GEWAHR SEIN

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Allgemein gesagt, kann man eine Beziehung als das Teilen des Energie- und Informationsflusses ansehen. Für einen Anthropologen, Soziologen oder Linguisten findet unser mentales Leben zwischen uns statt. Das Gehirn kann als ein verkörperter Mechanismus des Energie- und Informationsflusses betrachtet werden. So verfügen wir über einen Innen-Geist, innerhalb des von Haut umhüllten Körpers, einschließlich des vom Schädel eingeschlossenen Gehirns –, was wir einfach als unser »verkörpertes Gehirn« bezeichnen können. Und wir haben einen Zwischen-Geist in unseren Beziehungen. Diese können auch als unser Innen- und unser Zwischen-Geist bezeichnet werden, die Innen- und Zwischen-Ursprünge unserer selbst. Der Geist ist innen und dazwischen.

Ich weiß, dass diese Sichtweise des Geistes als etwas, das jenseits der Grenzen des Schädels und sogar der Haut ist, für viele neu sein kann und sich von dem, was häufig gesagt wird, unterscheidet. Doch langes Nachdenken und wissenschaftliche Belege unterstreichen diese These, dass der Geist verkörpert und relational ist.

Das gemeinsame Element des Geistsystems ist der Energie- und Informationsfluss. Dieser Fluss wird nicht vom Schädel oder von der Haut begrenzt.

Der auf diese Art und Weise betrachtete Geist besitzt zumindest vier grundlegende Aspekte, die uns bei der Übung mit dem Rad nützlich sein werden, um das Wohlbefinden in Ihrem Leben zu verbessern. Jeder dieser vier Aspekte des Geistes wird ein Baustein sein, den Sie und ich auf unserer Reise nutzen, um einen wissenschaftsbasierten praktischen Weg in Richtung Kultivierung des Wohlbefindens im weiteren Leben zu gestalten.


1. Bewusstsein ist die subjektive Erfahrung, seiner selbst und, im konkretesten Sinne, all dessen gewahr zu sein, wessen wir uns tatsächlich gewahr sind. In diesem Moment, da Sie die Worte auf dieser Seite lesen, sind Sie sich beispielsweise Ihrer Existenz und besonderen Bedeutung gewahr. Mit anderen Worten, Bewusstsein setzt sich sowohl aus dem Gewussten als auch aus dem Wissen zusammen.

(Der Rand ist die metaphorische Darstellung des Gewussten; die Nabe repräsentiert das Wissen. Wenn wir den Energie- und Informationsfluss ausrichten, setzen wir Aufmerksamkeit ein, die durch die Speiche des Rads dargestellt wird.)


2. Subjektive Erfahrung ist die gefühlte Beschaffenheit des Lebens, so wie es gelebt wird. Sich der subjektiven Erfahrung gewahr zu werden und diese sogar selbst zum Ausdruck zu bringen (wie beim Tagebuchschreiben) und mit anderen zu teilen (wie bei Gesprächen, die sich auf die innere Natur des Geistes im Dialog mit anderen fokussieren), verbessert das Wohlbefinden. Subjektive Erfahrung, oder was manchmal Erfahrung in der »Ich-Form« genannt wird, kann als Primärrealität bezeichnet werden, das heißt, dass sie auf nichts anderes als auf sich selbst reduziert werden kann. Wie wir bald sehen werden, könnte ein Prim aus irgendeinem Mechanismus unserer Realität heraus entstehen, und als Prim kann diese emergente Eigenschaft nicht auf die Elemente reduziert werden, aus denen sie hervorgeht. Ein Prim ist so grundlegend wie unser Zugang zur Realität. Unsere Idee also ist die, dass unsere subjektive Erfahrung, lebendig zu sein, aus dem Energiefluss im Innern und untereinander entsteht.

3. Informationsverarbeitung ist die Art und Weise, wie wir Energieflüsse – im Gehirn, im Körper und in unseren Beziehungen – aufnehmen und Sinn produzieren. Informationen sind Energiemuster mit symbolischem Wert; sie repräsentieren etwas anderes als die Energiemuster selbst. Informationsverarbeitung ist etwas, das im Bewusstsein stattfindet, aber viel des Energie- und Informationsflusses des Geistes geschieht, ohne dass das Bewusstsein involviert wird.

