Paulus und die Anfänge der Kirche

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Aus der Reihe: Studiengang Theologie
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1.5.4
Leitungsstrukturen und Führungsfiguren
1.5.4.1
Der Zwölferkreis

Nach dem Bild der Apostelgeschichte liegt der Ursprung der Jerusalemer Jesusgemeinschaft beim Zwölferkreis, der durch Frauen, Brüder bzw. Geschwister Jesu sowie die Mutter Jesu ergänzt wird. Die Gruppe derer, die sich nach der Aufnahme Jesu in den Himmel im «Obergemach» versammelte, wird folgendermassen beschrieben:

«Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelot, sowie Judas, der Sohn des Jakobus. Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern.» (Apg 1,13 f.)

Manches spricht dafür, dass der Zwölferkreis nach seiner Rückkehr nach Jerusalem24 dort zunächst eine führende Funktion in der entstehenden Jesusgemeinschaft eingenommen hat. Allerdings wird eine wirkliche Leitungsfunktion des Zwölferkreises nur in Apg 6,2 vorausgesetzt: Hier treten die |30| Zwölf als diejenigen auf, die aufgrund der Konflikte bei der Versorgung von Witwen die gesamte Jüngerschaft einberufen, um nach einer Lösung zu suchen. Ansonsten scheinen sie eher eine symbolische Bedeutung gehabt zu haben, indem sie die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Zwölfstämmevolkes verkörperten.25

Für die Darstellung des Lukas ist es von grosser Bedeutung, dass der Zwölferkreis nach dem Ausscheiden des Judas durch eine Nachwahl wieder vervollständigt wird (Apg 1,15–26); denn dieser Zwölferkreis garantiert für ihn die Kontinuität von der Zeit des Lebens Jesu über den Bruch des Karfreitags hinweg bis in die Zeit der beginnenden Kirche. Dies zeigt besonders deutlich die Erzählung über die Wahl des Matthias in den Zwölferkreis; denn als Aufnahmebedingung für das nachzuwählende Mitglied dieses Kreises wird die Präsenz während der gesamten Zeit des Wirkens Jesu bis hin zu seiner Aufnahme in den Himmel gefordert. Als besondere Aufgabe wird das Bezeugen der Auferstehung Jesu genannt:

«Einer von den Männern, die die ganze Zeit mit uns zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging, angefangen von der Taufe des Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging und (in den Himmel) aufgenommen wurde, – einer von diesen muss nun zusammen mit uns Zeuge seiner Auferstehung sein.» (Apg 1,21 f.)

Dabei setzt Lukas den Zwölferkreis mit dem Kreis der Apostel gleich (Apg 1,25 u. ö.). Historisch müssen der Zwölferkreis und die Gruppe der Apostel allerdings als zwei zumindest nur teilweise deckungsgleiche Personengruppen mit unterschiedlichen Funktionen betrachtet werden. Während der Zwölferkreis mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgeht und als lebendiges Zeichen für die Hoffnung auf die Wiederherstellung Israels fungieren soll, wissen sich die Apostel von Gott bzw. dem Auferstandenen zur Verkündigung ausgesandt. Auch das (vorpaulinische) Glaubensbekenntnis in 1 Kor 15,3b–7 nennt den Zwölferkreis und die Apostel als zwei unterschiedliche Gruppen. Lukas identifiziert diese beiden Gruppen. Deshalb wird in der Apostelgeschichte nicht |31| einmal Paulus mit dem Aposteltitel bedacht – mit der einzigen und fast versehentlichen Ausnahme von Apg 14,4 f.14.

Exkurs

Paulus selbst vertritt in seinen Briefen ein dezidiert anderes Apostelverständnis. So kann er in Röm 16,7 mit Andronikus und Junia einen Mann und eine Frau, die in keiner Weise mit dem Zwölferkreis in Verbindung zu bringen sind, als Apostel – und sogar als «hervorragend unter den Aposteln» – bezeichnen. Auch beansprucht Paulus den Aposteltitel für sich selbst, und mit Vehemenz setzt er sich dagegen zur Wehr, dass ihm einige Mitglieder der korinthischen Gemeinde diesen Titel streitig machen wollen (1 Kor 9).

