Rheinfall

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VIER

Gegen Mittag trifft Jean-Pierre in Chur ein. Er parkt vor dem Stationsgebäude.

«Weisst du, was das ist, Linda?» Er zeigt auf die Halteverbotstafel neben dem Wagen.

«Eine Verbotstafel, fahr weiter, schnell.» Die Journalistin der «Glücks-Fee», die Murat seit der Pressekonferenz gestern Abend nicht mehr von der Seite gewichen ist, zeigt auf ein Parkfeld weiter drüben.

Jean-Pierre öffnet die Wagentür. «Das ist keine Verbotstafel, das ist Luxus, verstehst du?» Dann verschwindet er im Gebäude.

Die Journalistin nimmt die Kamera, steigt aus und setzt sich im Schatten auf eine Parkbank.

Wenig später fährt der Stadtbus vor, ein grelles Hupen, Linda Steiner hebt die Kamera, ein erstes Bild zeigt, wie der Bus knapp am grossen Audi vorbeimanövriert, ein zweites, wie der Chauffeur aussteigt und den Wagen betrachtet, ein drittes, wie er sein Handy zückt und telefoniert. Dann fährt der Bus weiter. Linda wartet.

Kaum drei Minuten später fährt ein Streifenwagen vor, durch die Linse sieht die Journalistin, wie ein Beamter umständlich einen Bussenzettel ausfüllt und ihn unter die Windschutzscheibe klemmt. Dann geht die Türe des Stationsgebäudes auf. Jean-Pierre erscheint. Neben ihm bleich und mit unsicherem Gang die Schriftstellerin Marguerite Duval. Linda hat sie noch nie so gesehen, ungeschminkt, zerzaustes Haar, zerknitterte Kleidung. Immer wieder drückt sie ab, fotografiert, wie die beiden sich dem Wagen nähern, wie Jean-Pierre Marguerite die Tür öffnet und ihr beim Einsteigen hilft, ohne den Polizisten zu beachten, der sich nun dem Wagen nähert, auf das Halteverbotsschild deutet und mit dem Bussenzettel vor Jean-Pierres Gesicht herumwedelt. Dann noch eine letzte Aufnahme, Jean-Pierre zückt seine Brieftasche, zieht eine Note heraus, lächelt. Dann winkt er Linda zu, wartet, bis sie beim Audi ist, und öffnet ihr galant die Türe.

«Schade um dein Geld.»

«Du bist eben zu kleinlich. Ausserdem gibt das doch eine prima Story für dein Blatt, oder nicht?»

«Glaubst du, dass so etwas meine Leserinnen interessiert?»

«Sonst hättest du wohl nicht so oft abgedrückt.»

Murat startet den Motor und lenkt den Wagen durch die Stadt. «Und du wirst noch einiges mehr zu sehen bekommen, das deinen Leserinnen gefallen wird.»

Auf der Rückbank ist Marguerite in sich zusammengesunken, sie murmelt unverständliches Zeug.

«Will sie so in Schaffhausen lesen?»

Jean-Pierre hält vor einer Ampel. «Sie hat eben ein Beruhigungsmittel geschluckt. Morgen wird sie wieder auf den Beinen sein.»

«Ein guter Platz, findest du nicht?» Felix kneift die Augen zusammen, beobachtet die Wassermassen, die einer Lawine gleich über die Felsen ins Rheinfallbecken hinunterstürzen.

«Nicht gut genug.» Freddy schaut sich um, eine Gruppe Japaner überquert die Brücke beim Restaurant, um zur Bootsanlegestelle zu gelangen, zwei Schweizer Familien folgen ihnen.

«Und was passt dir nicht, wenn ich fragen darf?»

«Zu wenig Leute, wir brauchen ein grosses Gedränge, wenn es unbemerkt passieren soll.»

«Komm mit.» Felix folgt den Japanern über die Brücke, mischt sich unter sie, geht lächelnd hin und her und verlässt die Gruppe bei den Booten.

«Na? Ist das nicht Gedränge genug?»

Freddy schüttelt den Kopf. «Deine blonden Haare waren immer zu sehen. Und wenn einer hier oben steht, kann er genau beobachten, was in der Gruppe passiert. So wird das nie klappen.»

Ein Boot legt an. Leute kommen an Land, schnatternd gehen die Japaner an Bord.

