Medienlinguistik

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Die nächsten Seiten skizzieren die Versionenanalyse an diesem Beispiel. Eine Äußerung von Josep Piqué wird aus der Herstellungssituation gelöst (B|3.1.1), aus der komplexen Äußerung ausgekoppelt (B|3.1.2), in einer neuen Kommunikationssituation hervorgehoben (B|3.1.3) und in Folgetexte eingebettet (B|3.1.4) – was in mehreren Ketten geschieht (B|3.1.5). Dabei ändert sich die Bedeutung der Äußerung (B|3.1.6).


Kommunikationssituation: Am Anfang war die Frage

Die intertextuelle Kette – präziser: der hier untersuchte Ausschnitt einer solchen Kette – beginnt bei einer Medienkonferenz in Luxemburg, in der Nacht vom 2. auf den 3. April 2002 (B|1.1|_1). Eine EU-Sonderkommission, geleitet vom spanischen Außenminister Josep Piqué, hat beschlossen, eine Delegation der EU in den Nahen Osten zu entsenden. Ein Journalist der Zeitung EL PAÍS stellt eine komplexe Frage, Piqué antwortet und erteilt dann jemand anderem das Wort für die nächste Frage (_1).



Fall RISIKEN, die Situation am Anfang der intertextuellen Kette. Quelle: EU-Archiv

Der Journalist und Piqué sprechen Spanisch. Im Raum hörbar ist zusätzlich eine englische Simultanübersetzung. Die Frage des Journalisten, auf Deutsch übersetzt (_2):

Minister, Sie sagten, Sie hätten noch keine offizielle Bestätigung des Beschlusses des israelischen Kabinetts erhalten bezüglich der Abfuhr, die Herr Sharon dem Besuch von Herrn Aznar erteilt hat, da möchten wir wissen, ob, falls es so ist, falls die israelische Regierung dem Besuch von Aznar eine Abfuhr erteilt hat, es also irgendeinen Sinn macht, dass eine andere europäische Delegation, ob sie nun von Ihnen oder von Herrn Solana bestellt ist, da hingeht und vor allem; Welche Garantie haben Sie denn, dass Sie […] Herrn Arafat treffen können?


Die komplexe Frage des Journalisten von EL PAÍS, original Spanisch. Quelle: EU-Archiv

Der Journalist fragt Piqué, ob er es für sinnvoll halte, eine Delegation der EU zum palästinensischen Präsidenten Arafat zu schicken, wo doch der israelische Ministerpräsident Sharon schon verhindert habe, dass der EU-Ratsvorsitzende und spanische Regierungspräsident Aznar sich mit Arafat treffen könne.


Kotext: Piqué antwortet tastend

Piqué sagt in seiner Antwort zuerst ausdrücklich, ein Treffen zwischen Arafat und Aznar sei eben heikel; implizit sagt er damit auch, das neue geplante Treffen, ohne Aznar, sei weniger heikel. – Piqués ganze Antwort in deutscher Übersetzung (_1):

Nun also: Ich glaube, dass jedermann versteht, dass der Besuch des Präsidenten Aznar nur unter einigen, sehr bestimmten Bedingungen stattfinden kann. Doch glaube ich auch, dass es Einigkeit darüber gibt, dass viele Gesprächspartner vorhanden sind, viele Menschen, mit denen man sprechen müsste, Menschen, denen man die Botschaft der Europäischen Union überbringen müsste, und ich meine, wir sollten diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Insofern haben Sie Recht und es ist sicher so, dass die Möglichkeit, den Präsidenten Arafat zu treffen, eine ist, die zeitlich recht weit weg liegt. Deshalb müssen wir jegliches Vorprellen bei den verschiedenen Gesprächspartnern in der Region vermeiden. Das sind die Überlegungen, die wir uns jetzt machen, Überlegungen, die, wenn man so will, pragmatisch sind, praktisch, die unserer Ansicht nach aber Nutzen bringen können, da wir uns der Risiken, denen wir alle ausgesetzt sind, bewusst sind. Doch ist es sicher auch so, dass die Lage ernst genug ist, um uns zu veranlassen, bestimmte Risiken einzugehen.


