Caffe della Vita

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Cattolica war ein ruhiges und verträumtes Dorf im Süden Siziliens. Die Küste lag etwa fünf Kilometer entfernt, und deshalb lebten dort nicht nur Bauern, sondern auch ein paar Fischer. Zu den besten Zeiten hatten hier um die neuntausend Menschen gewohnt, doch nach und nach waren die jungen Leute ins Ausland oder in die Städte gezogen, um Arbeit zu finden. Geblieben waren etwa dreitausend Einwohner, viele von ihnen bereits im Rentenalter. Nur im Sommer, da blühte der Ort für ein paar Wochen wieder auf, dann, wenn die Studenten aus Palermo in den Semesterferien ihre Eltern besuchten und wenn die Gastarbeiterfamilien aus Deutschland, Österreich oder auch aus England kamen, um ihre alte Heimat zu besuchen.

Aber jetzt im Juni, da war von dieser Lebhaftigkeit noch nichts zu spüren. Lediglich ein paar alte Männer saßen an den Hausecken und diskutierten den ganzen Tag über die alten Zeiten. Und natürlich saßen auch in den Cafés rund um die große Piazza immer ein paar Leute, aber ansonsten war das Städtchen ruhig, beinahe totenstill.

Niemandem fiel der fremde Mann auf, der schon den ganzen Vormittag durch die Straßen lief und der mit der Fototasche, die an seiner Schulter baumelte, leicht für einen Touristen gehalten werden konnte. Doch das harmlose Auftreten täuschte. Er war nicht einfach ein Urlauber. Es mochte sein, dass Gaetano bei seiner ersten Reise auf die Insel der Götter gerne mehr Zeit für Besichtigungen und andere Dinge, die Touristen gewöhnlich auf Sizilienreisen unternahmen, gehabt hätte. Er hatte sogar mehrere Reiseführer und Geschichtsbücher gelesen, bevor er seine Fahrt vom Festland aus angetreten hatte, und das, obwohl er eigentlich nur zum Arbeiten hierhergekommen war. Dennoch, die kulturellen Schätze der Insel hatten sein Interesse geweckt. Er begann sich bei seinen Studien über sich selbst zu wundern, dass er zuvor noch nie auf die Idee gekommen war, den südlichsten Teil seines Heimatlandes zu bereisen. Und nicht die jahrhundertealten Sehenswürdigkeiten waren es, denen seine Aufmerksamkeit galt, vor allem die lebhafte Geschichte des Inselreiches weckte seinen Forscherdrang. Denn die verschiedenen Völker, die in den letzten dreitausend Jahren auf Sizilien geherrscht hatten, hatten nicht nur architektonische und kulturelle Spuren hinterlassen, nein, ihn reizte vor allem ein ganz anderer, makaberer Aspekt. Gaetano schien es beinahe, als könnte an der Historie der Insel exemplarisch studiert werden, wie grausam die Menschen im Allgemeinen waren – egal, welcher Herkunft sie waren oder auf welcher Stufe gesellschaftlicher Entwicklung sie standen. Bis in die Neuzeit war eine Herrschaft unbarmherziger gewesen als die vorherige und auch die Bewohner Siziliens mussten im Laufe der Geschichte eine eigenwillige Haltung zur Gewalt entwickeln, um, allen Umständen zum Trotz, zu überleben.

Doch das erschreckte Gaetano nicht. Wenn er hier geboren worden wäre, bestimmt wäre auch er bei einer der ehrenwerten Familien gelandet. Ehre und Grausamkeit, Stolz und Rache – das alles waren Dinge, die sehr nahe beieinanderliegen konnten. All diese Tugenden würden sich wunderbar in Sizilien studieren lassen. Zwar hatte auch er Werke von Rousseau gelesen, als er jung war. All diese philosophischen Theorien, die Menschen seien von Natur aus gut und so weiter – welch ein Schwachsinn. Natürlich war so etwas einfach zu schreiben, wenn man tagaus, tagein auf einem Chateau in der Schweiz saß und Rotwein schlürfte. Doch war es nicht auch Rousseau, der, bevor er größeren Ruhm erlangte, seine fünf leiblichen Sprösslinge in ein Heim für Findelkinder gegeben hatte, da er selbst mit seiner wichtigen Arbeit so wenig verdiente, dass er seine Frau losschickte, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sodass diese keine Zeit mehr hatte, sich um die Kindererziehung zu kümmern? Ha, das konnte Rousseau seinen Kindern erzählen, dass er von Natur aus ein guter Mensch sei. Die Realität sah anders aus.