Wenn ich beispielsweise »Golden Gate Bridge« schreibe, ist das ein Lichtmuster (oder Klangmuster, wenn Sie und ich uns durch gesprochene Wörter miteinander verbinden), das zu Ihnen als Energiemuster mit symbolischer Bedeutung kommt. Der Begriff steht für etwas – er ist ein Symbol von etwas; die Worte sind nicht die Dinge selbst. Die Brücke ist nicht die Zusammenstellung von Buchstaben oder die Klangwellen, die Worte bilden –, aber die Worte bezeichnen die Brücke. Sie symbolisieren oder »re-präsentieren« die wirkliche Brücke als eine sprachliche Darstellung. Wir können sagen, dass dieser Symbolismus »Energie-In-formation« ist, weil er symbolische Repräsentationen bildet, gemeinsame Elemente unseres Innen- und interpersonellen Lebens, die wir einfach als Informationen bezeichnen werden. Und in Anbetracht dessen, dass Information als Energiemuster ein fortwährender Zustandswechsel ist, bezeichnen wir diese Bewegung, diese Transformation, mit Verarbeitung und Fluss.

Und nun, zum vierten Aspekt des Geistes …

4. Selbstorganisation reguliert den Energie- und Informationsfluss. Sie ist eine emergente Eigenschaft komplexer Systeme. Ein kurzer Blick auf diesen regulatorischen Prozess könnte hilfreich sein, diesen wichtigen vierten Aspekt des Geistes zu beleuchten. In einer überaus kontraintuitiven Art und Weise taucht diese emergente Eigenschaft aus dem Fluss der Elemente eines komplexen Systems auf und kehrt dann zu seinem Ursprung zurück und formt das, aus dem es entsprang. Wie seltsam ist das denn? Dennoch ist die Mathematik komplexer Systeme ziemlich klar – in unserem Universum besitzen komplexe Systeme die Eigenschaft der Selbstorganisation. Dieser Prozess reguliert rekursiv seine eigenen Ursprünge, indem er sein eigenes Werden und dann weiterhin seine eigene Emergenz formt. Seltsam, aber ein Teil unserer Realität.

Selbstorganisation ist der Grund dafür, warum Wolken sich nicht einfach gerade, auf ordentliche Art und Weise aufreihen und warum sie nicht zufällig sind. Selbstorganisation optimiert die Entfaltung des Systems durch Differenzieren und Verknüpfen. Die Mathematik hinter dieser emergenten Eigenschaft komplexer Systeme ist, na ja, komplex, aber sie könnte intuitiv verstanden werden. Die Wahrscheinlichkeit, wie das System fließt, wird durch Differenzieren und Verknüpfen maximiert – und diese Maximierung der Komplexität verstärkt sein eigenes Werden.

Nun können Sie diesen natürlichen Prozess blockieren, indem Sie die Differenzierung oder die Verknüpfung oder beide stilllegen, und dann wird sich das System nicht harmonisch bewegen, sondern, wie wir gesehen haben, in Richtung Chaos oder Erstarrung gehen. Doch wenn Sie diese Hindernisse der Selbstorganisation beiseiteschaffen, besteht der natürliche Drang eines komplexen Systems darin, die Harmonie der Integration hervorzubringen. Auf diese Weise könnte das Bewusstseinsrad uns helfen, Wohlbefinden in unserem Leben zu entwickeln.

Wir können annehmen, dass jenseits des Bewusstseins, der subjektiven Erfahrung und der Informationsverarbeitung, für den Geist auch diese Definition des »verkörperten und relationalen, emergenten selbstorganisierenden Prozesses, der den Energie- und Informationsfluss reguliert« zutreffen könnte. Dies erlaubt uns, wie wir sehen werden, zu sagen, was ein gesunder Geist sein könnte, und zeigt uns Schritte, um einen starken Geist zu entwickeln, der innen wie zwischenmenschlich Integration schafft.

Ein integrierter Fluss schafft Harmonie. Mit mathematischen Begriffen ausgedrückt, wir haben gesehen, dass dieser Fluss optimaler Selbstorganisation fünf Merkmale besitzt, die durch das Wort FACES verdeutlicht werden: Flexibilität, Adaptabilität, Kohärenz (gutes Funktionieren über einen längeren Zeitraum oder Resilienz), Energie (ein Gefühl der Vitalität) und Stabilität.