Die komplexe Antwort von Josep Piqué, übersetzt aus dem Spanischen. Quelle: EU-Archiv

Die Lage sei also „ernst genug“, um die Kommission zu veranlassen, „bestimmte Risiken einzugehen“, sagt Piqué. Mit den „Risiken“ könnte er die Möglichkeit meinen, Arafat nicht zu treffen. Dieser Schluss liegt deshalb nahe, weil Piqué mit seiner Äußerung auf eine Frage eines Journalisten eingeht, die lautet: „Welche Garantien haben Sie denn, dass Sie […] Arafat treffen können?“ Ausdrücklich gibt Piqué in seiner Antwort aber zu bedenken, es seien „viele Gesprächspartner vorhanden“, also nicht nur Arafat. Es gelte, bei diesen Gesprächspartnern „jegliches Vorprellen“ zu vermeiden.


Einspuren: „Updates with Piqué quote“

Der Antwortcharakter der Äußerung und die Abtönung von „ernst“ mit „genug“ fallen weg, wenn das Quote aus dem Zusammenhang gelöst und gestrafft wird (_1):

LUXEMBOURG (AP) _ The European Union plans to send a high-level mission to the Middle East Thursday to urge Israel and the Palestinians to immediately implement a meaningful cease-fire as outlined in a March 30 United Nations resolution. | However, emerging from a special session, the 15 EU foreign ministers could not say who will go since Israel did not immediately guarantee safe access to Palestinian leader Yasser Arafat who is besieged by Israeli troops in his West Bank headquarters. | “The situation is serious, we have to take some risks, we are ready to do that,” said Spanish Foreign Minister Josep Piqué, who chaired the meeting.


Fall RISIKEN, Agenturmeldung. Quelle: ap_020403_1733

So die erste Meldung mit dem Quote, die von der Nachrichtenagentur AP veröffentlicht wird. Sie ist im Titelblock überschrieben mit „UPDATES with Piqué quote“; der Meldung mit dem Quote gehen andere englischsprachige Meldungen ohne dieses Quote voraus. Das Quote enthält zwei sprachliche Einheiten, deren Bedeutung nur im satzübergreifenden Zusammenhang erschließbar ist: „the situation“ und „risks“. Im sprachlichen Umfeld passt zu beiden nur der nicht zugesicherte „safe access“, der sichere, gefahrlose Zugang. Dies aber hat Piqué nicht gesagt.

Auch die Versicherung „we are ready to do that“ ist in dieser entschiedenen Kürze im Original nicht zu finden. Sie taucht hingegen in vielen anschließenden Meldungen wieder auf.


Weiterziehen: AP rekontextualisiert das Quote

Knapp sechs Stunden nach der englischen Meldung erscheint das Quote samt Versicherung zum ersten Mal im deutschsprachigen Dienst der AP. Auch hier steht es in einem Textzusammenhang, der andere Deutungen nahelegt als der ursprüngliche (_1):

[…] Romano Prodi erklärte unterdessen die amerikanischen Vermittlungsversuche in Nahost für gescheitert. | „Die Situation ist ernst, wir müssen Risiken eingehen und dazu sind wir bereit”, sagte der spanische Außenminister Joseph Piqué, der Vorsitzende der Sondersitzung. Von größter Wichtigkeit sei die Umsetzung der UN-Resolution 1402, die am 30. März verabschiedet wurde und Israelis und Palästinenser zu einer Waffenruhe auffordert.


Fall RISIKEN, Agenturmeldung. Quelle: ap_020403_2314

Welche „Situation“ ist ernst? Der Begriff ist nur zu füllen, indem man ihn auf das vorangehende „gescheitert“ bezieht – wieder ein Verständnis, das Piqués originale Äußerung nicht eindeutig nahelegt. Piqué kann sich mit „dass die Lage ernst genug ist“ (_1) ebenso gut auf den Nahost-Konflikt überhaupt bezogen haben. Was er mit „Risiken“ gemeint haben soll, wird in der rekontextualisierten Variante nicht klar. – Die nächste Fassung der AP dagegen bindet die „Risiken“ eindeutig (_2):

Derweil betonten die EU-Außenminister ihre Entschlossenheit zu schnellem Handeln: „Die Situation ist ernst, wir müssen Risiken eingehen, und dazu sind wir bereit“, sagte der spanische Außenminister und Ratsvorsitzende Joseph Piqué. Von größter Wichtigkeit sei die Umsetzung der UN-Resolution 1402, die am 30. März verabschiedet wurde und Israelis und Palästinenser zu einer Waffenruhe auffordert.

 

Fall RISIKEN, Agenturmeldung. Quelle: ap_020404_0703

Mit „Risiken“ scheint Piqué hier die „Entschlossenheit [der EU-Minister] zu schnellem Handeln“ zu meinen. Der Doppelpunkt zwischen dem Satz vor dem Quote und dem Quote selbst stützt diese Leseweise. Piqué indessen hat ausdrücklich gefordert, jedes Vorprellen zu vermeiden.