Lukas macht an den Aposteln, die er mit dem Zwölferkreis gleichsetzt, die Glaubwürdigkeit der Botschaft Jesu und der Botschaft über Jesus fest. Sie stehen für die Kontinuität von der Zeit des Wirkens Jesu bis in die nachösterliche Zeit und erhalten die Funktion eines Fundaments, das in diesen Anfangszeiten gelegt wird. Interessant ist, dass gemäss der Apostelgeschichte nach jener ersten Ersatzwahl kein weiteres Mitglied des Zwölferkreises mehr ersetzt wird, auch nicht als Jakobus, der Bruder des Johannes, den Märtyrertod stirbt (Apg 12,1–2).

«Das Apostelamt ist für Lukas nicht übertragbar. Es gibt auch hier keine ‹Nachfolger der Apostel›. Die Apostel sind für die Kirche eben so etwas wie das ‹Fundament›. Das Fundament kann nicht beliebig erweitert oder verändert werden.»26

1.5.4.2
Jakobus, Petrus und Johannes

Überraschend schnell scheint der Zwölferkreis also aus dem Blickfeld des frühen Christentums geraten zu sein. Das zeigt auch ein Blick in die Briefe des Paulus. Während im vorpaulinischen Glaubensbekenntnis in 1 Kor 15,3–5 Petrus und der Zwölferkreis als die ersten Adressaten einer Erscheinung des Auferstandenen genannt werden und also eine herausgehobene Bedeutung haben27, spielt der Zwölferkreis in den Berichten des Paulus über seine Besuche in Jerusalem (Gal 1,18 f.; 2,1–10) |32| keine Rolle mehr.28 So ist es wahrscheinlich, dass der Zwölferkreis – historisch gesehen – nur eine kurze Zeit in Jerusalem zusammenblieb.29

Sowohl die Darstellung der Apostelgeschichte als auch Äusserungen des Paulus zeigen, dass neben den Zwölferkreis bald weitere Gruppen und Personen traten, die impulsgebende Funktionen in der Jerusalemer Urgemeinde übernahmen. Dazu gehört Petrus, der zwar in den Evangelien bereits als Wortführer der Zwölf während der Zeit des Wirkens Jesu erscheint, dessen Autorität nun aber dadurch neu begründet wird, dass ihm in einigen Traditionssträngen die Erstvision des Auferstandenen zugesprochen wird (1 Kor 15,5; Mk 16,7; Lk 24,34). Seine Bedeutung für die Gesamtkirche, die an seinem Beinamen als «Fels» (Mt 16,18) anschaulich gemacht wird, wird allerdings erst viel später, in der Gemeinde des Matthäus, die wahrscheinlich im syrischen Antiochia beheimatet ist, zum Ausdruck gebracht.30

Neben Petrus erhielten auch Johannes, der Sohn des Zebedäus, sowie Jakobus, der Bruder Jesu, der zunächst der ganzen Sache noch distanziert gegenübergestanden hatte, zunehmende Bedeutung. Paulus bezeugt in Gal 1,18 f. die besondere Funktion des Petrus und des Herrenbruders Jakobus in der Jerusalemer Gemeinde bereits in den ersten Jahren nach seiner eigenen Lebenswende, also bereits Ende der 30er Jahre. In Gal 2,9 bezeichnet Paulus diese beiden gemeinsam mit Johannes als die «Säulen», die «Ansehen geniessen». Nach der Darstellung des Paulus waren es diese drei, die als Führungsfiguren der Gemeinde von Jerusalem mit ihm selbst und Barnabas die besonderen Vereinbarungen zur Verkündigung des Evangeliums an Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft besiegelten. Demnach scheinen diese drei in den 40er Jahren eine Art Dreierkollegium zur Leitung der Jerusalemer Gemeinde gebildet zu haben, wobei die Bezeichnung als «Säulen» zudem auf eine heilsgeschichtliche Funktion in der eschatologischen Neukonstituierung des Gottesvolkes |33| hin deutet.31 Eine solche Funktion ist allerdings nur vorstellbar, wenn der Zwölferkreis diese Hinweisfunktion mittlerweile verloren hatte. Eine solche Entwicklung ist nach dem gewaltsamen Tod des Zebedäussohnes Jakobus unter Herodes Agrippa I. (Apg 12,1 f.) durchaus vorstellbar. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist Mk 10,35–45 als ein Hinweis auf den Martertod auch des Johannes, des Bruders des Jakobus, zu verstehen. In der Folge scheint auch Petrus Jerusalem verlassen zu haben, so dass nun allein Jakobus, der Bruder Jesu, als Leitungsfigur der Jerusalemer Gemeinde übrig blieb.