Felix stellt sich ans Geländer, schaut zu, wie das Boot ablegt, und zündet sich eine Zigarette an. Er sieht, wie das Boot durch die Strömung Kurs auf den Felsen hält, der mitten im tosenden Wasser des Rheinfalls steht. «Dann machen wir es dort drüben, dort ganz oben.»

Freddy schaut hinauf zur Schweizerfahne auf dem Felsen. «Wenn jemand hinter Marguerite Duval her ist und sieht, dass sie zum Aussichtspunkt hinüberfährt …»

«… dann kann er es sich leisten, hier zu warten und einen Kaffee zu trinken, denn es ist nicht anzunehmen, dass sie wegschwimmt!»

«Genau. Komm mit!»

Und dann erzählt Freddy bei einem Kaffee am Panoramafenster des Restaurants, wie er sich das Ganze vorstellt.

Margrittli sitzt an der Bar und trinkt einen Tee, als der Anruf kommt.

«Bar Adria, Giancarlo!»

Der Kellner hört kurz zu. Dann schaut er Margrittli fragend an. Diese schüttelt den Kopf.

«Nein, tut mir leid, sie war heute noch nicht hier …! Gut, ich werde es ihr ausrichten …! Genau, auf Wiederhören.»

«Danke, Giancarlo. Was hat er gesagt?»

Der Kellner nimmt einen gelben Lappen und wischt über die Theke. «Ich soll dir, wenn du kommst, ausrichten, dass du unbedingt hier bleiben und auf einen gewissen Freddy warten musst. Es sei dringend, hat er gesagt.»

«Das geht schneller, als ich gedacht habe.»

Giancarlo reibt weiter auf der gleichen Stelle herum.

«Kannst du nicht aufhören? Diese Putzerei macht mich nervös!»

«Ich mache mir Sorgen um dich, Margrittli. Diese Typen sind nichts für dich. Das habe ich schon gestern Abend gedacht. Die sind vielleicht gefährlich. Ich hab das so in der Nase, verstehst du? Ich bin doch dein Freund, ich an deiner Stelle würde …»

Margrittli steht auf. «… aussteigen, wolltest du das sagen?» Sie legt das Geld für den Tee auf die Theke.

«Genau!» Giancarlo lächelt erleichtert.

«Dazu ist es zu spät. Ich will doch nur …» Margrittli schüttelt den Kopf.

«Du bist ganz schön starrköpfig, weisst du das?»

«Das hat mein Vater auch immer gesagt.» Sie lächelt. «Dann verschwinde ich jetzt am besten.»

Giancarlo hat mit Putzen aufgehört. «Und was sage ich diesem Freddy, wenn er kommt?»

Margrittli öffnet die Türe der Bar. «Sag ihm, dass ich angerufen habe und ihm ausrichten lasse, ich sei beim Einkaufen, werde aber bald kommen, klar?»

Giancarlo nickt, trocknet sich die Hände und steckt das Geld ein.

Während Jean-Pierre Murat nachmittags um zwei den Walensee entlangfährt, Pietro Soldini zur gleichen Zeit in einem Strassencafé in Stein am Rhein sitzt und die Zeitung liest, Felix und Freddy den Rheinfall verlassen und Margrittli zum Einkaufen geht, betritt ein junger Mann das Hotel Chlosterhof in Stein am Rhein. Er schaut sich in der leeren Halle um, geht dann hinüber zum Portier.

«Ich habe angerufen. Maier ist mein Name, Manuel Maier.»

Der Portier blättert eifrig in seinem Buch, schüttelt dann bedauernd den Kopf. «Tut mir leid, Herr Maier, hier ist keine Reservation unter diesem Namen eingetragen.»

Wieder schaut sich der junge Mann um. «Ich habe kein Zimmer reserviert, ich bin der neue Mitarbeiter. Herr Direktor Bucher hat gesagt …»

«Ach so, genau, der Herr Direktor hat mir von Ihnen erzählt.» Der Portier zieht die Brauen zusammen, macht sich gross, winkt dann den jungen Mann nahe zu sich heran. «Eines müssen Sie zuerst lernen, Maier, der Personaleingang ist hinter dem Gebäude. Aber wenn Sie nun schon mal hier sind, können Sie gleich mitkommen.»

Er führt den neuen Angestellten in ein Nebenzimmer und schiebt ihm ein Formular zu. «Wenn Sie dieses Blatt hier bitte ausfüllen würden. Die üblichen Formalitäten. Ich werde Sie dann in Ihre Tätigkeit einführen.»