Nebenstränge: Das Quote in Nachrichten anderer Agenturen

Die Meldung einer anderen Nachrichtenagentur, aus einer anderen intertextuellen Kette, hält sich in diesem Punkt eher an Piqués Antwort (_1).

Piqué räumte ein, noch sei unklar, ob Israel es der Delegation ermöglichen werde, mit Arafat zu sprechen. „Wir müssen Risiken eingehen.“ Davon hänge ab, wie hochrangig die EU-Delegation sein werde.


Fall RISIKEN, Agenturmeldung. Quelle: rtr_020404_0126

Die „Risiken“ beziehen sich hier klar auf die Ungewissheit eines Treffens mit Arafat. Nicht erschließbar ist Piqués Gedanke weiterer möglicher Gesprächspartner, nicht wiedergegeben ist der Hinweis auf die ernste Situation. Ein erfundener Zusatz bleibt aus. Unklar ist der Bezug von „davon hänge ab“ nach dem Quote. – Eine weitere Nachrichtenagentur beschränkt sich auch auf die kurze Form des Quotes, bettet es aber in einen anderen Textzusammenhang ein, was Piqués Äußerung einmal mehr in ein anderes Licht rückt (_2):

So will die EU zunächst vor allem zur Beruhigung beitragen – mit allen reden, die dabei helfen können, wie Solana sagt. Ohne Vorbedingungen, auch wenn das hilflos wirkt. „Wir müssen Risiken eingehen“, meint der Ratsvorsitzende Piqué. Mit begrenzten Mitteln das Mögliche tun, sagt Fischer.


Fall RISIKEN, Agenturmeldung. Quelle: dpa_020404_1157

Piqué fasst in seiner Antwort an der Medienkonferenz die Argumente für die Entscheidung der Kommission zusammen als „pragmatisch“ und „praktisch“ (B|3.1.2|_1); von „hilflos“ ist nicht die Rede. Der Text der Agentur dagegen legt eine solche Leseweise nahe: Bis zur Wendung „wie Solana sagt“ gehört die Rede dem Generalsekretär Javier Solana. Bei der darauf folgenden Einschätzung „auch wenn das hilflos wirkt“ ist der Urheber unklar, möglicherweise ist es auch Solana. Jedenfalls scheint sich Piqué mit seinen „Risiken“ direkt darauf zu beziehen.


Die Leistung der Versionenanalyse: Fokus auf intertextuelle Ketten

Die Versionenanalyse des Falls RISIKEN ergibt: Nach einer Rekontextualisierung erscheinen Äußerungen in neuen kommunikativen und besonders in neuen sprachlichen Umgebungen. Solch neue Umgebungen legen aber neue Verstehensweisen nahe – zum Beispiel andere, vagere, aber auch eindeutigere Bezüge. Das Problem verschärft sich, wenn ein Quote sprachliche Einheiten wie „Risiken“ oder „die Situation“ enthält, deren Bedeutung stark unterbestimmt ist, also von der sprachlichen Umgebung und dem kommunikativen Umfeld abhängt.

In der untersuchten Quellentextkette haben Rekontextualisierungen verwischt, wer die Quelle einer Äußerung ist (B|3.1.5|_2); auf welche Frage sich die Äußerung als Ganzes bezog (B|3.1.1|_2); worauf sich die Kernbegriffe ursprünglich beziehen ließen (B|3.1.2|_1); was sonst noch gesagt wurde (B|3.1.5|_1); was nicht gesagt wurde (B|3.1.3|_1) und was ausdrücklich nicht mitgemeint war (B|3.1.4|_2). Weiter ist auffällig, dass sich die stark verzerrende Verdichtung „we are ready to do that“ (B|3.1.3|_1) in der intertextuellen Kette der AP-Texte fortgepflanzt hat, in Ausschnitten anderer Ketten aber nicht vorkommt (B|3.1.5).

Für solche Nachweise reicht der Vergleich von Textversionen, von fertigen Texten. Keinen Aufschluss gibt die Versionenanalyse hingegen darüber, ob die Journalisten beim Rekontextualisieren oder anderen Praktiken der Textproduktion bewusst gehandelt haben oder nicht; ob die Praktiken typisch sind für bestimmte Medien mit bestimmten Zielpublika oder nicht; ob in den Redaktionen die Praxis und die damit verbundenen Probleme diskutiert und ausgehandelt werden oder nicht. Dafür sind weitere methodische Zugriffe nötig.