Studien zum Wohlbefinden haben herausgefunden, dass das beste Anzeichen für Gesundheit und Glück in einem integrierten Gehirn besteht, was Forscher als ein »vernetztes Konnektom« bezeichnen. Das heißt, dass die Verknüpfung der differenzierten Gehirnareale miteinander – ein Prozess, der die Koordination und Balance des Gehirns als Ganzes ermöglicht – wahrscheinlich den Mechanismus ausmacht, der es ermöglicht, dass die Regulation optimiert wird – die Art und Weise, wie wir Aufmerksamkeit, Emotionen, Gedanken, Verhalten und unsere Beziehungen regulieren. Auch in Studien zur Meditation wird ein erhöhtes Wohlbefinden mit dem Wachstum integrativer Gehirnregionen – präfrontaler Cortex, Corpus callosum, Hippocamps und Konnektom – in Verbindung gebracht.

Wie wir gesehen haben, überwacht ein regulatorischer Prozess das, was er reguliert, und modifiziert zugleich das Regulieren – wie beim Fahrrad- oder Autofahren. Durch diesen vierten Aspekt des Geistes als selbstregulatorischer Prozess können wir erkennen, wie eine natürliche Implikation das Überwachen stabilisiert und dann lernt, es in Richtung Integration zu modifizieren. Was wird überwacht und dann modifiziert? Der Energie- und Informationsfluss. Wo findet das statt? Innerhalb des Körpers und zwischen dem Körper und anderen Menschen, der Umwelt und dem Planeten.

Das Bewusstseinsrad als Theorie und Praxis wurde durch diese Sicht des Geistes inspiriert. Um einen gesunden Geist zu entwickeln, die Fähigkeit, den Energie- und Informationsfluss im Inneren und im Austausch mit anderen zu stabilisieren. Und um dann, wenn das Beobachten gestärkt wurde, zu lernen, den Energie- und Informationsfluss durch das Differenzieren und Verknüpfen des nun deutlich wahrgenommenen Flusses in Richtung Integration zu modifizieren.

Zusammengefasst, der vierte Aspekt des Geistes definiert den Geist als einen zum Teil regulatorischen Prozess. Den Geist zu stärken bedeutet, diese beiden Regulationsschritte durchzuführen.

 

1. Stabilisieren Sie das Beobachten, sodass Sie auf tiefere, klarere und detailliertere Art und Weise wahrnehmen können.

2. Modifizieren Sie in Richtung Integration, sodass Sie durch Differenzierung und Verknüpfung formen können.

Aus dieser Perspektive erklären sich die drei grundlegenden Elemente, um einen starken Geist zu trainieren.

Drei Säulen des Geistestrainings

Forschungsberichte zeigen, dass die drei Faktoren – fokussierte Aufmerksamkeit, offenes Gewahrsein und die Ausbildung von Mitgefühl oder das, was wir freundliche Absicht nennen – drei der Kernbestandteile dafür sind, um Wohlbefinden und Glück in unserem Leben zu entwickeln. Es kann gut sein, dass künftig noch weitere Elemente hinzukommen.

Die wissenschaftlich belegten Elemente des Geistestrainings beziehen diese drei Aspekte mit ein:

1. Fokussierte Aufmerksamkeit: die Fähigkeit, die eigene Konzentration aufrechtzuerhalten, Ablenkungen zu ignorieren oder sie loszulassen, wenn sie auftauchen, und die Aufmerksamkeit erneut auf das gewählte Objekt der Aufmerksamkeit zu richten.

2. Offenes Gewahrsein: die Erfahrung der Geistesgegenwart, bei der ein Zustand des Empfänglich-Seins für Objekte innerhalb des Gewahrseins aufrechterhalten wird, ohne sich an sie zu binden oder sich in ihnen zu verlieren.

3. Freundliche Absicht: die Fähigkeit, über einen Geisteszustand mit positiver Aufmerksamkeit, Mitgefühl sowie nach innen gerichteter Liebe (was manchmal als »Selbstmitgefühl« bezeichnet wird und was wir »inneres Mitgefühl« nennen) und nach außen gerichteter Liebe (was manchmal als »außengeleitetes« Mitgefühl bezeichnet wird und was wir interpersonelles Mitgefühl nennen) zu verfügen.

Die Forschung weist darauf hin, dass diese drei Aspekte sich gegenseitig ergänzen und wachsendes Wohlbefinden in Körper und Geist, unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen und unser mentales Leben, unsere Aufmerksamkeit, unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Gedächtnis unterstützen.

