher Stelle ist er denn jetzt?“, fragte ich verzweifelt in die Sphäre.

 

Lilia, er hat vernommen, dass es noch immer Elben gibt.“

Verd… !“ Nächster tiefer Atemzug. „Mensch, Raimund, du weißt es doch längst, hör auf dein Herz, deine Seele!“

Mit hängendem Kopf saß er da, minutenlang. Geduldig trank ich Tee.

„Du hast Recht, bis auf meinen Verstand habe ich es erkannt. Aber wo sind sie?“, fragte er flehentlich.

Traurig sah ich ihn an und schüttelte nur meinen Kopf.

Er glaubte zu verstehen. „Wir Menschen sind schuld. Richtig?“

„Ja und nein. Doch diese Geschichte mag ich jetzt nicht über meine Lippen bringen. Die vergangene Nacht war grauenerregend.“

Mitleidig schaute er mir in die Augen. Eine Frage lag jedoch so glühend auf seiner Seele, dass sie hinaus musste: „Sprichst du in der Kirche mit diesen Elben?“

„Ja, mit Sternelben. Sie lehren mich, damit ihr Erbe in mir wachsen kann. Denn sie benötigen meine Hilfe.“ Beinahe hätte ich sarkastisch angefügt: weil der Teufel los ist.

Lilia!“, trillerte die Sphäre tadelnd.

Schon gut, ich bin still.“ Trotzig fügte ich hinzu: „Elin und ich benötigen mal Ferien von dem ganzen Horror.“

Nach dem verpatzten Gespräch mit dem Priester trottete ich in die Kirche, auf ein Donnerwetter gefasst.

Ihr Licht schien diesmal kaum stärker als ein Sonnenstrahl. Die Sternelben gingen jedoch über meine Hitzköpfigkeit gnädig hinweg. Stattdessen sangen sie mir ein Lied über den Kampf zwischen Elben und Dämonen. Ich lauschte aufmerksam.

Lilia, du weißt, lediglich zu Anbeginn kämpften sie mit Blitz und Feuer. Diese gewaltige Macht ist ihnen genommen.“ Dann erzählten sie mir, wie die Elben lernten, aus ihrem inneren Licht eine Waffe zu formen. Zudem ersonnen sie die Kunst des Schwertkampfes. Die tückischen Dämonen benötigten weit weniger Zeit als gedacht, um die neuen elbischen Fähigkeiten in Schwarz zu kopieren. Das Gemetzel zwischen ihnen ging weiter.

Ihre Geschichte klang für mich so lange wie von einem anderen Planeten, bis dies kam: „Dein Mut ist noch wankend, doch soll dich Elin im Gebrauch des Lichts und in anderen Fertigkeiten unterrichten.“

Warum beschlich mich das untrügliche Gefühl, dass sie mit ihrer Entscheidung haderten?

In der Tat wendete sich das Blatt allzu schnell, der Dämonfürst spielte mit Elin – noch. Von dem wahren Ausmaß der vor mir liegenden Geschichte kannte ich damals kaum mehr als den Buchdeckel.

Kapitel 5

Elin leistete mir Gesellschaft, indem sie zum Frühstück ein Lied über das Lichtschwert Hormin sang. Es diente allein der Elbenfürstin, führte sicher ihre Hand, bewachte seine Herrin auf Leben und Tod. Viele Jahrhunderte lang währte der letzte Kampf zwischen ihr und dem Erdfürsten der Dämonen. Als er den grausamen Sieg errang, verschwand Hormin mitsamt Joerdis.

Unverzüglich vergaß ich die angeknabberte Brotscheibe, war völlig in ihrer Geschichte gefangen. Der Dämonfürst schien seit meinem ersten „Buchtag“ wie eine Klette an meinen Eingeweiden zu haften. „Was will er? Oder ist die Frage schon falsch?“ Logisch betrachtet, war es ein Unding, dass ausgerechnet ich gegen unterirdische Monster antrat. Und selbst Elin, eine echte Elbe, besaß keine ausreichende Stärke, es mit dem Fürsten aufzunehmen. „Wie löst man gleich noch den berühmten gordischen Knoten?“ Ich schluckte und antwortete mir selbst: „Mit dem Schwert!“

Die ganze Zeit über beobachtete Elin mich genauestens. Trotz meines rechtzeitig verschlossenen Geistes musste meine Mimik wohl Bände gesprochen haben.