Kognitive Praktiken untersuchen mit der Progressionsanalyse

Versteht Linguistik die Sprache als Schnittstelle kognitiver und sozialer Tätigkeit (B|2.1.2), untersucht sie den Zusammenhang von Sprachgebrauch und kognitiver Tätigkeit mit. Eine produktionsgerichtete Medienlinguistik, die nach dem sprachlich Besonderen und praktisch Relevanten in ihrem Anwendungsfeld fragt (B|1.1.4), stellt aus diesem Blickwinkel scharf auf die sprachbezogenen Entscheidungen im Arbeitsfluss: Was tun die einzelnen Journalisten genau, wenn sie im Takt der Medienproduktion Beiträge auf Maß herstellen, und warum tun sie es so? – Das erfasst die Progressionsanalyse.

Die Progressionsanalyse ist ein Mehrmethodenansatz, mit dem Daten auf drei Stufen gewonnen und aufeinander bezogen werden: Vor dem Schreiben wird mit Interviews und teilnehmender Beobachtung die Arbeitssituation nachgezeichnet, während des Schreibens mit computergestützter Beobachtung die Schreibbewegung vermessen, nach dem Schreiben mit datengestützten retrospektiven Verbalprotokollen das Repertoire der Schreibstrategien erschlossen (_1).

Progressionsanalyse: linguistisches Verfahren zur Datengewinnung und -analyse, das Textproduktionsprozesse direkt als kognitiv verankerte Tätigkeit und indirekt als sozial verankerte Tätigkeit erfasst.


■ Hodge, 1979 und Pitts, 1982 arbeiten mit Kernelementen der späteren P.: Sie lassen Journalisten ihr eigenes Schreibhandeln protokollieren und suchen in den Protokollen nach Grundmustern. ■ Perrin, 2003a oder Sleurs, et al., 2003 diskutieren ähnliche Umsetzungen der P. detailliert. ■ Van Hout & Jacobs, 2008 nutzen die P. zur Analyse von Wirtschaftsjournalismus; ■ Ehrensberger-Dow & Perrin, 2008 und Ehrensberger-Dow & Perrin, 2013 analysieren mittels P. Übersetzungsprozesse; ■ Rodriguez & Severinson-Eklundh, 2006 die Zusammenarbeit beim Herstellen von Textdokumenten; ■ Weder, 2010 Probleme der Rechtschreibung im Schreibprozess.

Wie man die Progressionsanalyse anwenden kann, zeigt der Fall WAHLKAMPF: Ein Rundfunkjournalist löst Ausschnitte aus einer Wahlkampf-Rede und baut sie in einen neuen Beitrag ein. Dabei unterwirft er sie seinen Produktionsbedingungen und seiner Kommunikationsabsicht: Er will das „Floskelhafte, Provinzielle“ des Wahlkampfs zeigen.

An diesem Beispiel führen die nächsten Seiten die drei Stufen der Progressionsanalyse vor: Arbeitssituation (B|3.2.1), Schreibbewegung (B|3.2.2), Schreibstrategien (B|3.2.3 und 3.2.4). Die Daten dieser drei Ebenen ergänzen sich zum Gesamtbild (B|3.2.5).


Die Arbeitssituation erfassen

Vor dem Schreiben hält die Progressionsanalyse mit Interview und Beobachtung fest, in welcher Situation jemand schreibt und auf welche Erfahrung sie oder er dabei baut. Wichtig sind etwa die Schreibaufgabe, die Berufssozialisation oder ökonomische und technologische Einflüsse am Arbeitsplatz. All diese Faktoren sind einerseits Teil einer realen Welt, andererseits Teil der Vorstellung, die sich der Autor von der Welt macht und die sein Handeln motiviert. – Für die Fallstudie WAHLKAMPF lautet ein Ausschnitt aus der Situationsanalyse (_1):