Margrittli steht im Warenhaus Schwanen und beobachtet die Leute. Ausverkauf! Ständig dröhnen neue Sonderangebote auf die Kaufwilligen ein. Im Rausch wühlen sie sich durch Kisten, stürzen sich auf neue Ständer, die herbeigekarrt werden, klammern sich an Kleiderbügeln fest, damit sich niemand an ihren Schnäppchen vergreifen kann.

«Turnschuhe für den Herrn, nur in dieser Stunde für die Hälfte des angeschriebenen Preises, ab sofort in unserer Sportartikelabteilung!»

Einige Männer setzen sich in Bewegung, laufen an Margrittli vorbei, die sich für lange Mäntel interessiert. Sie hat schon mehrere probiert, doch scheinen ihr alle etwas zu eng. Endlich findet sie etwas, ein auffälliges gelbes Exemplar, das an Hässlichkeit kaum zu überbieten ist. Sie schlüpft hinein, das Ding passt, dann wühlt sie sich durch einen Stapel Kopftücher, die wohl kaum jemand mit gesundem Farbempfinden kaufen würde, fischt sich ein giftgrünes quadratisches Exemplar heraus, packt noch eine grosse Sonnenbrille dazu und geht zur Kasse.

Auch hier herrscht ein unglaubliches Gedränge, und so reagiert Margrittli kaum, als sie angerempelt wird. Erst als der Mann neben ihr seinen Kopf hinunterneigt und zu flüstern beginnt, zuckt sie zusammen.

«Ich muss dringend mit Ihnen sprechen, schauen Sie bitte geradeaus, es muss niemand merken, dass wir uns kennen.»

Auch Margrittlis Stimme ist kaum hörbar: «Meine Mutter hat mir verboten, mit fremden Männern zu sprechen, gerade im Ausverkauf sei das sehr gefährlich.»

«Wir kennen uns, Frau Durrer.»

Margrittli dreht den Kopf zur Seite, starrt dann wieder geradeaus. «Hallo! Sie sind der nette Hundebesitzer von gestern Abend. Haben Sie Ihren Lucky inzwischen gefunden?»

«Das erzähle ich Ihnen später. Bezahlen Sie Ihre Waren, dann treffen wir uns in der Multimediaabteilung, es ist wichtig.»

«Und wenn ich nicht komme?»

«Denken Sie an Marguerite Duval.»

Doch bevor Margrittli etwas antworten kann, ist der Fremde bereits in der Menge verschwunden.

FÜNF

Marguerite Duval erwacht. Ihr Kopf ist angenehm leer. Von diesem Zustand kann sie nicht genug bekommen. So schwebend und leicht. Die Augen, die sie fast geschlossen hält, lassen nur schmale Lichtstreifen eindringen, nur Licht, keine Bilder. Sie weiss, dass sie nichts muss, dass man sie in Ruhe lassen wird.

 

Es ist wie früher, sie ist krank, die Rollläden sind heruntergelassen, im Kinderzimmer ist es dämmrig, gemütlich, ab und zu kommt die Mutter herein, wechselt die Essigumschläge an den Beinen oder bringt ihr etwas zu trinken ans Bett, ohne viel zu fragen, ohne etwas von ihr zu wollen. Am Abend tritt der Vater ins Zimmer, sie spürt seine rissige Hand auf ihrer Stirn, hört seine warme Stimme, hinter ihm die Schwester, die ungeduldig wartet, bis sie wider mit ihr spielen kann.

Die Mutter ist tot, der Vater auch, nur die Schwester lebt irgendwo da draussen in dieser lauten Welt. Früher sind sie zusammen in den Himmel hinaufgeschaukelt, bis ganz hinauf zu den Wolken und wieder zurück. Dann sind sie auseinander gegangen, sie hat begonnen zu schreiben, erst Gedichte, dann Kurzgeschichten und jetzt diese grossen Reportagen in Buchform. Sie hat Preise gewonnen, neue Freunde gefunden, sich Feinde geschaffen. Damit hat sie sich immer mehr vom Dorf und ihrer alten Welt entfernt.

Mit jeder Seite, die sie schrieb, wurde sie besser. Jede neue Geschichte wurde noch mehr gelobt, die Zeitschriften überboten sich, um etwas von ihr abdrucken zu können. Nächtelang sass sie träumend an ihrer Schreibmaschine und flog durch Geschichten, die am nächsten Morgen sauber getippt auf dem Schreibtisch lagen.