Mit ungelegten Eiern lässt sich nicht jonglieren“, suchte sie mich abzulenken.

Wo hast du denn den Spruch aufgegabelt?“

Sie lächelte kurz, kam aber direkt auf Ernsteres zu sprechen. „Nachdem wir ausgiebigen Urlaub genossen haben, werden wir heute mit deinem Unterricht beginnen.“

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Elins eigener Urlaub umfasste zwei und meiner drei Tage.

Bevor wir für die Übungen in den Park gehen, lehre ich dich zunächst Blickschutz.“

Mein Kopf produzierte ein Fragezeichen.

Ganz einfach, sähe dich ein Mensch auf dem Rasen wild herumfuchteln, dann kämst du in ziemliche Erklärungsnot.“

Einleuchtend. „Und wie stelle ich das an?“

Erst aufessen!“

Ein „Ja, Mutti“ lag mir auf der Zunge.

Natürlich hielt die Elbe es für überflüssig zu erwähnen, dass das Gelingen solch magischen Kunststücks bei einer Halbelbe keineswegs ausgemacht war.

Zehn Minuten später standen wir in der Eingangshalle. Dort verschwand die Elbe vor meinen Augen und wurde beinahe im selben Atemzug wieder sichtbar. Sie befahl: „Hülle dich in einen unsichtbaren Kapuzenumhang.“

Meinst du so einen Tarnumhang wie bei Harry Potter?“

Bitte?“

Du sagtest, ich soll …“

Ich weiß, was ich sagte.“

Und woher nehme ich das Teil?“

Elin stemmte ihre Hände in die Hüften und sagte betont langsam für extra Doofe: „Aus deinem Querschädel.“

Ah – ja.“ Damit verbunden vermittelte ich der Elbe einen Wasserfall an Fragezeichen.

Erst riss ihr Blick meinen Kopf ab, dann besann Elin sich. „Für die Menschin nochmal von vorne: Du stellst dir in deinem Geist einen unsichtbaren Umhang vor. Den hängst du dir um. Klar?“

Äh, versuchsweise. O – kay…“

Es funktionierte! Was Elin richtig schön überrumpelte. Ich gebe zu, die reine Wahrheit war: Gesicht und Hände hingen ohne Körper in der Luft.

Die Elbe zog mich vor den großen Flurspiegel.

Nun verhülle den Rest.“

Aber ich schüttelte mich bei diesem durchgeknallten Anblick dermaßen vor Lachen, bis mir der Bauch wehtat. Minutenlang ging nichts mehr.

Albern wie ein Teenager!“, schimpfte Elin.

Dieselbe Botschaft sandte mir meine Gefühlszentrale bereits seit Tagen. Das Elbenkind mauserte sich klammheimlich und in atemraubender Geschwindigkeit zum Teenager. „Hihi!“

Kurz darauf betraten wir beide wie unsichtbare Geister die ausgedehnte Rasenfläche des Parks.

Na, dann wollen wir gleich mal sehen, ob deine Kampfmagie ebenso stark ist“, forderte die Elbe mich heraus.

Ach, ich hab ja noch mein Kleid an.“

Umso besser“, meinte sie.

Merkwürdig, dass ich zunehmend nach Kleidern, vorzugsweise in Weiß, greife statt nach bequemen Jeans.“

Lilia, bitte konzentriere dich“, mahnte Elin. „Du hast große Mengen an Licht in dir gespeichert. Jetzt geht es darum, sie wieder hinaus zu lassen. Schließ deine Augen und erspüre die Energie in dir.“

Die Aufgabe dauerte einen Hauch länger. Als ich es geschafft hatte, begann ich vergnügt, ein bisschen mit dem Licht in meinem Innern zu spielen.

Irgendwann hörte ich ein verständnisloses: „Was brauchst du denn so lange dafür?“

An Stelle einer Antwort formte ich eine kleine Lichtkugel und befahl sie in meine rechte Hand. Dann warf ich die Kugel zu Elin hinüber. Könnten Elben in Ohnmacht fallen, sie hätte es getan. Garantiert!