ECHO DER ZEIT ist die abendliche Hintergrundsendung zu den Nachrichten des Schweizer Radios DRS. Die Redaktion versteht sich laut Redakteur JS als „Bollwerk“ gegen die Tendenz zum Unterhaltungsjournalismus: Man wolle die Stärken des Mediums Radio nutzen, schnell über Neues informieren, Zusammenhänge verständlich aufzeigen, Meinungen kompetenter Persönlichkeiten vermitteln – und dabei die Vielfalt der Präsentationsformen auskosten und mit der Sprache bewusst umgehen. JS, *1955, arbeitet als Auslandredakteur und Produzent bei Echo der Zeit. In der Fallstudie schreibt JS ein Feature zum Thema Wahlkampf in Österreich. Acht Minuten soll der Beitrag umfassen, davon gehen drei Minuten an Originalton-Sequenzen („O-Töne“), die JS an Schauplätzen in Österreich aufgezeichnet und bereits geschnitten hat. Diese „O-Töne“ mit Aussagen der Quellen stecken den Textaufbau schon ab. Am Vortag der Ausstrahlung „macht“ JS zwischen 14:00 und 16:30 Uhr den Beitrag. Er tippt zuerst die Stichwörter zu acht „O-Tönen“ ins Textfenster; seinen eigenen Text schiebt er als Moderation dazwischen. Dabei stützt er sich auf seine Eindrücke und auf Informationen aus mitgebrachten Zeitungen. Zwischendurch plaudert er mit Kollegen. Ausgestrahlt wird der Beitrag im Echo der Zeit vom 19. März 1998 in der Rubrik Echo Dossier. Er dauert mit der Anmoderation 9 Minuten 11 Sekunden.


Fall WAHLKAMPF, Situationsanalyse. Quelle: sr_echo_980319_1800_wahlkampf_rahmen


Die Schreibbewegung vermessen

Während des Schreibens zeichnet die Progressionsanalyse jeden Arbeitsschritt auf, den jemand am Computer vollzieht. Dazu läuft hinter dem Textprogramm ein Aufzeichnungsprogramm. Das wissen die Schreibenden; anzunehmen ist, dass dieses Wissen sie am Anfang stärker irritiert, mit der Zeit weniger. Technisch bleibt der Aufzeichnungsprozess unsichtbar bis zur Auswertung.

Diese Auswertung geschieht zum Beispiel in S-Notation: Überall dort, wo jemand seinen Schreibfluss unterbricht, um etwas zu löschen oder einzufügen, setzt die S-Notation das Break-Zeichen | in den Text. Gelöschte Stellen, Deletionen, stehen in [eckigen Klammern]; nachträgliche Einfügungen, Insertionen, stehen in {geschweiften Klammern}. Insertionen und Deletionen bilden zusammen die Revisionen (_1). Die Zahlen unten an den Break-Zeichen und oben an den Klammern zeigen die Reihenfolge der Schritte, der Revisionen an (_2):

Revision: Schritt im Schreibprozess, bei dem eine sprachliche Einheit eingefügt oder gelöscht wird.


■ Severinson-Eklundh & Kollberg, 1996 entwickeln die „S-Notation“ zum Festhalten von Revisionen. ■ Lindgren & Sullivan, 2006 fassen die Schreibforschung zur R. zusammen. ■ J. Jones, 2008 untersucht R. in der Entstehungsgeschichte von Wikipedia-Beiträgen.

Bürgermeister-Rede-Ton während 8“ aufziehen 3{, dann drunterhalten}3 |4

 

Es gehe 1{um die Zukunft2[hat|2]2, 5[hat der Bürgermeister ge]5 |68[meint]8 |9}1 |3 6{9[e]9 |1010{sagte}10 |11 der 7[brüger|7]7Bürgermeister}6 |8 4{,und11{ meinte den Semmeringtunnel, die Sozialpolitik22[und]22 |23 23{,}23 |24 die EU-Osterweiterung 24{ und andere Wahlkampf-Themen}24 |25.

Bd A) o-ton 2: Höger 08“

Bd A) o-ton 3: Höger 13“

Bd A) o-ton 4: Pröll 27“


Fall WAHLKAMPF, Revisionen in S-Notation. Quelle: sr_echo_980319_1800_wahlkampf_1_snot

Erkennbar wird hier, dass JS zuerst eine Liste von Originaltönen notiert hat und nun den ersten („Bürgermeister-Rede-Ton“) und den zweiten („BD A o-ton 2“) mit einer Überleitung verbindet, wobei er die Regieanweisung zum ersten Originalton mit „dann drunterhalten“ ergänzt (Revision 3). Ähnlich wird er anschließend die weiteren Originaltöne mit Übergängen verbinden.