Gaetano jedenfalls erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er das erste Mal einen Menschen tötete. Er war noch sehr jung, kaum einundzwanzig Jahre alt. Es war eine mondklare Nacht. Die Sterne funkelten im Meer und der Abzug klemmte, als er abdrücken wollte. Beinahe hätte sein Opfer fliehen können, doch er schlug den Mann schließlich mit dem Kolben seiner Pistole nieder. Hatte das aus ihm einen schlechteren Menschen gemacht, als er es zuvor gewesen war? Wohl kaum. Gaetano war sich sicher, schon immer genauso viel Schlechtes in sich getragen zu haben wie in diesem Moment. Schon als Kind hatte er sich immer nur um sich gekümmert, um seinen eigenen Vorteil. Irgendwann hatte ihm lediglich jemand einen Haufen Geld geboten, damit er einen anderen Menschen beseitigte – wahrscheinlich war das das Ventil, um all das Böse herauszulassen. Nein wirklich, in der Sekunde, als er das erste Mal einem anderen Mann, der bewusstlos am Boden lag, aus zwei Meter Entfernung eine Kugel durch den Kopf jagte, als er sich das erste Mal in seinem Leben richtig gehen ließ, sich selbst in eine Ausnahmesituation brachte und sich das erste Mal von allen gesellschaftlichen Konventionen (wie sie in normalen Situationen galten) löste – da wusste er, dass er die Essenz seines Menschseins erkannt hatte. In diesem extremen Moment konnte er nicht mehr leugnen, wie viel Böses er tief in sich trug. Die Frage war für ihn seit dieser Nacht also nicht mehr gewesen, wie die Menschen sich nach ihrer Geburt zum Bösen entwickelten, so wie bei dem alten Philosophen, nein, die Frage lautete nun für ihn, wie die Menschen es in ihrem Alltag anstellten, das Böse versteckt zu halten. In der sizilianischen Geschichte gab es massenhaft Beispiele, in denen das nicht funktioniert hatte, weil es keinen normalen Alltag gab. Das faszinierte ihn. Er würde wieder hierherkommen, wenn er seine Arbeit erledigt hatte, um die alten Tempelanlagen der Griechen, die Barockstädte im Süden (die ihre Entstehung dem großen Erdbeben von 1693 zu verdanken hatten, bei dem etliche Ortschaften komplett zerstört wurden) und die Kirchen der Normannen in Palermo zu besichtigen.

Er blickte auf seine Armbanduhr. Das Ziffernblatt war hell erleuchtet von der unbändigen Intensität der Sonnenstrahlen, sodass er sein Handgelenk ein paarmal drehen musste, bis er überhaupt die Zeit ablesen konnte. Es war kurz vor eins. In einer halben Stunde würde er sich mit seinem Auftraggeber treffen, doch was würde er ihm berichten?

Er betrat einen der kleinen Gemischtwarenläden auf der Hauptstraße, der Via Immacolata, und ging direkt auf den Inhaber zu, der hinter seiner mit Feuerzeugen, Postkarten, Heiligenbildern und Süßigkeiten vollgestellten Verkaufstheke stand.

»Entschuldigen Sie, ich suche nach dem Mann, der Predicatore genannt wird, Sie haben doch bestimmt schon mal von ihm gehört?«

Der Verkäufer rückte seine große Hornbrille zurecht und nickte dann.

»Diesen Wanderprediger meinen Sie? Klar, die ganze Stadt spricht von dem«, sagte er und blickte dann auf die blonde Frau, die in diesem Moment den Laden betrat.

»Und?«, fragte Gaetano.

»Und was?« Der Verkäufer starrte Carla an, als hätte er noch nie eine Frau gesehen.

»Na, ob Sie ihn schon irgendwo sichten konnten, wollte ich wissen«, hakte Gaetano nach.

Schließlich wandte der Verkäufer den Blick von der gut aussehenden Blondine ab, die gerade an einem der zahlreichen Regale, die in dem kleinen Verkaufsraum standen, einen Fotoapparat anschaute, und sah wieder zu Gaetano.