Die Schwester, die im Dorf geblieben war, hatte immer mal wieder angerufen, kam zu den Lesungen in der Stadt. Sie erzählte von den Eltern und bat Marguerite, doch bei ihnen vorbeizuschauen. Irgendwie ist die Zeit im Rausch vorbeigezogen, erst starb Mutter, dann der Vater. Nie hat sie sich im Dorf blicken lassen, auch nicht an der Beerdigung. Sie hat sich zu sehr geschämt. Nach dem Tod der Eltern und vor allem seit sie mit Jean-Pierre zusammen ist, hat Marguerite nichts mehr von der kleinen Schwester gehört.

Sie lächelt leise, wenn sie an damals denkt. Jean-Pierre wollte sie gross machen, ihren Namen über alle Grenzen hinaustragen, nur – sie müsse angriffiger werden, dürfe keinen Skandal auslassen. So hatte sie begonnen, den Leuten mit ihren Reportagen auf den Zehen herumzutreten, Jean-Pierre recherchierte die Geschichten und sie verpackte diese in ihrem unverwechselbaren Stil. Pressekonferenzen jagten sich, erste Anklagen wurden eingereicht, Prozesse gewonnen, sie galt als Verfechterin der Meinungsfreiheit, und die Verkaufszahlen ihrer Bücher schnellten in die Höhe. Der Name Marguerite Duval prangte in grossen Buchstaben auf der Frontseite der grossen Zeitschriften.

Doch als sie keine Ruhe mehr finden konnte, brauchte sie etwas, um weiterzuarbeiten, sie trank, damit sie schlafen konnte, nahm irgendwelche Mittel, um sich am Laptop konzentrieren zu können. Kaffee reichte schon lange nicht mehr. «Meine Apotheke» nannte sie ihre Begleitung in den schweren Stunden, die sie immer wieder mit neuen Mitteln versorgte, die sie aus den Löchern ihrer Seele holten und sie schweben liessen so wie jetzt im Wagen kurz vor Zürich.

Zuerst schaut sich Margrittli bei der italienischen Musik um, wählt eine CD aus und schlendert dann hinüber zum deutschen Schlager. Wahllos greift sie sich einen Tonträger heraus und geht damit zur Theke.

«Können Sie mir diese hier abspielen?»

Die Verkäuferin öffnet die Verpackung, legt die CD auf und gibt Margrittli die Hülle.

Sie stülpt sich den Kopfhörer über die Ohren und blättert im weissen Textbuch auf der Suche nach dem ersten Lied.

«Sie wollten mit mir über Marguerite Duval sprechen?»

Der Mann neben ihr dreht sich langsam um, schiebt den Kopfhörer leicht zur Seite und dreht die Musik leiser. «Marguerite Duval ist in Gefahr.»

Margrittli summt ein paar Takte mit. «Ich habe die Zeitung auch gelesen. Irgendwelchen Spinnern gefällt nicht, was sie schreibt. Sie wird bedroht. Ein gefundenes Fressen für die Journalisten, oder nicht?»

Der Mann dreht sich um, sein Blick wandert über die Regale. «Diesmal ist es mehr, glauben Sie mir, diesmal ist es viel mehr. Denn diesmal wird man versuchen, sie umzubringen.»

Das weisse Textbuch fällt auf den Boden. Margrittli erstarrt für einen Moment. Da bückt sich der Fremde und hebt es für sie auf.

«Warum erzählen Sie mir das alles? Was wollen Sie von mir?»

«Ich will Sie warnen.»

Margrittli nimmt das Textbuch. «Warnen?»