Ein Verbalprotokoll erstellen

Nach dem Schreiben erschließt die Progressionsanalyse die Repertoires individueller Schreibstrategien: Ist der Schreibprozess abgeschlossen, können sich die Autorinnen und Autoren in Echtzeit oder im Zeitraffer anschauen, wie der Text am Bildschirm entstanden ist. Dabei sagen sie laufend, was sie beim Schreiben getan haben und warum sie es getan haben. Ein Tonaufnahmegerät zeichnet diese datengestützten retrospektiven Verbalprotokolle auf. – So kommentiert JS den Originalton des Redners (_1):

Und da geht es auch noch darum, dass das noch so ein schöner Ton ist, du weißt, so unterhaltsam, wenn der da so etwas radebrechend die Leute dazu aufruft, SP zu wählen, weil es geht um die Zukunft. Das ist all das Floskelhafte, Provinzielle. Das finde ich noch so schön, wenn man das so zeigen kann. Also es ist wirklich halt etwas Länder-Reisen-Völker. Also so nach draußen schauen, ohne dass es jetzt gerade, ja, so knallharte Information sein muss, sondern auch etwas unterhalten.


Fall WAHLKAMPF, Protokoll zu Revision 53. Quelle: sr_echo_980319_1800_wahlkampf_1

JS’ retrospektives Verbalprotokoll ist natürlich nicht zu lesen als eine originalgetreue Wiedergabe der Überlegungen, die der Autor während des Schreibprozesses tatsächlich so angestellt hat. Vielmehr bringt JS, angeregt durch die Beobachtung seines eigenen Schreibens, einzelne der Überlegungen zur Sprache, die er in vergleichbaren Situationen anstellen könnte: Überlegungen, die in seinem Wissen zur Sprache, zum Sprachgebrauch und besonders zur Textproduktion gründen. Sie heißen hier Schreibstrategien.

Dabei sind Verzerrungen möglich. JS könnte zum Beispiel nur Dinge sagen, die er für erwünscht hält – also von Strategien sprechen, mit denen er die Forschenden beeindrucken will. Bei der Datenaufzeichnung und -auswertung sind solche Verzerrungen stets mit zu bedenken und wenn möglich zu verhindern. Auch wichtig ist aber, dass kein heute greifbares Verfahren ein direktes Fenster in den Kopf öffnet; Strategien, Überlegungen, Denkmuster können stets nur indirekt erschlossen werden.


Die Schreibstrategien erschließen

Unter Schreibstrategie (C|1.2.2|_3) verstehe ich die verfestigte, bewusste und damit benennbare Vorstellung davon, wie Entscheidungen beim Schreiben zu fällen sind, damit eine Schreibaufgabe optimal gelöst werden kann – damit also der Schreibprozess und das Textprodukt mit höherer Wahrscheinlichkeit eine zielgemäße Gestalt annehmen und eine zielgemäße Funktion erfüllen. – Mit Blick auf die noch unverbundene Liste der Originaltöne (B|3.2.2|_2) etwa sagt JS (_1):

Ja gut, das hat natürlich etwas damit zu tun, dass man diese O-Töne ja so geschnitten hat, dass es einen Sinn- oder, hoffentlich einen Sinn gibt. So kann man es dann aneinanderreihen. […] Also, das Konzept entsteht eigentlich beim Schneiden der O-Töne. Respektive, eigentlich schon beim Aufnehmen, also beim Fragen hast du ja schon das Konzept, weil du hast das Thema, das du ausführen möchtest. Dann fragst du auch etwas in diese Richtung.


Fall WAHLKAMPF, Protokoll vor Revision 1. Quelle: sr_echo_980319_1800_wahlkampf_1

In diesen beiden Äußerungsfolgen (B|3.2.3|_1 und B|3.2.4|_1) zeigen sich Strategien: mit dem Informationsbeitrag auch unterhalten; dazu die Rede eines „radebrechend[en]“ Politikers als Originalton einbauen, also rekontextualisieren, weil „das so ein schöner Ton ist“ und weil sie „das Floskelhafte, Provinzielle“ zeigt (B|3.2.3|_1); vor dem Schreiben die Originaltöne „aneinanderreihen“ und das Konzept des Beitrags „beim Schneiden der O-Töne“ entwickeln, wenn es nicht schon vor den Interviews feststeht (B|3.2.4|_1).


Die Leistung der Progressionsanalyse: Fokus auf Schreibprozesse

Die Progressionsanalyse des Falls WAHLKAMPF ergibt also: Die Rekontextualisierungen erfüllen primär produktionstechnische und dramaturgische Funktionen; der Journalist steckt mit Originaltönen sowohl den Produktionsprozess als auch das Textprodukt ab. Zuerst bestimmt er die Abfolge der „O-Töne“ (B|3.2.4|_1), dann schreibt er seine Teile als Brücken von „O-Ton“ zu „O-Ton“ (B|3.2.2|_2). Dabei rekontextualisiert er die Originaltöne vorwiegend nach seiner eigenen Gestaltungsabsicht – die von der vermutbaren Handlungsabsicht des Sprechers im Originalkontext stark abweichen kann, wie das Beispiel der Wahlkampf-Rede zeigt (B|3.2.3|_1).