Auch der Bruder Jesu starb eines gewaltsamen Todes. Dies legt zumindest eine kurze Notiz des jüdischen Historikers und Theologen Flavius Josephus (geboren 37/38 n. Chr.) in seinem Werk über die Geschichte des jüdischen Volkes (Antiquitates) nahe, die den Tod des Jakobus in die Zeit des römischen Statthalters Albinus (62–64 n. Chr.) datiert:

«Er (= Albinus) versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen liess.»32

1.5.4.3
Der Siebenerkreis und die Gemeindemitglieder aus der Diaspora

Mit dem Zwölferkreis und dem Dreierkollegium aus Petrus, Johannes und Jakobus standen im vorherigen Abschnitt die Jesusanhänger aus Galiläa im Zentrum des Interesses. Zu dieser galiläischen Gruppe gehörten neben dem Zwölferkreis und den genannten herausragenden Figuren noch weitere Personen, darunter so markante Jüngerinnen wie Maria aus Magdala.

Es ist in Abschnitt 1.5.3 aber schon deutlich geworden, dass die Jerusalemer Jesusgemeinschaft nicht nur aus diesen Rückkehrern aus Galiläa bestand, sondern auch aus Jüdinnen und Juden, die aus der Diaspora stammten und sich in Jerusalem niedergelassen hatten. Als eine vorbildhafte Einzelfigur wurde bereits der aus Zypern stammende Josef mit dem Beinamen Barnabas genannt. Dieser spielte nach der Darstellung |34| des Lukas bei der gerechten Verteilung des Besitzes, wie sie in der Jerusalemer Gemeinde praktiziert wurde, eine rühmliche Rolle (Apg 4,36 f.).

 

Diese verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Jesusgemeinschaft werden mit ihren Unterschieden besonders in Apg 6–8 sichtbar. Neben den Aramäisch sprechenden Jesusanhängerinnen und -anhängern aus Galiläa, die in Apg 6,1 «Hebräer» genannt werden, werden hier «Hellenisten» erwähnt, also Griechisch sprechende Mitglieder der Gemeinschaft. Meist werden diese als jene Jüdinnen und Juden näher identifiziert, die aus der Griechisch sprechenden Diaspora stammten, sich in Jerusalem niedergelassen hatten und dort mit der Botschaft vom Messias Jesus in Kontakt gekommen waren. Es ist aber auch denkbar, dass einige von ihnen aus Palästina stammten; denn auch hier war im Laufe der wechselvollen Geschichte unter verschiedenen Fremdherrschaften das Griechische in den städtischen Gebieten vor allem in der Verwaltung und im Handel zu einer verbreiteten Sprache geworden.33

Dennoch: Einige Namen und Herkunftsbezeichnungen in der Apostelgeschichte zeigen, dass nicht wenige dieser «Hellenisten» aus der Diaspora stammten. Apg 6,9 nennt mit der Kyrenaika, mit Alexandria, Kilikien und der Provinz Asia einige Herkunftsgegenden dieser Jüdinnen und Juden. In Jerusalem hatten sie ihren religiösen Ort in den Diasporasynagogen, die religiöse und kulturelle Zentren für Jüdinnen und Juden aus bestimmten Regionen darstellten und zugleich als Gottesdienstraum, Schule und Herberge für Jerusalem-Wallfahrer dienten.34 Mit der so genannten Theodotus-Inschrift, einer Spenderinschrift für einen Synagogenneubau in Jerusalem, die wohl noch vor 70 n. Chr. zu datieren ist, ist auch ein archäologisches Zeugnis über eine solche Diasporasynagoge und ihre Funktionen erhalten:

«Theodotus, (Sohn des) Vettenus, Priester und Synagogenvorsteher, Sohn eines Synagogenvorstehers, Enkel eines Synagogenvorstehers, baute die Synagoge zur Unterrichtung im Gesetz und zur Lehre der |35| Gebote sowie die Herberge und die Nebenräume und die Wasseranlagen zum Aufenthalt für die aus der Fremde, die (eine Herberge) benötigen; diese hatten gegründet seine Väter und die Ältesten und Simonides.»35

Mit den verschiedenen Sprachen waren unterschiedliche soziale Milieus und kulturelle Prägungen verbunden. Da ist es kaum verwunderlich, dass es zwischen diesen Gruppen auch zu Konflikten kam. Die Apostelgeschichte erzählt von Differenzen anlässlich der Versorgung der Witwen des Griechisch sprechenden Gemeindeteils. Zwar gelten gemeinhin die Griechisch sprechenden Diasporajuden als der sozial bessergestellte Teil der Jesusanhängerschaft; doch sind es hier gerade die Witwen des Griechisch sprechenden Gemeindeteils, die bei der Versorgung zu kurz kamen. Mag sein, dass dies damit zusammenhängt, dass die Verteilung der Gelder dem Aramäisch sprechenden Gemeindeteil und speziell den Aposteln anvertraut war; denn nach Apg 4,37 und 5,2 wurde der Erlös aus den Verkäufen «den Aposteln zu Füssen gelegt».

Anlässlich dieses Konflikts um die Versorgung der griechischen Witwen wird nach der Darstellung der Apostelgeschichte ein Siebenerkollegium der «Hellenisten» eingerichtet, das sich um die Versorgung der Witwen kümmern sollte:

«In diesen Tagen, als die Zahl der Jüngerinnen und Jünger zunahm, begehrten die Hellenisten gegen die Hebräer auf, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen wurden. Da riefen die Zwölf die ganze Schar der Jüngerinnen und Jünger zusammen und erklärten: ‹Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und uns dem Dienst an den Tischen widmen. Brüder und Schwestern, wählt aus eurer Mitte sieben Männer von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit; ihnen werden wir diese Aufgabe übertragen. Wir aber wollen beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben.› Der Vorschlag fand den Beifall der ganzen Gemeinde, und sie wählten Stephanus, einen Mann, erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist, ferner Philippus und Prochorus, Nikanor und Timon, Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia. Sie liessen sie vor die Apostel hintreten, und diese beteten |36| und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jüngerinnen und Jünger in Jerusalem wurde immer grösser» (Apg 6,1–7).

Allerdings tritt dieses Siebenerkollegium im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte gar nicht in dieser Funktion in Erscheinung. Vielmehr agieren prominente Mitglieder dieses Kreises wie Stephanus und Philippus als Verkündiger des Evangeliums und Wundertäter (Apg 6,8–15; 8,4–8.26–40). Ausserdem deutet einiges darauf hin, dass Stephanus und Philippus auch inhaltlich andere Akzente setzten als die Aramäisch sprechenden Gemeindemitglieder: Stephanus tritt massiv mit Kritik an Tempel und Tora auf – und erleidet dafür den Märtyrertod (Apg 6–7). Und Philippus ist mit der Taufe des gottesfürchtigen äthiopischen Kämmerers der erste im Erzählverlauf der Apostelgeschichte, der einen Nichtjuden in die Jesusgemeinschaft aufnimmt (Apg 8,26–40).

Sozialgeschichtlich betrachtet scheint es also nicht nur um eine Funktionsteilung gegangen zu sein, bei der das Siebenerkollegium die caritativen Funktionen und der Zwölferkreis die Aufgaben der Verkündigung übernahm. Vielmehr werden unterschiedliche Gemeindeteile sichtbar, die unterschiedliche Leitungsstrukturen herausbildeten. Dabei fungierte der Siebenerkreis – analog zu den Leitungsstrukturen, die aus Diasporasynagogen bekannt sind – als Leitungsgremium des Griechisch sprechenden Gemeindeteils.36