Insgesamt betrachtet, zeigt sich auch hier der Mechanismus, den wir bereits beschrieben haben – dort, wohin die Aufmerksamkeit geht, findet neuronales Feuern statt und es bilden sich neuronale Verbindungen.


Eine Möglichkeit, um mehr Präsenz in unserem Leben zu entwickeln, um achtsamer in unserem Alltagsleben zu werden, sodass wir dessen gewahr sind, was gerade geschieht, und um innerhalb dieses offenen Gewahrseins freundliche Aufmerksamkeit zu kultivieren, besteht darin, eine regelmäßige Praxis durchzuführen, die den Geist auf diese drei miteinander verbundenen Arten und Weisen trainiert. Dieses Geistestraining wird manchmal Meditation genannt. Wenn wir lernen, die fokussierte Aufmerksamkeit zu stärken, machen wir uns im Wesentlichen die Kraft unserer Speiche zunutze, um die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Punkte entlang unseres Rands auszurichten. Wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auszurichten, sie aufrechtzuerhalten und Abweichungen in unserem Fokus zu erkennen und dann die Aufmerksamkeit umzuleiten. Offenes Gewahrsein hilft uns, unseren Zugang zur Nabe zu stärken, indem wir das Wissen des Gewahrseins vom Gewussten auf dem Rand unterscheiden. Mithilfe dieser Beobachtung können wir emotionales Gleichgewicht erlangen, indem wir wissen, wann wir in den Rand hineingezogen werden, und unsere Fähigkeit, zur Gelassenheit der Nabe zurückzukehren, nutzen. Und mithilfe der freundlichen Absicht entwickeln wir die Grundlagen von Empathie und Mitgefühl, die Fürsorge für andere und uns selbst.

Der Begriff Achtsamkeit, der häufig zusammen mit dem Begriff Achtsamkeitsmeditation gebraucht wird, besitzt tatsächlich keine singuläre, fixe Definition, die von allen Übenden und Forschern geteilt wird. Das Wesentliche dieses Begriffs kann so zusammengefasst werden: sich dessen gewahr zu sein, was passiert, während es passiert, ohne von vorherbestimmten mentalen Aktivitäten wie Urteilen oder Ideen, Erinnerungen oder Emotionen hineingezogen zu werden. In unserem Forschungszentrum an der UCLA bieten wir Übungen in achtsamem Gewahrsein an (auf englisch: »MAPs« = »mindful awareness practices«, A.d.Ü.), die, wie die Wissenschaft gezeigt hat, das Wohlbefinden im Körper, im Geist und in den Beziehungen fördern. MAPs schließen Sitzmeditation, Gehmeditation, Yoga, Tai-Chi, Qigong und Gebete ein. Dies alles sind Wege, auf denen wir den Geist stärken und Gesundheit in unser Leben bringen können.

Für mich können diese MAPs als etwas betrachtet werden, das sich durch folgende gemeinsame Merkmale auszeichnet. Natürlich geht es um Gewahrsein. Doch darüber hinaus berücksichtigen sie, dass man seiner Absicht Aufmerksamkeit schenkt und der Erfahrung des Gewahrseins selbst gewahr wird. In vielen, aber nicht in allen Übungen geht es um eine freundliche Aufmerksamkeit, ein Gefühl der Fürsorge und des Mitgefühls sich selbst und anderen gegenüber, was meine psychologischen Kollegen Trudy Goodman Kornfield und Jack Kornfield, zusammen mit Ram Dass, liebevolles Gewahrsein genannt haben und was Shauna Shapiro und ihre Kollegen als freundliche Aufmerksamkeit bezeichnet. Shelly Herrell gebraucht den Begriff »soulfulness«, um Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund erreichen zu können, die eher etwas mit der Vorstellung, seelenvoll oder gefühlvoll als achtsam zu sein, anfangen können. Andere Psychologen, wie etwa Paul Gilbert, haben sich mehr auf das Mitgefühl fokussiert, während wiederum andere, wie Kristin Neff und Christopher Germer, diese Mitgefühlskomponente von der Achtsamkeit selbst unterschieden haben und insbesondere das Selbstmitgefühl thematisiert und studiert haben.