Was leistet die Progressionsanalyse, was nicht? – Sie erfasst einzelne Fälle genau und vielschichtig, und sie kann Widersprüche und Parallelen feststellen zwischen dem, was ein Autor vor dem Schreiben über sein Schreiben sagt, was er beim Schreiben tut und was er danach zu Protokoll gibt. Als Mehrmethodenansatz verbindet die Progressionsanalyse also drei unterschiedliche, sich ergänzende Blickwinkel und ermöglicht so eine plastische Vorstellung vom Gegenstand. Sie bleibt aber im Kern auf die einzelnen Schreibenden ausgerichtet, auf das Schreiben als kognitiven und materialen Prozess.

Die Erkenntnis über Wechselwirkungen zwischen der Organisation oder einer anderen Gemeinschaft und den kommunizierenden einzelnen Akteuren bleibt an die Schilderungen der untersuchten Akteure und an die teilnehmende und computergestützte Beobachtung an deren Arbeitsplatz gebunden. Das Verfahren ist aufwendig, schon im Einzelfall. Soll erforscht werden, wie ganze Gemeinschaften wie etwa Redaktionen ihre Texte in Zusammenarbeit produzieren, muss die Progressionsanalyse mit weiteren Methoden verbunden werden.


Soziale Praktiken untersuchen mit der Variationsanalyse

Versteht Linguistik die Sprache als Schnittstelle kognitiver und sozialer Tätigkeit (B|2.1.2), untersucht sie auch die soziale Tätigkeit mit. Eine produktionsgerichtete Medienlinguistik, die nach dem sprachlich Besonderen und praktisch Relevanten in ihrem Anwendungsfeld fragt (B|1.1.4), stellt aus diesem Blickwinkel zum Beispiel scharf auf den Zielgruppenzuschnitt: Welche sprachlichen Mittel, zum Beispiel welchen Grad der Formalität, wählt eine Redaktion bei welchen Adressaten? – Das erfasst die Variationsanalyse.

Die Variationsanalyse fragt nach Art und Häufigkeit der typischen Merkmale von Äußerungen bestimmter Gruppen von Sprachbenutzern in bestimmten Kommunikationssituationen. Erkennbar wird das Besondere, das diese Sprache unterscheidet von den Sprachen der gleichen Gruppe in anderen Situationen oder von den Sprachen anderer Gruppen (_1).

Variationsanalyse: linguistisches Verfahren zur Datengewinnung und -analyse, welches die besonderen Merkmale der Sprache einer bestimmten Gemeinschaft zeigt.


■ Werlen, 2000a und Werlen, 2000b untersuchen sprachliche Unterschiede der Textsorten Nachricht und Wetterbericht in zwei Programmen eines öffentlichen Radios. ■ Wawra, 2005 vergleicht die Sprache der Print- und Onlineversion von USA TODAY in der Berichterstattung zum Irakkrieg. ■ Als einen Spezialfall der V. lässt sich die Kritische Diskursanalyse (CDA) verstehen. Sie sucht in Mediensprache nach Spuren machtwirksamer Ideologien – etwa nach verdeckten Wertungen oder Stereotypen (D|3|?a). ■ Fairclough, 1995, Richardson, 2007 und Machin & Van Leeuwen, 2007 führen in die CDA von Medienbeiträgen ein. ■ Choi, 2002, Koller, 2005 oder Dirks, 2010 legen beispielhafte CDA vor.

Wie man die Variationsanalyse anwenden kann, zeigt der Fall FLUGHAFEN: Quotes zur Eröffnung eines neuen Flughafenterminals werden eingebaut in einen Beitrag für 10 VOR 10. Dieses Nachrichtenmagazin will, als Kontrapunkt zur TAGESSCHAU des gleichen Senders, „Zusatzrecherchen“ und „überraschende Einfälle“ bieten (B|3.3|?a). Dazu nutzt der Beitrag, neben anderen Praktiken, auch die Rekontextualisierung.