Die Bedeutung dieses Griechisch sprechenden Gemeindeteils für die weitere Entwicklung des «Christentums» kann kaum hoch genug eingeschätzt werden.37 Nicht nur, dass die Begüterten unter ihnen zur Versorgung der gesamten Jerusalemer Jesusanhängerschaft entscheidend beitrugen und auch Versammlungsmöglichkeiten für den Aramäisch sprechenden Gemeindeteil zur Verfügung stellten. Sie entwickelten auch theologische und christologische Ansätze, die sich als anknüpfungsfähig für die Verkündigung der Christusbotschaft unter Nichtjuden erwiesen. Sie trugen entscheidend |37| zur Transformation der Christusbotschaft in griechisch geprägtes Denken bei.

«Die hellenistischen Judenchristen sind sozusagen die Brücke zwischen Jesus und Paulus.»38

Die frühe und schnelle Verbreitung der Christusbotschaft in verschiedene Städte Nordafrikas, Syriens, Kleinasiens, Griechenlands und bis hin nach Rom ist sicher zu einem guten Teil den Verbindungen dieser Diasporajuden in ihre Herkunftsstädte zu verdanken.

Wenn die Apostelgeschichte in 8,1 von der Flucht der Gemeindemitglieder aus Jerusalem wegen einer Verfolgung nach der Ermordung des Stephanus erzählt – «mit Ausnahme der Apostel» –, dann sind hier vor allem diese Griechisch sprechenden Gemeindeteile und ihre Repräsentanten im Blick. Als Folge dieser Flucht beginnt die Apostelgeschichte im Anschluss von der Verbreitung des Christusglaubens auch ausserhalb von Judäa zu erzählen. Den ersten Schritt nach Samaria und sodann in die Küstenebene macht sie dabei bezeichnenderweise an Philippus fest, einem Mitglied des Siebenerkollegiums (Apg 8,4–40). Vermutlich haben die Mitglieder des Siebenerkreises nach dem einschneidenden Ereignis der Tötung des Stephanus die Stadt verlassen.39 Von nun an geraten mit Damaskus und Antiochia zwei bedeutende Städte ins Blickfeld des Interesses, in denen entscheidende Weichen für die weitere Entwicklung des Christusglaubens gestellt wurden.

1.6
Samaria, Antiochia, Damaskus – Der Schritt zu «den Völkern»

Kennzeichnend für die Ausbreitung der Christusbotschaft nach dem Martyrium des Stephanus ist nach dem Bild, das die Apostelgeschichte entwirft, die Aufnahme von Menschen nichtjüdischer Herkunft in die Gemeinschaft der Jesusnachfolge. Mit Samaria kommt zunächst ein aus Jerusalemer Perspektive nicht als «richtig» jüdisch anerkanntes Gebiet in den |38| Blick. Mit Philippus verkündet ein Mitglied des Siebenerkreises als erster in dieser Region (Apg 4,5–8). Nach Ausweis der Apostelgeschichte tat er dies mit einigem Erfolg. Es scheint, dass mit dem Christusglauben sich den Samaritanern eine Möglichkeit der gleichwertigen Zugehörigkeit zum Gottesvolk bot.40 Philippus ist es auch, der sich nach Apg 8,40 der Küstenebene und damit einem Gebiet mit griechischer Bevölkerungsmehrheit zuwandte. Und er ist derjenige, der nach der Apostelgeschichte zum ersten Mal einen Nichtjuden ohne Beschneidung und allein durch die Taufe in die Jesusgemeinschaft aufnimmt (Apg 8,26–39).

Exkurs

Zwar wird der äthiopische Eunuch (in den Übersetzungen meist als «Kämmerer» wiedergegeben), der von Philippus getauft wird, in Apg 8,27 als jemand gekennzeichnet, der nach Jerusalem gekommen war, «um Gott anzubeten», und er liest in seinem Reisewagen auch in den jüdischen Heiligen Schriften, genauer: im Buch Jesaja. Doch dürfte mit dieser Charakterisierung kaum gemeint sein, dass er als Proselyt anzusehen ist, also als jemand, der im vollumfänglichen Sinne zum Judentum konvertiert ist. Denn nach Dtn 23,2 konnte ein Eunuch gar nicht vollgültig Jude werden. Vielmehr erscheint der Eunuch hier als ein Gottesfürchtiger, also als einer, der mit dem Judentum zwar sympathisierte und sich im Umkreis der Synagoge bewegte, jedoch den letzten Schritt des Übertritts, der für Männer die Beschneidung bedeutete, nicht vollzogen hatte.41