Elin stöhnte nur noch: „Überspringen wir also die Lektionen 1 bis 4. Wozu habe ich überhaupt einen Lehrplan ausgebrütet?“

Tja“, erwiderte ich schelmisch, „ich werde elbisch und du menschelst.“

Wir lachten uns kringelig.

Den restlichen Vormittag formte ich mit dem absoluten Maximum meiner Konzentrationsfähigkeit abwechselnd Bälle, Kreise, Seile oder Säulen aus gleißendem Licht. Im zweiten Schritt lernte ich, den Lichtkörpern einfache Befehle zu erteilen. Im Grunde genommen agierte ich wie ein Jongleur, bloß ohne Muskelkraft. Eine wahrhaft anstrengende Arbeit.

Schluss für heute!“

Mehr als einverstanden ging ich mit Elin ins Haus. Irgendwie fühlte ich mich leer, selbst noch nach Sandwiches mit Milch.

Ab in die Kirche!“, kommandierte die Elbe.

Hungrig nahm ich in Santa Christiana neues Licht in mir auf. „Hungrig?“ Zwar hatte ich es gegenüber Raimund kürzlich erwähnt, doch zum ersten Mal empfand ich das Licht tatsächlich als Nahrungsquelle. Raimund. Manchmal schaute er mir eine Zeit lang in der Kirche zu. Seine Sehnsucht, sein Verlangen galt den Lichtwesen. Ein einziges Mal diese Wesen hören, das war sein unerfüllbarer Traum. Denn hier fand Magie ihre Grenze. Oder fand vielmehr das Wollen der sphärischen Geschöpfe sein hartnäckiges Ende?

Die Sternelben zeigten sich erfreut über meine magischen Fortschritte. Diesmal sangen sie eine Geschichte über die Elbenfürstin. Ihr Mut, ihre Anmut, ihre klare Seele und ihre starke Hand kamen darin vor. Ach, im Vergleich zu Joerdis fühlte ich mich wie ein Wicht.

Warum nennt ihr und Elin niemals den Namen der Fürstin?“, wollte ich spontan wissen.

Ehre und Achtung verbieten es“, behaupteten sie.

Ich stutzte. „Warum trage ich dann ihren Namen?“

Das haben nicht wir entschieden!“

Ende der Durchsage. Ich fühlte mich wie eine abgekanzelte Erstklässlerin. „Schluss mit lustig“, ätzte mein Alter Ego. Womit es leider vorausschauend recht behielt.

Nach der unerquicklichen Zusammenkunft schickten mich die Sängerinnen auf den nahe gelegenen Marktplatz. Als Folge der Magie drückte ich mich vor lästigen Einkäufen jeder Art. Die Kehrseite: Meine Mitmenschen bekam ich so gut wie nie zu Gesicht. Damit verstieß ich gegen den ersten Auftrag der Lichtwesen, zuvorderst die Seelen meiner Mitmenschen hören zu lernen.

Wenige Kunden besuchten am späten Nachmittag die Marktstände. Daher fiel mir die gebrechliche, alte, ärmlich gekleidete Frau sofort auf. Sie schleifte einen Shopper hinter sich her, der kurz vor dem Zerfallsdatum stand. Ihr Geist war überfüllt von seelischer Müdigkeit, Schmerz und Sorgen.

„Eine kleine Steckrübe, bitte.“

„Heute ist Broccoli im Angebot“, empfahl die Marktfrau freundlich.

„Nein, nein, den kann ich mir nicht leisten.“

Es tat mir in der Seele weh, ihr gutes Herz unter der Last des Leids verschüttet zu sehen. Kurz entschlossen trat ich hinzu und sprach sie an. „Heute ist mein Engeltag. Sie dürfen sich aussuchen, was immer sie mögen, und ich bezahle.“

Sogleich blickte sie mich mit tiefem Vertrauen an. Trotzdem musste ich bei Apfelsinen und Frühkartoffeln gut zureden. Nach beglichener Rechnung nahm ich die alte Frau sacht am Ellenbogen und dirigierte sie nacheinander zum Bäckerwagen und zum Metzger. Mein letztes Bargeld tauschte ich gegen Honig ein.

Ordentlich schleppend, geleitete ich sie bis vor ihre schäbige Haustür und entschwand glücklichen Herzens, bevor die Frau auch nur Luft holen konnte.