«Sie lassen sich mit den falschen Leuten ein. Sie sind daran, ein sehr einsames Spiel zu spielen. Sie brauchen Freunde, wenn es gefährlich wird, ich wollte …»

«Sie ein Freund? Jemand, der in der Nacht um mein Haus schleicht, mich anlügt mit einer halbschlauen Hundegeschichte, jemand, der mich im Ausverkauf belästigt …»

Margrittli ist laut geworden, der Fremde legt seinen Kopfhörer auf die Theke und wendet sich zum Gehen. «Seien Sie ruhig», zischt er wütend, «es ist vielleicht jemand hier, der uns beobachtet! Nehmen Sie die Rolltreppe ins Erdgeschoss, gehen Sie zum Kiosk und kaufen Sie die hinterste ‹Glücks-Fee›. Meine Karte wird dort drin sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen …»

Wie gelähmt steht Margrittli an der Theke. Was hat der Fremde gesagt? Dass sie jemand beobachten könnte? Langsam dreht sie sich um. Ausser ein paar Schülern steht niemand zwischen den Verkaufsregalen. Eben verschwindet der Mann von vorhin bei den Fernsehern. Aber da – folgt ihm nicht jemand? Dieser kräftig gebaute Kerl mit den kurz geschnittenen Haaren?

Margrittli schüttelt den Kopf. Sieht sie schon Gespenster? Dankend legt sie den Kopfhörer auf die Theke und fährt mit der Rolltreppe ins Erdgeschoss hinunter.

Dort wendet sie sich nach rechts zum Kiosk.

«Wo finde ich die ‹Glücks-Fee›?»

«Tut mir leid.» Die Verkäuferin schüttelt den Kopf. «Eben war ein Herr hier, der hat alle vorhandenen Exemplare gekauft.»

Manuel Maier steht an der Rezeption im Hotel Chlosterhof in Stein am Rhein und blättert in den herumliegenden Papieren. Der Portier hatte sich an einem Brötchen eine Plombe herausgebissen und war auf dem Weg zum Zahnarzt, um sich ein Provisorium einsetzen zu lassen. Manuel hatte beteuert, über genug Hotelerfahrung zu verfügen, um in der Zwischenzeit die Stellung zu halten.

Als Pietro Soldini das Hotel betritt und auf die Rezeption zugeht, beginnt das Telefon zu läuten.

«Hotel Chlosterhof, Maier … Guten Tag, Herr Murat. Ich schaue nach …» Manuel wirft einen Blick in ein Buch. «Ja, Ihre Reservation ist in Ordnung. Wann dürfen wir mit Ihrem Eintreffen rechnen?»

Pietro Soldini geht hinüber zu einem Ständer mit Prospekten und nimmt einen heraus.

«Das ist in Ordnung, dann wünsche ich Ihnen viel Spass, auf Wiederhören, Herr Murat.»

Manuel schaut sich kurz in der Halle um, geht dann zu den Toiletten, vergewissert sich, dass sie leer sind, schliesst sich in einer Kabine ein und zieht das Handy aus der Tasche.

«Hier Manuel, hallo Steff. Sie sind unterwegs. Eben hat Murat angerufen. Er wird am Abend hier eintreffen, will aber vorher noch den Rheinfall besuchen und …» Manuel stockt der Atem. Was ist das? Sind da nicht Schritte zu hören? Dazu dieses leise Knirschen von teuren Schuhen …

Er steckt das Handy in die Tasche, entriegelt die Tür seiner wc-Kabine, im gleichen Augenblick geht das Licht aus. Manuel horcht in die Dunkelheit, seine Augen suchen im Schwarz, das ihn umhüllt, einen Anhaltspunkt. Da, drüben bei den Lavabos ist wieder dieses Geräusch von Lederschuhen zu hören. Langsam bewegt sich Manuel vorwärts.

Zu seiner Linken hört er, wie ein Wasserhahn aufgedreht wird, er ballt die Fäuste, springt auf das Geräusch zu und schlägt ins Leere, unsanft wird er von der Seite gepackt und gegen die Wand gestossen. Als er sich benommen aufrappelt, hört er die Türe der Toiletten ins Schloss fallen.

Dann ist er alleine. Erleichtert atmet er aus, steht auf und macht Licht. Er nimmt das Handy aus der Tasche.

«Bist du noch dran? Nein, es war nichts, ein Witzbold hat das Licht im wc gelöscht. Hör zu: Sie sind jetzt in Zürich, mach dich auf den Weg.»

Manuel wäscht sich die Hände und wischt sich den Schweiss von der Stirn.

Freddy steckt eben sein Handy weg, Felix zündet sich eine nächste Zigarette an und Giancarlo leert demonstrativ ein weiteres Mal den Aschenbecher, da betritt Margrittli die Bar Adria.

«Endlich, wir haben schon gedacht …»

«Einen Tee bitte, Giancarlo.»

Der Kellner macht sich an seiner Maschine zu schaffen. Zischend fliesst das dampfende Wasser ins Teeglas.