Wie die Verkündigungsarbeit des Philippus in Apg 8,4 als eine Folge der «Zerstreuung» nach dem Martyrium des Stephanus dargestellt worden war, so wird in Apg 11,19 auch die Verkündigung in weiteren Gebieten als eine Folge jener «Zerstreuung» dargestellt. Dabei wird die syrische Grossstadt Antiochia als diejenige hervorgehoben, in der das Evangelium gezielt und offenbar in grossem Umfang auch Griechen verkündet wurde, und zwar von Jesusgläubigen aus der Diaspora:

«Bei der Verfolgung, die wegen Stephanus entstanden war, kamen die Versprengten bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia; doch verkündeten sie das Wort nur den Juden. Einige aber von ihnen, die aus Zypern |39| und Zyrene stammten, verkündeten, als sie nach Antiochia kamen, auch den Griechen das Evangelium von Jesus, dem Herrn.» (Apg 11,19 f.)

In der Folge ist es Barnabas, der, von der Gemeinde in Jerusalem nach Antiochia gesandt, als massgeblicher Verkündiger in Antiochia hervortritt. Er ist es auch, der den mittlerweile vom Christusglauben überzeugten Saulus aus Tarsus wieder nach Antiochia holt und gemeinsam mit ihm dort eine erfolgreiche Arbeit leistet (Apg 11,22–26). Und in Antiochia erhielten die Jesusgläubigen zum ersten Mal eine Bezeichnung durch Aussenstehende, die sie als eine eigene Gruppe neben der jüdischen Gemeinschaft kennzeichnete: christianoi, Christen (Apg 11,26).

Antiochia war zu jener Zeit eine Grossstadt von ausserordentlicher Bedeutung, wenngleich die Stadt des ersten Jahrhunderts noch längst nicht die Grösse und den Glanz der spätantiken Stadt erlangt hatte. Seit 27 v. Chr. war es die Hauptstadt der römischen Provinz Syrien und Sitz des römischen Statthalters. Es zählte neben Rom und Alexandria zu den «Weltstädten» des Römischen Reiches, und der jüdische Historiker Flavius Josephus gibt dieser Stadt «wegen ihrer Grösse und ihres allgemeinen Wohlstandes unwidersprochen den dritten Platz in der von den Römern beherrschten Welt»42.

Exkurs

Die genauen Einwohnerzahlen antiker Städte sind nur schwer zu ermitteln. Im Falle von Antiochia wird aufgrund verschiedener Zahlenangaben in antiken Quellen zumeist von der für eine antike Stadt enormen Grösse zwischen 300 000 und 600 000 Einwohnern ausgegangen.43 Doch sind die Zahlenangaben der antiken Autoren insgesamt recht inkonsistent. Wenn man die Grösse des antiochenischen Stadtareals der frühen Kaiserzeit mit einbezieht, sind die in der heutigen Diskussion gängigen Zahlen eher nach unten zu korrigieren. So geht Frank Kolb für die frühe Kaiserzeit von höchstens 250 000 Einwohnern der Stadt aus, was allerdings für die Antike immer noch eine beachtliche Grösse darstellt.44

 

|40| Antiochia lag ausserordentlich günstig am Knotenpunkt des kleinasiatischen und orientalischen Strassennetzes, und sein Hafen eröffnete Handelswege in das gesamte Mittelmeergebiet. Doch war die Stadt nicht nur eine Wirtschaftsmetropole, sondern als Provinzhauptstadt auch ein Zentrum der römischen Verwaltung. Griechisch war die dominierende Sprache, insbesondere im Handel und in allen Bereichen der Politik. Dagegen sprach die einheimische Bevölkerung Syrisch.