Die nächsten Seiten skizzieren den Anfang einer Variationsanalyse; untersucht wird nur die Rekontextualisierung, und nur an fünf Stellen des Flughafen-Beitrags: der Anmoderation (B|3.3.1), dem Einstieg (B|3.3.2), einem journalistisch erzählten Teil (B|3.3.3), dem Auftritt eines Textakteurs (B|3.3.4 und 3.3.5). Dabei zeigt sich: In all diesen Ausschnitten sind Äußerungen von Quellen im gleichen Sinn umgedeutet worden (B|3.3.6).


Streiflicht SELBSTANSPRUCH: Was Redaktionen wollen

Die Redaktionen des Schweizer Fernsehens (SF) beschreiben ihre Ansprüche an die eigenen Sendungen in „Sendungsporträts“. Hier die Porträts der TAGESSCHAU (_1) und der Sendung 10 vor 10 (_2), der beiden wichtigsten Nachrichtengefäße im Programm des SF. Die Tagesschau wird seit 1953 ausgestrahlt, täglich in mehreren Ausgaben; 10 vor 10 seit 1990, von Montag bis Freitag, jeweils um 21:50 Uhr.

▶ Vergleichen Sie die folgenden Auszüge der Sendungsporträts und ▶ beschreiben Sie, was zur Sprache kommt, ▶ wo sich die Porträts unterscheiden ▶ und welche Unterschiede im Programm Sie aufgrund der benannten Selbstansprüche der Redaktionen erwarten. Sehen Sie sich dann alle Ausschnitte aus der TAGESSCHAU und aus 10 VOR 10 an. >> www.medienlinguistik.net ▶ Halten Sie fest, welche Ausschnitte mit welchen Merkmalen Ihre Erwartung bestätigen oder ihr widersprechen.

Genre

Informationssendung (Nachrichten) […]

Ziele, Anspruch, konkreter Zuschauernutzen

Aktuelle Information für möglichst viele Zuschauerinnen und Zuschauer Inhalte der Sendung

Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport aus dem In- und Ausland […]


Aus dem Sendungsporträt der TAGESSCHAU. Quelle: Schweizer Fernsehen, 2005

Genre

Informationsmagazin […]

Ziele, Anspruch, Philosophie, konkreter Zuschauernutzen

10 vor 10 berichtet über die wichtigsten Themen des Tages und deren Hintergründe, profiliert sich mit Hintergrundreportagen, leistet Zusatzrecherchen und präsentiert überraschende Einfälle – 10 vor 10 ist in der öffentlichen Debatte ein Referenzpunkt.

Inhalte der Sendung

Berichte, Recherchen, Reportagen, Porträts und Live-Gespräche zur latenten Aktualität in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Sport und Gesellschaft im In- und Ausland


Aus dem Sendungsporträt von 10 VOR 10. Quelle: Schweizer Fernsehen, 2005


Die Anmoderation

„Überraschende Einfälle“ – sie bestimmen bereits die „Philosophie“ des Magazins (B|3.3|?a|_2). Die Anmoderation des Beitrags stellt scharf auf wirtschaftliche Probleme (_1|Zeilen 05–08), verknüpft eine Erhöhung der Passagiergebühren mit dem neuen Dock (09–12), stellt diese Deutung als Tatsache hin, distanziert sich vom Namen (04) und schiebt vor alles die metaphorische Jungfräulichkeit (01–02). Das lässt in der Sache nichts Gutes erwarten:



Fall FLUGHAFEN, Anmoderation. Quelle: sf_zvz_030121_2150_flughafen_anfang


Der Einstieg

Und tatsächlich: Der Beitrag selbst beginnt mit dem allumfassenden „man“ (_1|Zeile 15), der sich in den „schlimmsten Vorurteilen bestätigt“ (15–16) sieht. Der kleine Flughafen Zürich „will bei den ganz Großen mitspielen“ (20–22), wo er doch kein Geld hat und jetzt die Passagiergebühren erhöhen muss – „aber halt“ (23), ein Irrtum, das Reportageteam von 10 VOR 10 hat etwas falsch verstanden:



Fall FLUGHAFEN, Einstieg. Quelle: sf_zvz_030121_2150_flughafen_anfang


Der journalistisch inszenierte Irrweg

Das Reportageteam führt nun das Publikum erst diesen Irrweg entlang, „Kloten sieht sich auf derselben Stufe wie etwa Bangkok“ (B|3.3.2|_1|Zeilen 20–21), und dreht eine weitere solche Schlaufe, bevor es „endlich“ (34) ins neue Terminal vorstößt – wo dann „die Schöngeister jubeln, die Buchhalter aber verzweifeln“ (38–39):

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