Auf dem Heimweg befragte ich die Sternelben nach ihrem schweren Schicksal. Ich wollte mehr tun. Sie aber sagten Ja und Nein dazu.

Du wirst allerorts zu viele solcher Menschen finden, wenn du sehen willst, zu viele um allen Bedürftigen helfen können. Erst wenn das Böse in seine Schranken verwiesen wird, kommt eine bessere Zeit für solch geschundene Seelen.

Resigniert gab ich mich geschlagen.

Aber der alten Frau würde ich helfen, beschloss ich dickköpfig. Nicht mit Geld, denn das nähme ihr Kalle, der verwahrloste Sohn, gleich weg. So hatte sie es mir auf dem Heimweg gestanden. Doch mit Sachspenden, wie man so schön sagt, und zwar mit allem, was sie dringend benötigte. „Warum fühlt sich das jetzt falsch an?“ Wie bei einer geschüttelten Limodose kam die Erkenntnis in einem Schwall durch meine Gehirnwindungen geschossen. Jetzt kapierte ich den Sinn: „Um den Guten zu helfen, gehört das Böse in seine Schranken. Also der Sohn der alten Frau!“

Richtig durchschaut, Lilia.“

Erzählt mir bitte von ihm und ebenso, wo ich ihn finden werde.“

Kalle hauste in einer Ein-Zimmer-Sozialwohnung, mit Matratze auf dem Boden, reichlich leeren Flaschen, umgekipptem Aschenbecher und sonstigem Müll drum herum. Ein Klischee zum Durchwaten – und Riechen. Magisch eingebrochen, stellte ich einen nagelneuen Koffer neben den wackligen Tisch, setzte mich vorsichtig auf den einzigen Stuhl und erwartete seine Ankunft. Von den Sternelben wusste ich, ihn interessierte nur eins im Leben: Geld.

 

Bald schwang die Wohnungstür auf.

„Hallo, Kalle.“

„Was suchst’n du in meiner Hütte, Schnalle?“

Na, wenigstens noch nüchtern. „Ich hörte, du bist an Geld interessiert.“

„Wenn ich deinen Alten umnieten soll, biste hier falsch.“

„Mein Job für dich lautet: Verschwinde aus der Stadt, und zwar endgültig.“

„Pah, ich hab nich mal Geld für’n Öffi-Fahrschein.“

„Kalle, mach den Koffer auf.“

Misstrauisch beäugte er ihn. „Bin doch nich blöd, nachher is da ‘ne scheiß Giftschlange oder ‘ne Bombe drin, wat weiß icke. Du machst auf.“

Also kniete ich mich vor den Koffer, ließ die Schlösser aufspringen und klappte die Hälften auseinander. Zum Vorschein kamen saubere Kleidung, Kulturbeutel, Schuhe, ein Reisepass und eine Plastiktüte.

„Was’n in der Tüte?“ Den Rest ignorierte Kalle.

„Eine halbe Million Euro“, antwortete ich, während die offene Tüte unter seine Boxernase wanderte.

„Du willst mich verarschen, Alte.“ Doch sein Kennerblick sprach eine andere Sprache.

„Du hörst mir jetzt ganz genau zu. In fünf Stunden geht dein Flugzeug nach Kanada. Du rührst bis dahin keinen Alkohol an, machst keinen Abschiedsbesuch bei deiner Mutter oder sonst jemandem.“ Aus meiner Handtasche zog ich den Umschlag mit seinem Flugticket, selbstredend One way. Eindringlich blickte ich ihm in die Augen.

Instinktiv wich er zurück.

„Dies ist die einzige Chance deines Lebens, verwirk sie, und du bist so gut wie tot.“

Die folgenden Wochen vergingen rasant und der Sommer rückte näher. Täglich unterrichtete Elin unermüdlich den Gebrauch von Energie, das Wirken einer Lichtbarriere als Selbstschutz oder die Geschmeidigkeit meines Körpers. Auf Deutsch: Lichtzirkus, Ganzkörperkondom und Schlangenmensch.

Anfangs stand ich mir selbst permanent im Weg, weil mein menschlicher Kopf immer wieder Anläufe für das Oberkommando nahm.