Eine lange Tradition hatte die dortige jüdische Gemeinde, die zwar als eine der bedeutendsten der Diaspora gilt,45 über deren genaue Grösse aus den Quellen allerdings kaum konkrete Angaben zu erhalten sind.46 Der jüdische Historiker Flavius Josephus betont die Grösse und Bedeutung der jüdischen Präsenz in Antiochia, die zudem von den seleukidischen Königen gefördert worden sei, und er hebt die Offenheit der antiochenischen jüdischen Gemeinde und ihre einladende Haltung gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung der Stadt hervor.47

Dieses Milieu derer, die mit dem Judentum sympathisierten, jedoch den letzten Schritt des Übertritts nicht getan hatten, wird in der Folge von grösster Bedeutung für die Ausbreitung der Christusbotschaft. Denn die aus Jerusalem kommenden Griechisch sprechenden Jesusverkündiger, die ja selbst Jüdinnen und Juden aus der Diaspora waren, waren rechtlich Teil der örtlichen Judenschaft und fanden ihren ersten Ort selbstverständlich in den Synagogen Antiochias. Dezidiert sprachen sie mit ihrer Jesusbotschaft aber nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Menschen nichtjüdischer Herkunft und insbesondere jene Sympathisantinnen und Sympathisanten im Umkreis der Synagoge (die «Gottesfürchtigen») an und nahmen sie durch die Taufe in die messianisch-jüdische Gemeinschaft auf. Für diese Gottesfürchtigen war damit ein Weg eröffnet, dem Judentum anzugehören, ohne dass sich die Männer beschneiden lassen mussten. Dies |41| war für viele attraktiv. Allerdings musste diese Praxis bei den örtlichen Synagogengemeinden auf Misstrauen und Widerstand stossen; denn die Gottesfürchtigen waren für die Synagogengemeinden wegen ihrer rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Stellung im Beziehungsgefüge der Stadt von ungeheurer Bedeutung. Wenn diese einflussreichen Personen durch ihre Taufe für die Synagogengemeinde «verloren» zu gehen drohten, waren Konflikte mit den Jesusverkündigern vorprogrammiert. So deutet die Notiz in Apg 11,26, dass in Antiochia die Anhängerinnen und Anhänger des «neuen Weges» als «christianoi» bezeichnet worden seien, auf eine wohl schon von aussen wahrnehmbare Differenz zwischen den messiasgläubigen Jüdinnen und Juden, die als «Christianer» bezeichnet wurden, und den Jüdinnen und Juden, die dem Messiasglauben nicht anhingen. Mit der antiochenischen Praxis, auch Menschen «aus den Völkern» durch die Taufe in die messiasgläubige Gemeinschaft aufzunehmen, war allerdings der Weg vorgezeichnet, auf dem sich die Christusbotschaft auch in anderen Städten verbreiten würde.48

Eine weitere Stadt, die in diesen Anfangszeiten von grosser Bedeutung war, ist Damaskus. Wie das Evangelium dort hingekommen war, erzählt die Apostelgeschichte allerdings nicht. Bereits beim gewaltsamen Wüten des Paulus49 gegen die christusgläubigen Gemeinschaften war Damaskus als ein Ort genannt worden, in dem solche Gemeinschaften zu finden waren (Apg 9,2), und auch im weiteren Verlauf der Erzählung über die Christusbegegnung des Paulus nahe bei Damaskus werden Jesusanhängerinnen und -anhänger in dieser Stadt vorausgesetzt. Damaskus ist die Stadt, in der Paulus in den Glauben an den Messias Jesus eingeführt wurde, und von hier hat er zentrale Ideen für sein künftiges Wirken mit auf den Weg bekommen. Bereits hier wird er die Öffnung der Jesusgemeinschaft gegenüber Menschen nichtjüdischer |42| Herkunft hautnah erlebt haben, was für seine gesamte weitere Arbeit von prägender Bedeutung wurde.50

Damit ist die Darstellung bei der Figur angelangt, die für die Ausbreitung der Christusbotschaft über Syrien hinaus von allergrösster Bedeutung war: Paulus aus Tarsus. Seiner Person, seiner Arbeit im Beziehungsgefüge der frühen Gemeinden und seiner Theologie ist das folgende Kapitel gewidmet.