«Wann und wo?»

«Zwischen vier und fünf. Auf dem Rheinfallfelsen. Wir haben einen sicheren Plan, Freddy meint, du solltest …»

Giancarlo stellt den Tee auf die Theke, wischt mit seinem Lappen über die Maschine und schaut interessiert zu seinen Gästen hinüber. «Na, Margrittli, willst du mir deine Freunde nicht vorstellen?»

Sie schaut den Kellner grimmig an. «Ich glaube, wir sollten uns mal kurz unterhalten, ja?» Dann zerrt sie den erstaunten Giancarlo nach hinten.

«Was ist los mit dir?»

«Entschuldige, ich wollte mich nicht einmischen, aber deine neuen Freunde gefallen mir wirklich nicht!»

«Mir auch nicht.» Margrittli lacht. «Kannst du mir einen Gefallen tun?»

Der Kellner nickt.

Sie drückt Giancarlo den Schlüssel ihres Randenhauses in die Hand.

«Kann ich mich auf dich verlassen?»

Wenig später sitzt sie wieder an der Theke, nippt an ihrem Tee und lässt sich von Freddy den Plan erklären.

«Noch Fragen?»

Sie schüttelt den Kopf.

«Gehen wir!» Felix legt das Geld auf die Theke.

Giancarlo hält Margrittli am Handgelenk fest. «Wenn du jetzt gehst, kannst du nicht mehr zurück.»

Sie lächelt. «Das will ich auch nicht!»

SECHS

Margrittli, Freddy und Felix schlendern über den Fronwagplatz. Margrittli gönnt sich unterwegs ein Eis. «Wenn ich nervös bin, brauche ich etwas Süsses!»

Zur gleichen Zeit steigt Pietro Soldini in Stein am Rhein in seinen himmelblauen Porsche und braust los. Auf dem Beifahrersitz liegen eine Strassenkarte der Gegend und ein Prospekt des Rheinfalls.

Der grosse weisse Audi mit der schlafenden Marguerite Duval auf dem Rücksitz und einem gutgelaunten Jean-Pierre Murat am Steuer nährt sich langsam Winterthur. Auf dem Beifahrersitz setzt Linda Steiner, die Journalistin der «Glücks-Fee», einen neuen Chip in ihre Kamera ein.

Bei der Tankstelle in Andelfingen steht ein weisser vw Golf, am Steuer wartet der junge Steff Rohrer, der seinen Multitel- Overall gegen ein hellblaues Lacoste-Hemd getauscht hat und eine auffällige Romano-Monti-Sonnenbrille trägt, und beobachtet die vorbeifahrenden Wagen.

Obwohl es erst gegen vier geht, löscht Giancarlo die Lichter in der Bar Adria. «Geschlossen wegen Krankheit!», steht auf einem umgedrehten Tischset, das er von innen an die Tür klebt. Dann geht er zum Bahnhof, holt etwas in der Apotheke und besteigt den Bus nach Neuhausen.

Eine Frau in einem schwarzen Kleid steigt ganz hinten in den gleichen Bus ein, öffnet eine Gratiszeitung, lässt dabei aber den italienischen Kellner nicht aus den Augen.

«Was hast du eigentlich vor?» Linda Steiner packt ihre Kamera in die Tasche. «Du hast mir einen Knüller für die ‹Glücks-Fee› versprochen.»

Jean-Pierre Murat betätigt den Blinker und lenkt den Audi auf die Einspurstrecke in Richtung Schaffhausen. «Du kriegst deinen Knüller. Allerdings musst du mir etwas versprechen. Du musst vorläufig schweigen, der Zustand von Marguerite soll im Moment geheim bleiben.»

«Eine Journalistin kann nicht schweigen! Ich bin meinen Leserinnen verpflichtet.»

«Wenn du schreibst, was ich dir sage, bekommen deine Leserinnen die beste Story des Jahres, exklusiv natürlich.»

Linda lächelt leise. «Und wenn ich nicht schweigen kann?»

Murat tritt hart auf die Bremse, der Audi schlingert, ein Lastwagen hinter ihnen hupt, dann kommt der Wagen auf dem Pannenstreifen zum Stehen. Murat stellt den Motor ab.

«Bist du verrückt geworden?»

«Wenn du nicht schweigen kannst, meine Liebe, gehst du zu Fuss nach Schaffhausen, klar?»