Lass die Elbe ran“, rief Elin unentwegt, wenn mein Verstand eine Übung vermurkste.

Von ihren intergalaktischen Fähigkeiten schien ich noch Lichtjahre entfernt. Ja, zugegeben, auch weil ich in dem Training reine Spielerei sah. Die Dämonenfurcht war allmählich tief im Hinterkopf eingeschlafen. Natürlich bemerkte die Sphäre das und begann, Wissen tröpfelnd Abhilfe zu schaffen.

Fast täglich stand am späten Nachmittag der Kirchenbesuch auf dem Programm. Ich lud Licht und lernte emsig, es nicht in den Kopf steigen zu lassen. Von wiederholt durchlittenen Kopfschmerzen wegen Übertankens hatte ich die Nase gestrichen voll. Die Sternelben hingegen brachten mir die Welt der Finsternis behutsam näher. Besser gesagt das Wenige, was sie darüber wussten. Da kein Licht in die tiefe Schwärze der dämonischen Unterwelt vordringen konnte oder wollte, blieb das höllische Treiben fast komplett ihr Geheimnis.

Dämonen, so fügte ich es mir wie ein Puzzle zusammen, stellten die Umkehrung der Elben dar: schwarz, massig, böse, feindlich, hinterlistig, Qual und Tod befeuernd. Indem sie Detail um Detail für mich Gestalt annahmen, verloren die Gruftlinge den wilden Schrecken des Unbekannten – und mutierten zu fantastischen Sagengestalten. Auch wieder falsch.

Zudem fühlte ich mich wie eine lediglich halb geschlüpfte Schmetterlingslarve im Frühling. Das Elbenerbe und die Menschfrau in einem Körper, dieser Konflikt schien unlösbar. Verstand oder elbische Intuition, Muskelkraft oder Magie, Weisheit des Lichts oder menschliche Lebenserfahrung? Oh ja, ich war die meiste Zeit schwer mit mir selbst beschäftigt. Wie das bei Teenagern halt so ist.

Aus dem Buch „Inghean“

Meine Sternschwestern verweigern dem Menschenkind noch immer die Wahrheit. Auch die Fürstin schweigt. Worauf warten sie?

Das längere Tageslicht nutzte ich inzwischen freiwillig, um von Santa Christiana aus Streifzüge durch die Stadt zu unternehmen. Etwas Unheimliches ging spürbar vor sich. Wann immer ich es zuließ, floss mir weit mehr Schlechtes und Trauriges als Gutes aus den menschlichen Seelen entgegen. „Berliner in kollektiver Depression oder was?“

Katja bekam ich kaum noch zu Gesicht. Die Polizei soff regelrecht in den sprunghaft zunehmenden Gewaltexzessen unter den Einwohnern ab. Selbst Mord und Raub verpesteten ganze Stadtteile. Die Menschen begriffen nicht, wie ihnen geschah. Und ich? Weigerte mich stur zu begreifen, was ich längst wusste.

Nacht um Nacht saß ich für die Mordkommission am PC. Obwohl jeder Bericht des Grauens dank magischer Kraft immer kürzere Zeit beanspruchte, war mir selbst das zuwider. Schlaf geriet zum verzichtbaren Luxus. Sogar Elin hatte anderes als ständige Ermahnungen zum Essen im Kopf. Unterschwellig wuchs unsere Anspannung wie ein Krebsgeschwür, auch unter den Lichtwesen.

Oft sah ich die Elbe einer Statue gleich auf dem Rasen in der Sonne stehen. Ihre Unruhe umwaberte sie wie ein grauer Gazeschleier.

Eher nebenbei erfuhr ich dann auch mal vom sphärischen Gesangsverein, wer hinter all dem Übel steckte. Der Dämonfürst hatte einen magischen Weg gefunden, das Schicksal auszuhebeln. Seine Sklaven manipulierten Menschen für ihre rabenschwarzen Zwecke.

Die Information landete in einer jener Schubladen meines Gehirns, die extra für unverdauliche Härtefälle angelegt waren.

Kein Wunder, dass die menschliche Normalität bei Jay und Schorsch im Vorderhaus auf mich wie ein Magnet wirkte. Manchmal verordnete ich mir eine Normalopause und zauberte den Jungs drüben vor ihrer Heimkehr ein Abendessen. Zur Belohnung lud ich mich selbst zum Essen ein.