Präsenz wird manchmal für die Vorstellung des Gewahr- und Empfänglich-Seins für das, was gerade geschieht, gebraucht. Präsenz umfasst die Sensibilität, dass wir unseren Geisteszustand variieren können, und zwar selbst dann, wenn unser physischer Körper gerade mit einer Erfahrung beschäftigt ist. Wir können über ein empfängliches Gewahrsein dessen verfügen, während es gerade geschieht, und dann von »achtsam sein« sprechen. Oder wir könnten abgelenkt werden, während unser Geist zu anderen Belangen abschweift, ganz gleich, auf was wir uns zu fokussieren versuchten oder in welche Aktivität wir physisch involviert sind. Wenn unser Geist unabsichtlich abschweift, dann sind wir nicht präsent, nicht auf eine empfängliche Art und Weise gewahr, nicht achtsam, und wir hemmen, wie Studien belegen, das Glücklich-Sein – sogar dann, wenn wir von aufregenden Dingen tagträumen. Mentale Präsenz ist ein Seinszustand des Hellwach- und Empfänglich-Seins für das, was geschieht, während es gerade geschieht, in uns selbst und zwischen der Welt und uns. Präsenz kultiviert Glück.

Ich habe das Akronym COAL entwickelt, um mich selbst an den Zustand der Präsenz zu erinnern, der, so glaube ich, im Zentrum jedes empfänglichen Gewahrseins steht, das man als achtsam bezeichnen könnte oder was andere als herzlich, gefühlvoll oder freundlich bezeichnen: Neugier, Offenheit, Akzeptanz und Liebe2. In diesem Geisteszustand sind wir für das Leben präsent.

Obgleich die populäre Bezeichnung achtsam eine Vielzahl an Bedeutung in sich schließt, die von vielen Klinikern und Forschern benutzt wird, explodierte das öffentliche Interesse an der Achtsamkeit in den letzten Jahren, der Unkenntnis seiner genauen Bedeutung zum Trotz. Der aufregende Teil dieser expandierenden Neugier besteht für mich darin, dass Menschen daran interessiert zu sein scheinen, zu erkunden, wie sie mehr Präsenz in ihrem Leben entwickeln könnten, sodass sie gesünder, glücklicher und freundlicher sich selbst und anderen gegenüber sein können. Alles davon kann als ein Weg angesehen werden, den Geist selbst wahrzunehmen, ein Prozess mit verschiedenen Namen, den ich Mindsight nenne. Mindsight befähigt uns zu Einsicht, Empathie und Integration.

Erstaunlicherweise entwickeln wir diese wichtigen Fertigkeiten des Geistes mithilfe des Aufmerksamkeitsfokus. Vielleicht haben Sie in unserer ersten Übung zum Gewahrsein des Atems bemerkt, dass Ihr Geist regelmäßig von seinem beabsichtigten Fokus abschweift. Lassen Sie uns erkunden, was diese unterschiedlichen Merkmale der Aufmerksamkeit im Zentrum einer so einfachen Übung, wie sich auf die Wahrnehmung des Atems zu fokussieren, sein könnten.

Fokale und nicht-fokale Aufmerksamkeit

Um verschiedene Formen der Aufmerksamkeit zu unterscheiden, kann man feststellen, ob der Energiestrom, der der Fokus unserer Aufmerksamkeit ist, ins Gewahrsein tritt. Wenn der Fokus der Aufmerksamkeit Bewusstsein einschließt, spricht man von fokaler Aufmerksamkeit; wenn er das nicht tut, handelt es sich um nicht-fokale Aufmerksamkeit. Um diesen Unterschied besser zu verstehen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um folgende kurze Aktivität auszuprobieren: Gehen Sie einfach im Raum, in dem Sie sich gerade befinden, umher. Während Sie dies tun, achten Sie darauf, wessen Sie gewahr werden, indem Sie wahrnehmen und beobachten, was vor Ihren Augen ist, was Sie mit Ihren Füßen spüren, oder mit Ihren Händen, wenn Sie sich mit einem Rollstuhl bewegen, oder, wenn Sie blind sind, was Sie mit Ihrem Stock oder Ihren Händen spüren, wenn Sie herumgehen. Nehmen Sie so viele Signale aus der Außenwelt auf, wie Sie nur können, und bringen Sie sie ins Gewahrsein Ihres Bewusstseins. Dies ist das Wissen, gewahr zu sein, und das Gewusste ist das, dessen Sie gewahr sind. Mit anderen Worten, Sie sind sich Ihrer Umgebung so gewahr, wie Sie nur können. Richten Sie den »Scheinwerfer der Aufmerksamkeit« wie eine Taschenlampe auf einem dunklen Weg auf alles, was Sie wahrnehmen, während Sie im Raum herumgehen.