Die Journalistin wischt sich den Schweiss von der Stirn. Dann räuspert sie sich. «Das ist ein Argument. Ich gehe nicht besonders gerne zu Fuss.»

«Versprochen?» Jean-Pierre hält ihr die Hand hin.

«Versprochen!» Die Journalistin nimmt die Hand des Managers der angriffslustigsten Schriftstellerin des Landes, beugt sich zu ihm hinüber und küsst ihn lange und ausgiebig auf den Mund.

Murat dreht zufrieden den Zündschlüssel und fädelt sich wieder in den Verkehr ein.

 

«Du schreibst Folgendes, liebe Linda. Marguerite Duval hat ihren Urlaub in St. Moritz genossen und kommt voller Tatendrang nach Schaffhausen. Dort besichtigt sie den Rheinfallfelsen und fährt danach nach Stein am Rhein, wo sie im Hotel Chlosterhof logiert. Damit du alles genau beobachten kannst, bekommst du ein Zimmer neben uns und darfst uns auf allen Ausflügen begleiten. Du machst Fotos, die zeigen, wie sich Marguerite Duval amüsiert. Dieser Artikel kommt dann in der ‹Glücks-Fee›.»

«Aber das ist gelogen», die Journalistin zeigt auf den Rücksitz, «ihr geht es doch miserabel!»

«Richtig.» Murat legt ihr die Hand auf den Arm. «Darum wollen wir sie auch eine Weile schonen, Marguerite Duval wird heute auf dem Rheinfallfelsen durch eine Doppelgängerin ersetzt.»

«Und diese Story, ich meine, das ist …»

«Das ist dein Knüller, Linda. Exklusiv für die nächste ‹Glücks-Fee›!»

Die Journalistin zückt ihr Handy und tippt geschickt eine SMS ein. «Dann reserviere ich schon einmal die Seiten für meine Story!»

Eine kalte Hand packt Jean-Pierre an der Schulter. Beinahe hätte er die Beherrschung über das Fahrzeug verloren. «Marguerite, wie geht es dir?»

«Miserabel, wenn ich euch zuhöre! Du kannst doch nicht einfach …, und ohne mich zu fragen!»

«Es ging dir nicht gut, du bist in Chur zusammengebrochen, weisst du das nicht mehr?»

«Jetzt geht es mir besser. Und was macht die hier?» Die Schriftstellerin wirft Linda einen wütenden Blick zu.

«Darf ich vorstellen, das ist die Journalistin Linda Steiner von der ‹Glücks-Fee›, sie wird über dich schreiben.» Linda dreht den Kopf und nickt Marguerite lächelnd zu.

«‹Glücks-Fee›? Das ist doch kein Journalismus!», zischt sie böse. «Das sind doch bloss verdünnte Träume für zickige Weiber in den Wechseljahren!»

Jean-Pierre lacht laut. «Es geht dir wirklich besser! Angriffslustig und direkt wie immer!»

«Wenn ich nur nicht so müde wäre …» Langsam rutscht ihre Hand von seiner Schulter, und sie sinkt auf das Polster des Rücksitzes zurück.

«Es wird alles gut, meine Liebe, du musst nur machen, was ich dir sage!»

Während der Fahrt nach Neuhausen zieht sich Margrittli auf der schmalen Rückbank des Mini Cooper von Felix den gelben Mantel an und schlingt sich das giftgrüne Kopftuch um die Haare. «Na, wie sehe ich aus?»

Felix grinst. «Wie jemand, der an der Wahl zur ‹Miss Geschmacklos› teilnimmt.»

«So kannst du unmöglich an den Rheinfall!» Freddy mustert sie im Rückspiegel. «So fällst du allen Leuten auf.»

«Das wollen wir doch, oder nicht?»

Felix fischt sich eine Zigarette aus seiner Packung und zündet sie an. «Nein, wir wollen dich unauffällig mit Marguerite Duval vertauschen. So geht das nicht!»

Freddy hüstelt. «Musst du unbedingt im Wagen rauchen?»

«Ich bin nervös. Und wenn ich nervös bin, muss ich rauchen.»

«Dann dreh das Fenster herunter. Und du, Margrittli, ziehst jetzt augenblicklich dieses Fastnachtskostüm aus.»

«Ich denke nicht daran!»