»Nein, gesehen hab ich ihn noch nie. Aber fragen Sie doch mal den Schwager meines Cousins, der kann Ihnen vielleicht weiterhelfen. Renato heißt er.«

»Ja, ja, schon gut.« Gaetano gab sich geschlagen. »Sagen Sie, haben Sie eigentlich auch Batterien?«

»Batterien? Letztes Regal, hinten rechts.«

Der Verkäufer machte eine Handbewegung, die Gaetano nicht zu deuten wusste, er hatte aber davon gelesen, dass die Sizilianer in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft eine ausgeklügelte Zeichensprache entwickelt hatten, mit der es sogar möglich war, sich ganz ohne Worte zu verständigen. Nur für den Außenstehenden waren die Gesten meist nicht zu verstehen. Gaetano ging aber davon aus, dass sein Gegenüber eine abfällige Bewegung gemacht hatte, um seinen Unmut zum Ausdruck zu bringen, dass Gaetano nicht mehr Interesse an seinen Informationen aufgebracht hatte.

Gaetano drehte sich um und lief an Carla vorbei, die mit dem Fotoapparat in der Hand auf die Theke zusteuerte. Im Augenwinkel sah er, wie sie bezahlte, als er sich durch eine Plastikschale mit Batterien in den unterschiedlichsten Größen wühlte.

»Sagen Sie, können Sie mir Informationen über den sogenannten Predicatore geben?«, fragte Carla den Verkäufer.

Gaetano war sofort hellwach. Er stellte sich hinter eines der Regale in der Mitte des Raumes, von wo aus ihn der Verkäufer und Carla nicht sehen konnten und er in aller Ruhe zuhören konnte.

»Wissen Sie, ich bin eine Reporterin vom Cronaca Meridionale«, log Carla den Mann an.

»So ein Zufall, der junge Mann dort hinten hat mich eben dasselbe gefragt.« Er zeigte in die hintere Ecke des Raumes, in der jetzt niemand mehr zu sehen war. »Nanu, wo ist er denn hin? Na, so was!«

Carla sah sich um, auch sie konnte niemanden entdecken.

»Vielleicht hätten Sie sich mit ihm zusammentun können, ich kann Ihnen nämlich auch nicht weiterhelfen«, sagte der Verkäufer.

»So … Wissen Sie denn, warum der Mann den Predicatore sucht? Ist er auch von der Presse?« Sie steckte die Kompaktkamera und die vier Filme, die sie gekauft hatte, in ihre Handtasche.

 

»Von der Presse? Das weiß ich nicht. Mag sein, er hatte auch einen Fotoapparat bei sich«, antwortete der Verkäufer.

»Na gut, können Sie mir sagen, wo sich das Caffè della Vita befindet?«, fragte Carla.

»Das Vita? Da müssen Sie gerade die Straße hinunterlaufen, über die kleine Piazza rüber, durch die kleine Verbindungsstraße und dann auf die große Piazza, da ist es. Wissen Sie, wir haben hier im Ort zwei Piazze, aber natürlich sind die direkt nebeneinander.« Er nutzte seine Hände, um ihr die Ausmaße der einzelnen Piazze anschaulich zu machen.

»Vielen Dank«, sagte Carla und verließ das kleine Geschäft.

Als sie aus der Sichtweite der Schaufenster war, trat Gaetano hinter dem Regal hervor, ging zum Tresen und legte die Batterien und einen Fünfeuroschein auf die Theke.

»Da sind Sie ja auf einmal wieder. Ich hätte schwören können, Sie hätten sich in Luft aufgelöst.« Der Verkäufer sah erstaunt auf.

»Sie müssen das nächste Mal einfach nur besser hinsehen«, sagte Gaetano und nahm das Wechselgeld entgegen.

Der Verkäufer erzählte noch eine Geschichte von einem seiner Neffen oder vielleicht auch von jemandem mit einem ähnlichen Verwandtschaftsgrad, doch Gaetano hörte ihm schon nicht mehr zu. Er dachte über die Journalistin nach und ob sie zu einer Gefahr für ihn werden könnte. Zum Glück gab es keine Gefahren, denen er sich nicht stellte, und wenn sie ein Problem darstellen sollte, wenn sie zu neugierig werden würde, würde er die Angelegenheit mit Freuden lösen. Wenn die Reporterin eine Schlagzeile will, dann helfe ich ihr, dass sie selbst zur Schlagzeile wird: »Reporterin des Cronaca Meridionale auf Geschäftsreise verschollen«.