Das Scheinwerferlicht fokaler Aufmerksamkeit ist danach bestrebt, dass Ihre mentale Fähigkeit den Energiefluss in Richtung Bewusstsein bündelt. Das ist fokale Aufmerksamkeit, die das Bewusstsein mit bestimmten Aspekten Ihrer Erfahrung beim Herumgehen im Raum ausfüllt. Gleichzeitig aber richtet Ihr Geist, wie Studien zeigen, auch ein vielleicht breiteres Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit auf viele Aspekte Ihrer Erfahrung, die niemals ins Bewusstsein treten. Wir nennen dies nicht-fokale Aufmerksamkeit. Auf nicht-fokale Art und Weise haben Sie auf Ihr Gleichgewicht geachtet, um nicht hinzufallen, und darauf, nicht an etwas zu stoßen. Sie könnten bemerkt haben, dass Sie sich in Gedanken oder eine Erinnerung verloren haben. In diesem Moment lag Ihre fokale Aufmerksamkeit auf diesen mentalen Prozessen, und nicht mehr auf Ihrer Umgebung. Doch Sie fielen nicht hin oder haben sich nicht angestoßen, weil Ihre nicht-fokale Aufmerksamkeit dafür sorgte, dass Sie auf potenziell gefährliche Hindernisse achteten und für Ihre Sicherheit sorgte – sogar ohne Ihr Bewusstsein. Unser nicht-bewusster Geist hat tiefgehenden Einfluss auf unser Verhalten und darauf, wie wir uns fühlen und wie wir denken, selbst dann, wenn wir uns nicht darüber bewusst sind.


Über diese Übung reflektierend, denken Sie über andere Szenarien nach, bei denen Sie sich Ihrer Umgebung sowohl bewusst als auch nicht-bewusst sind. Wenn Sie beispielsweise wandern, werden Sie auf die Steine auf dem Pfad vor Ihnen achten, während Sie die Steine, an denen Sie bereits vorbeigegangen sind, nicht mehr beachten. Aufmerksamkeit hilft Ihnen zu überleben; sie hilft Ihnen, sich in der Welt, in der Sie leben, zurechtzufinden. Wenn Sie ihr keine Aufmerksamkeit schenken, ob fokaler oder nicht-fokaler Natur, könnten Sie stolpern und hinfallen. Wenn Sie ihr Aufmerksamkeit schenken, werden Sie eher überleben und erfolgreich sein.

Aufmerksamkeit – ob fokale oder nicht-fokale, mit oder ohne Bewusstsein – hilft Ihnen, sich in einer Welt der Energie zurechtzufinden.

Indem wir wichtige Energiemuster ins Bewusstseins bringen, können wir erkennen, welche Bedeutung sie haben; wir können »Energie-In-Formationen« herstellen und interpretieren, sodass wir die Informationen vor uns enträtseln und ihre Bedeutung für uns bestimmen. Wie wir gesehen haben, sind Informationen einfach ein Energiemuster mit symbolischem Wert. Wenn diese Informationen bewusst sind, können wir über ihre Bedeutung nachdenken und entscheiden, wie wir darauf reagieren. Dies ist ein Weg, auf dem uns das Bewusstsein vor die Wahl stellt und es uns ermöglicht, eine Veränderung herbeizuführen. Mithilfe dieses Bewusstseins können wir entscheiden, wie wir vorgehen, wohin wir gehen, was wir vermeiden und welche Richtung wir einschlagen – sowohl in physischer als auch in emotionaler Hinsicht. Wir können eine Pause einlegen und über verschiedene Wahlmöglichkeiten nachdenken und uns dann eine aussuchen, die zu unserer Situation und zu unseren Präferenzen am besten passt.

 

Bewusstsein gibt uns die Gelegenheit, zu wählen und zu verändern.

Mit einer solchen fokalen Aufmerksamkeit, mit der Aufmerksamkeit, die den Energie- und Informationsfluss ins Bewusstsein strömen lässt, können wir nachdenken und gewollte, sorgfältige Entscheidungen treffen, indem wir fokussierter und klarer beobachten, sodass wir Veränderungen bewusster und wirksamer vornehmen.