Schorsch arbeitete für einen Chemiekonzern. Sein Charakter orientierte sich am Fels der harten Fakten. Er war ehrlich, etwas reserviert und auf das geradlinige Erreichen jedes gesteckten Ziels ausgerichtet. Jay besaß seit knapp zwei Monaten eine eigene Arztpraxis. Als Kinderarzt kam ihm seine eigene geistige Verspieltheit bei den kleinen Patienten gut zupass. Er war ein Träumer, dem Kunst, klassische Musik oder ein funkelnder Sternenhimmel eben solche Freude bereiteten wie mir.

Irgendwie kamen wir an jenem lauen Sommerabend, während wir relaxed in den Korbsesseln auf ihrer Terrasse lümmelten, auf Opern zu sprechen.

Schorsch rollte theatralisch mit den Augen.

„Warst du überhaupt mal selbst in einer Aufführung?“, fragte ich sofort.

„Klar, auf dem Gymnasium. Unser Musiklehrer hat uns in die ‚Zauberflöte‘ gezerrt.“

Jay und ich stöhnten im Duett auf: „Die würde ich mir niemals antun.“

Schnell überlegte ich mir ein Lockangebot: „In der kommenden Opernsaison suchen wir eine Aufführung für dich aus und du gehst mal auf Probe mit.“

Schorsch setzte zum Wolfsgeheul an.

„Stopp, warte.“ Mir fiel gerade noch rechtzeitig ein unwiderstehlicher Köder ein. „War die Oper ehrlich Schrecken ohne Ende für dich, darfst du uns zur Revanche in einen Klub deiner Wahl schleppen.“

Jetzt greinte Jay, aber Schorsch grinste breit und triumphierte schon: „Ihr werdet es nicht bereuen!“

Eines harmlosen Nachmittags überraschten mich die Sternelben mit ihrer Bitte, abermals einen neuen Pfad zu beschreiten. „Lilia, rede mit Katja. Deine Unterstützung für das Kommissariat greift bei weitem zu kurz. Nur wenn du an ihrer Seite wirkst, können die Gräueltaten der Dämonen zurückgedrängt werden.“

Aber wie soll das funktionieren, ohne dass andere Menschen aufmerksam werden?“ Da plärrte mein Alter Ego dazwischen: „Wie lange willst du dich noch feige an deinem Schreibtisch verstecken?“

Sie sangen gnädig über das kleine Intermezzo hinweg „Du wirst einen Weg finden, Elbentochter.“

Ich erkannte ihren Plan als das, was er war: ein Akt schierer Verzweiflung. Wir alle standen hilflos einem heraufziehenden Orkan gegenüber – und warteten. „Worauf? Können oder wollen sie es nicht sagen?“

Selbstverständlich wussten die Sternelben damals um jene besondere, die Zukunft bestimmende Prophezeiung. Und um die daran geknüpfte Frage: Würde das Schicksal sie bewahren oder durchtrennen?

Ach ja, und außerdem hatten mich die Lichtwesen zum ersten Mal als ‚Elbentochter‘ angesungen. „Wieso das?“ Die Frage ging in dieser aufgewühlten Gemengelage völlig baden. Blöder Fehler!

Grimmig entschlossen versuchte ich den Balanceakt über das Hochseil zu Katja und ihrer Mannschaft.

Als mein Plan stand, überredete ich die Kommissarin zu einem freien Tag. „Gib dir einen Ruck, du drehst sonst komplett durch. Außerdem habe ich äußerst Wichtiges mit dir zu besprechen“, drängte ich am Telefon.

„Schon gut, ich kapituliere, also Samstag.“

Ein grandioser Brunch erwartete Katja auf der von Duftrosen gesäumten Terrasse.

„Ah, paradiesisch. Weißt du eigentlich, wie gut du es hast?“ Dabei blickte sie in meine sorgengewölkten Augen. „Entschuldige, Lil, tut mir leid!“

Mit gespieltem Poltern forderte ich: „Können wir jetzt endlich frühstücken? Die Kalorien müssen schließlich für den Rest der Woche reichen.“

Unsere Sektgläser klirrten aneinander.