Ob er noch einmal zurück zur Pension gehen sollte, um seine Beretta zu holen, bevor er sich mit dem Auftraggeber traf? Nein, dafür reichte die Zeit nicht mehr.

Er steckte die Batterien in seine Kameratasche und steuerte auf die Ausgangstür zu, als der Ladenbesitzer ihm hinterherrief: »Sagen Sie mal, sind Sie jetzt eigentlich Reporter oder nicht?«

»Reporter?«

Gaetano stand in der bereits geöffneten Tür und sah noch einmal kurz zu dem Mann hinter der Theke.

»Nicht wirklich«, sagte er und verschwand auf die Via Immacolata.


Der Wirt des Caffè della Vita, der zugleich der Barkeeper war, dafür aber nicht der Besitzer des Etablissements, gehörte kaum zu den Menschen, die man gemeinhin als gesprächig oder gar geschwätzig bezeichnen würde. Das Café führte er zusammen mit seiner Frau, die auch das Geld investiert hatte, und ähnlich wie in ihrer Ehe waren auch im Geschäftsleben die Aufgabenbereiche klar verteilt: Er war zuständig für das Arbeiten, sie für das Reden. Das Reden, das sie ununterbrochen und selbstverständlich laut zu tun pflegte, konnte bei ihr oftmals auch ohne Weiteres in ein unangenehmes und, was die Gespräche mit ihrem Mann betraf, zumeist anklagendes Schreien übergehen. Deshalb hatte der Wirt irgendwann fast gänzlich aufgehört zu sprechen, er sprach mittlerweile sogar weniger, als er es vor der Hochzeit getan hatte. So fristete er sein Dasein und war froh, dass er wenigstens während der Arbeitszeit seine Ruhe hatte, da seine Frau nur selten im Café vorbeikam, und wenn, dann in der Regel nur, um sich über irgendeine Nichtigkeit aufzuregen, zum Beispiel, dass der Spiegel in der Cafétoilette schon wieder entwendet worden sei und dass ihr Mann sich wieder einmal von irgendwelchen dahergelaufenen jugendlichen Vandalen auf der Nase hatte herumtanzen lassen.

Carla rückte ihre Bluse zurecht und ging über die große Piazza geradewegs auf das kleine Café zu.

Sie betrat den Hauptraum mit der Theke durch einen bunten Plastikvorhang und sah sich um. An der Wand hingen Neonreklamen aller möglichen Bier- und Getränkemarken in allen möglichen und unmöglichen Farben. Das Surren der Eistruhe war beinahe lauter als der Schlagersong, der aus dem Kofferradio dröhnte. Sie ging auf die Theke zu, die mit einer marmorierten Plastikfolie überzogen war, und sprach den Wirt an, der gerade mit einem Lappen den Zapfhahn abwischte.

»Entschuldigen Sie, ich bin eine Reporterin vom Cronaca Meridionale und brauche ein paar Informationen. Haben Sie mit einem meiner Kollegen ein Interview per Telefon geführt?«

Der Wirt sah nicht auf, als er ihr antwortete, und wischte weiter den Zapfhahn ab. »Das glaub ich kaum, ich geb nämlich keine Interviews. Wenn Sie reden wollen, dann gehen Sie doch zu dem Kellner da draußen. Der redet eh viel zu viel.«

Carla drehte sich um und entdeckte durch die Schlitze in dem Vorhang einen weiteren Kellner, der vor dem Café Plastikstühle und Plastiktische aufstellte. Sie drehte sich wieder zu dem Besitzer. »Sie können mir also nicht weiterhelfen?«

Der Barkeeper schüttelte gelangweilt den Kopf. Carla nahm ihre Sonnenbrille ab, schob sie zwischen ihre Haare und drehte sich um. Dann schritt sie durch den Ausgang auf den vermeintlichen Informationsträger zu.

»Entschuldigen Sie, ich bin Journalistin. Kann es sein, dass Sie mit meinem Kollegen ein Telefonat geführt haben?«

»Das war ich nicht, das war Antonio.« Der Kellner nahm einen weiteren Stuhl vom Stapel und stellte ihn an einen der Plastiktische.