«Margrittli!», brüllt Freddy wütend, «du bekommst gutes Geld, damit du dich mit Marguerite Duval vertauschen lässt. Und wir sagen dir, wie die Aktion ablaufen soll! Ist das klar genug?»

Margrittli lehnt sich zurück. «Ist es verboten, wenn man mitdenkt? Stellt euch mal die folgende Situation vor: Jemand steht bei der Anlegestelle der Boote und beobachtet, was vor sich geht. Er sieht eine junge Dame mit etwas auffälligen Kleidern, richtig?»

«Eine Vogelscheuche, wolltest du sagen!»

«Von mir aus eine Vogelscheuche. Er schaut sie an, und was denkt er?»

Felix nimmt einen tiefen Zug. «Er denkt: die armen Kerle, die mit ihr ausgehen müssen.»

«Genau. Er schaut sie sich genau an und denkt sich seinen Teil. Dann kommt die Duval, und die Vogelscheuche ist vergessen. Und wenn dann die Vogelscheuche wieder vom Rheinfallfelsen zurückkommt, dann …»

«Genial!» Freddy hält an einem Lichtsignal hinter einem himmelblauen Porsche. «Wenn du wieder vom Rheinfallfelsen kommst, denkt er: Schon wieder die Vogelscheuche, und die Sache ist gegessen.»

«Und das Gute, Freddy, ist, dass die Vogelscheuche, die vom Rheinfallfelsen kommt, nicht irgendwer sein wird, sondern die gejagte Schriftstellerin Marguerite Duval.»

Pietro Soldini parkt seinen Porsche etwas abseits, schaut dann auf die Uhr. Zwanzig vor fünf. Er setzt eine Sonnenbrille auf, nimmt die Tasche mit der Videokamera und schliesst den Wagen ab. Er braucht ein paar Minuten, bis er sich an das Tosen der Wassermassen gewöhnt hat. Langsam geht er auf das monumentale Schauspiel zu. Er will jetzt schauen und geniessen, nachher würde er keine Zeit mehr dazu haben.

Immer wieder hebt er die Kamera, sucht sich einen lohnenden Ausschnitt, zoomt die brausende Wasserwand zu sich heran, bis nur noch Wasser sichtbar ist, keine Felsen, keine Häuser, kein Himmel, nur die rohe Kraft des Elements.

Dann atmet Soldini tief durch. Nun würde er den Wasserfall vergessen. Ihn in den Hintergrund schieben und sich auf das Wesentliche konzentrieren, auf die Menschen, die sich hier befinden, und auf diejenigen, die noch kommen würden.

Er ist nicht der Einzige, der sich für Marguerite Duval interessiert, auch der Mann an der Rezeption im Hotel Chlosterhof wollte etwas von ihr, wie viele würden es noch sein? Er weiss es nicht, doch er wird sich vorsehen. Nur wer mit allem rechnet, hat Erfolg!

Als Erstes nimmt er sich alle Anwesenden vor: ein älteres Ehepaar, das sich zu streiten scheint, die zwei jungen Männer mit der bunt gekleideten Frau («Eine richtige Vogelscheuche!», und er grinst, als er das denkt), die Familie mit den drei Kindern, die Eis essen, der Mann auf der Bank, der wie ein arbeitsloser Kellner aussieht, die Frau im schwarzen Kleid mit der Gratiszeitung weiter drüben (wer liest denn schon bei einer solchen Kulisse?), dann die Frau mit dem Kinderwagen, die, wie es aussieht, auf jemanden wartet. Sie alle filmt er, später würde er sich die Bilder in Ruhe noch einmal anschauen.

Als Marguerite Duval in ihrem beigen Mantel vom Parkplatz zum Rheinfall hinunterschreitet, auf Jean-Pierre und Linda gestützt, scheint die Zeit für einen Moment stillzustehen. Pietro Soldini dreht sich langsam um und lässt die Kamera sinken, der Kellner Giancarlo auf der Bank hebt den Kopf, die Frau im schwarzen Kleid lässt ihre Gratiszeitung sinken, Steff, der von den Parkplätzen kommt, bleibt stehen, und Margrittli, Freddy und Felix erstarren.

Nur kurz dauert dieser Moment, höchstens so lange wie der Flügelschlag einer Schwalbe.

Dann ist es vorbei. «Kommst du?» Jean-Pierre drückt den Unterarm von Marguerite, und sie gehen auf die Brücke zu, die zum Restaurant und zur Bootsanlegestelle führt.

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