Deshalb ist Aufmerksamkeit innerhalb des Gewahrseins – die fokale Aufmerksamkeit – so wichtig. Fokussierte Aufmerksamkeit ist, erinnern Sie sich daran, eine der drei Hauptsäulen der wissenschaftlich belegten Möglichkeiten, unser Wohlbefinden zu steigern – neben offenem Gewahrsein und freundlicher Absicht.

Mithilfe nicht-fokaler Aufmerksamkeit achtet unser Geist auch auf das, was vor sich geht, indem er den Energie- und Informationsfluss auf eine Art und Weise ausrichtet, die nicht ins Bewusstsein tritt. So können Sie auf Autopilot schalten oder Sie mit einem Freund sprechen oder sich selbst in Ihrer Vorstellung verlieren, während Sie einen Weg entlangwandern und trotzdem nicht stolpern oder hinfallen. Da Stolpern wenig hilfreich ist, legt Ihr nicht-bewusster Geist Wert darauf, Hindernisse wie Steine oder gefährliche Tiere zu meiden, um Ihnen zu helfen, Ihren Spaziergang zu überleben. Dieser nicht-bewusste Geist überwacht den Pfad selbst dann, wenn Ihr bewusster Geist, Ihr Gewahrsein in diesem Moment, nicht von visuellen Bildern des Wegs erfüllt ist. Sie könnten Ihren Umkehrpunkt auf dem Pfad verpassen, weil sie ihm keine (fokale) Aufmerksamkeit schenken, aber es ist unwahrscheinlich, dass Sie über einen Stein oder einen Ast auf Ihrem Weg stolpern, weil Sie dem Weg tatsächlich nicht-fokale Aufmerksamkeit schenken. Ihr nicht-bewusster Geist achtet auf Ihre Reise. Die nicht-fokale Aufmerksamkeit kann unser Verhalten formen, sodass wir nicht stolpern, und es beeinflusst sogar das, was in unser Gewahrsein als Ablenkung eintritt während eines Versuchs, fokussiert zu bleiben, wie bei der Atem-Gewahrseins-Übung.

Und daher umfassen sowohl die fokale Aufmerksamkeit als auch die nicht-fokale Aufmerksamkeit ohne Bewusstsein einen evaluativen Prozess, der den Energiemustern und Ihrem informativem Wert Sinn und Bedeutung zuschreibt, während sie Moment für Moment auftauchen. Auf Äste und Schlangen zu achten ist für unser Überleben wichtig, und wir registrieren diese Auffälligkeiten sowohl mit unserer bewussten als auch unserer nicht-bewussten Aufmerksamkeit. Im Gehirn sind die Regionen, welche die Aufmerksamkeit fokussieren und die Bedeutung von stattfindenden Ereignissen evaluieren oder einschätzen, in ihrer Struktur und Funktion miteinander verbunden. Aufmerksamkeit wird direkt durch diese Evaluation der Auffälligkeit oder Relevanz stattfindender Ereignisse in unserem Leben geformt.

Beobachtende Aufmerksamkeit und Bewusstsein

Unsere Tage sind erfüllt von Momenten gelenkter als auch abgelenkter Aufmerksamkeit. Manchmal entscheiden wir selbst, auf was wir unsere Aufmerksamkeit richten, und manchmal ziehen die Umstände der Welt unsere Aufmerksamkeit auf sich. Interessanterweise brauchen wir sowohl die gelenkte als auch die abgelenkte Aufmerksamkeit und wir brauchen sowohl die fokale als auch die nicht-fokale Aufmerksamkeit. Stellen Sie sich nochmals unseren steinigen Wanderpfad vor. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit absichtlich auf den Weg selbst lenken, sodass wir nicht über einen Stein stolpern und hinfallen. Doch wenn ein Bär sich plötzlich dazu entscheidet, unseren Pfad zu kreuzen, ist es wichtig, dass unsere Aufmerksamkeit von dieser neuen Tatsache unserer Erfahrung abgelenkt wird (und zwar schnell!). Während wir uns durch die Welt bewegen, müssen wir im Hinblick auf die gelenkte und die abgelenkte Aufmerksamkeit flink sein. Und dennoch, wenn es zu der Alltagserfahrung unseres Lebens kommt – mit anderen Worten, wenn es keinen Bär gibt, der unseren Weg kreuzt –, evaluiert unsere Beobachtung der Auffälligkeiten automatisch, was wichtig genug für uns ist, um unsere Aufmerksamkeit darauf zu fokussieren, und dies geschieht in der Regel sogar, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, dass unser nicht-bewusster Geist dies einschätzt.