»Und wo finde ich diesen Antonio?«

»Er arbeitet heute nicht. Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch weiterhelfen. Sie sind auf der Suche nach dem Predicatore, nicht wahr?«

Sie schaute ihn erstaunt an – endlich schien sie jemanden gefunden zu haben, der etwas wusste und bereit war, mit ihr zu reden. »Woher wissen Sie das?«

»Signora, ich bin Kellner. Wir bekommen eine Menge mit bei unserer Arbeit. Ich kenne alle Menschen in diesem Dorf und ich kenne ihre Geschichten – und Antonio, den kenne ich auch. Er hat mir von Ihrem Kollegen erzählt.«

Sie lächelte.

»Und der Predicatore – was ist mit dem? Kennen Sie ihn auch?«

Der Kellner ließ sich nicht von seiner Arbeit ablenken und nahm den nächsten Plastikstuhl vom Stapel herunter.

»Keine Angst, Signora. Wenn Sie es wollen, dann werde ich Ihnen helfen, ihn zu finden.«

Carla war begeistert. »Natürlich will ich das! Sagen Sie mal, stimmt es, was die Leute sich erzählen, ich meine, dass er Zeichen und Wunder vollbringt? Sogar mehr noch als Padre Pio? Und dass selbst die Statuen der Heiligen echte Tränen vergießen, wenn er an ihnen vorbeiläuft?«

Sie kramte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche. Der Kellner verharrte für einen Augenblick, als er ihren Fragen zuhörte, atmete tief durch und ließ einen langen Moment der Stille vergehen. Dann antwortete er ihr: »Ja, das erzählen sich die Menschen. Aber wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf – glauben Sie nicht alles, was die Leute sagen.«

Er drehte sich langsam zu ihr um und konnte die Enttäuschung auf ihrem Gesicht ablesen.

»Sie meinen, das ist alles nur erfunden?«, fragte sie ihn vorsichtig.

Er lächelte sie an. »Keine Angst. Das mit den Statuen stimmt vielleicht nicht, es gibt aber immer noch genügend Wundersames und Spannendes über den Predicatore zu berichten. Setzen Sie sich doch.« Er zeigte auf einen der Tische.

»Ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen, um die Geschichte Ihres Lebens zu schreiben.«

Carla blickte auf ihre Armbanduhr, dann sah sie wieder zu dem Kellner auf.

»Aber ich habe nicht viel Zeit! Können Sie mir nicht einfach sagen, wo ich den Predicatore finden kann?«

Der Kellner lächelte immer noch. »Ich weiß, dass Sie es eilig haben. Doch glauben Sie mir, es ist nicht so einfach, ihn zu finden, wie Sie sich das vorstellen. Lassen Sie mich Ihnen helfen, dann können Sie ihn selber finden«, sagte er zu ihr und zeigte mit ausgestreckter Hand auf den Bistrotisch.

Carla zögerte einen Moment, setzte sich dann aber doch. Sie zündete sich eine Zigarette an und wartete ab, was er ihr zu bieten hätte. Wenn er keine sachdienlichen Hinweise lieferte, dann könnte sie jederzeit aufstehen und gehen. Schließlich wusste sie, dass sie nicht viel Zeit hatte – auch wenn sie nicht ahnen konnte, wie wenig Zeit ihr in Wirklichkeit noch blieb.


Der Friedhof von Cattolica lag ein gutes Stück oberhalb des Städtchens auf einem Hügel. Gaetano lief schnaufend den schmalen Feldweg hinauf. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig zu dem Treffen mit seinem Auftraggeber zu erscheinen, er wollte nicht als unpünktlich oder gar unzuverlässig angesehen werden.

Nach ein paar Minuten konnte er endlich den Parkplatz und kurz darauf die Mauer des Friedhofsgeländes erkennen. Der Platz war beinahe leer, nur ein einziges Auto parkte einsam im Schatten eines Mandelbaumes. Gaetano öffnete das schwere Eingangstor zum Friedhof und schritt bedächtig den staubigen Weg entlang, der in die Mitte des Areals führte.

Totenstill hier. Jetzt kann ich verstehen, warum dieser Treffpunkt ausgewählt wurde. Ist ja keine Menschenseele unterwegs um die Uhrzeit. Aber vielleicht ist es ja auch die sakrale Atmosphäre, die der feine Herr so liebt.

Die Miniaturhäuser, die über jede einzelne der Grabstätten gebaut und mit kleinen Altären ausgestattet waren, auf denen Bilder der Verstorbenen standen, beeindruckten Gaetano, der begeistert feststellte, dass die Architektur auf diesem kleinen Dorffriedhof alles in den Schatten stellte, was man auf Großstadtfriedhöfen auf dem Festland zu sehen bekam. Auf seinem Weg zählte er drei Engelsstatuen, bis er den großen Engel aus Marmor entdeckte, der in der Mitte des Friedhofs stand. Von Weitem erkannte er bereits den feinen Herrn (er hatte ihn zuvor einmal in Rom getroffen), der, wie er es angekündigt hatte, einen weiteren Mann mitgebracht hatte. Die beiden hatten sich, wie auch Gaetano, in schwarze Anzüge gehüllt. Sie standen etwas abseits des Weges im Schatten eines alten Baumes und verschränkten simultan die Arme hinter ihren Rücken.

Gefügig, der kleine Neue. Macht immer das, was der Ältere ihm vormacht. Schrecklich so etwas.

Selbst die Sonnenbrillen, die die beiden Männer trugen, schienen das gleiche Modell zu sein. Gaetano trat hinter sie und verharrte stillschweigend. Dann griff er in eine seiner Anzugtaschen und reichte ein Blatt Papier zwischen den beiden Männern hindurch, das der Ältere entgegennahm, ohne auch nur einen Moment hinter sich auf den Beauftragten zu schauen. Er sah sich die Zeichnung kurz an, faltete sie aber schon nach ein paar Sekunden wieder zusammen und gab sie an Gaetano zurück, ohne etwas zu sagen.

»Das ist ein Phantombild des Predicatore, das ich mithilfe von Aussagen verschiedener Einwohner anfertigen konnte«, sagte Gaetano leise, beinahe flüsternd.

»Sieht aus wie ein Hippie mit den wuscheligen Haaren – nicht wahr?«, sagte der Alte, worauf der Kleine kurz lachte, aber sogleich wieder verstummte, als er merkte, dass sein Begleiter ernst wurde und keine Miene verzog.

»Vorhin habe ich eine Reporterin im Dorf gesehen. Sie war auch hinter dem Wanderprediger her«, sagte Gaetano.

»Welche Zeitung?«, fragte der Alte.

»Cronaca Meridionale

»Wahrscheinlich harmlos … die sollte keine Bedrohung für Ihre Mission werden. Sicherheitshalber sollten Sie sich trotzdem darauf vorbereiten, wie Sie die Frau zum Schweigen bringen können.«

»Natürlich kann ich das.«

»Ich weiß. Dafür bezahle ich Sie schließlich.« Jetzt lachte auch der Alte.

»Wie soll ich mit dem Predicatore weiter vorgehen? In drei Tagen ist es mir kein einziges Mal gelungen, ihm über den Weg zu laufen«, sagte Gaetano.

»Ich vertraue auf Sie. Ich bin mir sicher, dass Sie nicht versagen werden. Wir verstehen uns doch?«, fragte der Alte und drehte sich zum ersten Mal während dieses Treffens zu Gaetano um.

Dieser nickte. »Ich bin mir sicher, ich werde heute noch herausbekommen, wo sich der Predicatore aufhält.«

»Bravo.« Der Alte lächelte. »Und wenn Sie ihn gefunden haben – bringen Sie ihn zum Schlafen und transportieren Sie ihn zu mir nach Rom.«

»Ich weiß nicht, ob man das zum jetzigen Zeitpunkt noch tun sollte. Man erzählt sich bereits, dass er jemand sei, der den Menschen helfen würde. Vielleicht ist er ja ein Heiliger?«

 

Diesmal drehten sich der Alte und der Junge synchron zu ihm um. »Sie werden doch wohl keine Bedenken bekommen? Sie werden nicht dafür bezahlt, dass Sie ein Gewissen haben«, sagte der Alte kühl.

Gaetano schwieg. Er sah den neuen Mann an. Der Junge wirkte verunsichert – vielleicht sogar überrascht vom Verlauf des Gesprächs. Kannte er überhaupt alle Details? So, wie Gaetano seinen Auftraggeber kennengelernt hatte, würde ihm das am Ende noch ähnlich sehen, dass er sogar seine neue rechte Hand nicht in alle Einzelheiten seiner Pläne eingeweiht hatte.

Der Alte legte eine Hand auf Gaetanos Schulter. »Hören Sie – wir sind es, die die Heiligen ernennen.« Er griff mit der anderen Hand in seine Jackentasche und holte ein Bündel Geldscheine hervor, das er Gaetano zusteckte, bevor er seinen Satz vollendete. »Nachdem sie gestorben sind.«

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