Hier ist ein Beispiel, um diese wichtige Unterscheidung zu illustrieren. Denken Sie in Ihrer Vorstellung an das schwierige Gespräch, das Sie letzte Woche mit einem Freund hatten. Ohne es überhaupt zu bemerken, können Gefühle der Traurigkeit oder der Wut, die dabei aufgetaucht sind, wieder hervorkommen, weil die Auffälligkeiten Sie ermutigt haben, jedem Szenario Bedeutung beizumessen, das sich intuitiv mit dem aufregenden Gespräch verbunden anfühlt. Diese Emotionen sind nun relevanter, aktivierter aufgrund des Streits – sogar dann, wenn sie Ihnen im Moment nicht bewusst sind.

Dieser illustrative Fall der Meinungsverschiedenheit hilft, die Unterschiede zwischen Gewahrsein/Bewusstsein und Aufmerksamkeit zu beleuchten. Wir betreiben nicht-fokale Aufmerksamkeit die ganze Zeit über. Auf diese Art und Weise verarbeitet und verfolgt unser Geist wichtige Dinge, ohne den relativ begrenzten mentalen Raum des Bewusstseins aufzubrauchen. Dieser mentale Raum des Wissens, die subjektive Erfahrung des Bewusstseins, kann zu einer Zeit nur im Hinblick auf wenige Informationen funktionieren – gleich einer Schultafel des Geistes, manchmal als Arbeitsgedächtnis bezeichnet, das es uns erlaubt, Informationen zu manipulieren und neue Kombinationen bewusst zu kreieren. Doch Informationsverarbeitung erfordert kein Bewusstsein, und daher können wir uns Vorstellungen machen, Berechnungen anstellen und uns Lösungen für Probleme einfallen lassen, ohne diesen begrenzten Arbeitsgedächtnisspeicher aufzubrauchen. Um diesen Raum nicht zu überfluten, verfügen wir über die nicht-fokale Aufmerksamkeit, die den Energie- und Informationsfluss ohne Bewusstsein ausrichtet. Die Ausrichtung dieser Informationsverarbeitung wird immer noch vom Geist geformt; sie ist bloß kein Teil unserer bewussten subjektiven Erfahrung des Wissens, des Bewusst-Seins.

Die gute Nachricht ist, dass Sie lernen können, diese verschiedenen Aspekte der Aufmerksamkeit wahrzunehmen: ob sie von Ihnen selbst gelenkt oder von den Dingen auf sich gezogen werden, das heißt, nicht von Ihnen geführt, ob sie Bewusstsein umfassen und fokal sind oder nicht. Dieses Ausrichten des Energie- und Informationsflusses ist Aufmerksamkeit. Gewahrsein ist die subjektive Erfahrung des Wissens innerhalb des Bewusstseins. Wir »wissen«, was um uns und in uns vor sich geht, wobei wissen hier nicht faktisches Wissen, sondern eine subjektiv wahrgenommene Beschaffenheit des sich gegenwärtig entfaltenden Moments meint. Wir können den Zugang zu einer offeneren Erfahrung des Gewahrseins entwickeln, und diese Fähigkeit für eine bewusste Wahl und Veränderung stärkt unser Leben, sodass es sich mithilfe von Flexibilität und Absicht in Richtung einer integrierten Lebensweise bewegt. Bei der Ausbildung des Geistes geht es stets um die Entwicklung von Aufmerksamkeit, Gewahrsein und Absicht.

Die wichtigste Übung der inneren Einkehr, die Ihr Gehirn, Ihren Geist und Ihre Beziehungen und die Gesundheit Ihres Körpers stärken kann, und zwar auf alle Arten und Weisen, die wir diskutiert haben (indem Entzündungen reduziert und Herz-Kreislauf-Funktionen, die Immun-, die epigenetischen und die Telomerase-Funktionen optimiert werden), besteht darin, absichtlich kreierte, gelenkte und fokale Aufmerksamkeit zu entwickeln, während Sie den Energie- und Informationsfluss ins Gewahrsein/Bewusstsein fließen lassen. In vielerlei Hinsicht ist diese Übung, die Beobachtungsfähigkeit des Geistes zu stärken, der erste Schritt in Richtung Stärkung Ihrer Präsenzfähigkeit. Und mentale Präsenz ist das Eingangstor, um die Fähigkeit des Geistes, auf natürliche Art und Weise Integration zu schaffen, freizusetzen.