Angie

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»Na prima!«, wieder lachten wir und die Passanten blickten zu uns hinab.

Manche schüttelten den Kopf, andere gingen ohne eine Reaktion weiter. Melanie und ich störten weder die einen noch die anderen.

Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, verließen wir den Platz vor der Hauswand und zogen uns an unseren Lieblingsplatz zurück.

Den großen Mülltonnen hinter dem Einkaufsmarkt.

Zuvor kauften wir uns jeder noch ein Eis.

Dann setzten wir uns auf die großen, silbernen Container und genossen die Wärme, die von dem in der Sonne aufgewärmten Blech ausging. Von hier aus konnte man die lange Zufahrt zum Einkaufsmarkt, bis vor zur Straße einsehen. Dabei beobachten, wie viele Autos auf den Parkplatz vor den Markt fuhren und wie die Kunden in den Markt rasten. Gleichzeitig hatte man von hier aus einen herrlichen Blick auf die rückwärtigen Höfe, der angrenzenden Häuser, in denen viele Freunde von uns wohnten. Fast in jedem Hof waren wir schon gewesen und keiner wäre es wert gewesen, sich wirklich daran zurück zu erinnern. Die Häuser waren alt, verkommen und die dunklen Steineinfassungen der Höfe halb verfallen. Außerdem gab es dort im Moment nichts zu sehen.

In den Hinterhöfen herrschte absolute Stille.

Jeder versuchte irgendwie der Sonne zu entkommen und aus diesem Grund, verließen die Erwachsenen ihre Häuser im Moment nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Darum war es hier, bei den Mülltonnen, so schön ruhig und an diesen heißen Tagen, unser Lieblingsplatz. Auch wenn er sich, zu unserem Leidwesen, bei den Jugendlichen immer größerer Beliebtheit erfreute.

Es war unser Platz.

Melanie und ich hatten ihn entdeckt.

Ich besuchte die letzte Klasse, einer langen, für mich fast unendlich scheinenden Realschuletappe. Eine Ehrenrunde hatte ich gedreht, und so wie es aussah schaffte ich im nächsten Jahr meinen Abschluss. Vermutlich betete meine Mutter jede Nacht darum, dass ich trotz meiner vielen Fehltage, den Abschluss machen würde und wenigstens dieses Martyrium ein Ende fand.

Melanie war schon ein Jahr weiter, hatte letztes Jahr die Schule mit dem Abschluss verlassen. Eine Lehre begonnen, die sie aber vor einigen Wochen abgebrochen hatte. Die unzähligen Streitereien und Schikanen ihres Ausbilders, hatten sie an einen Punkt getrieben, an dem sie ihm mitten im Laden eine geknallt hatte, worauf ihr fristlos gekündigt wurde.

Was soll’s!

Verkäuferin wollte sie sowieso nicht lernen. Alten Weibern, bis ans Ende ihrer Tage, in ihre BH‘s helfen, war nicht gerade die Erfüllung ihres Lebens gewesen und weit entfernt von den Träumen einer siebzehnjährigen.

Jetzt war sie erst mal wieder auf der Suche. Hatte viel Zeit und würde den ganzen Sommer über mit mir abhängen.

Schließlich standen die Sommerferien an.

Nach einer Weile des Schweigens sagte ich: »Wenn wir noch mal wetten, dann laufe ich nicht wieder als Nutte rum!«

Dabei knabberte ich an meinem Eis herum.

»War doch lustig!«, lachte Mel.

»Nimm dich lieber vor Donald Herb in acht.«, warnte ich sie und schob dabei ein großes, abgebissenes Stück des Schokoladenrandes, mit der linken Hand in den Mund. »Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen, als du ihm zugerufen hast?«

»Er ist ein Arschloch.«

»Ein hirnloses Arschloch sogar, aber genau das macht ihn so gefährlich!«

Melanie nickte und war sich durchaus der Gefahr bewusst, die sie mit ihrer Schreierei herauf beschworen hatte. Aber es war ihr egal.

Schließlich ging es um ihre Freundin.

Die einzige Person, der sie grenzenlos vertraute und der sie alles erzählte.

Donald sollte sich gefälligst in Acht nehmen!

Angeblich war er früher mal ein echter Schläger gewesen, doch die Zeiten waren wohl lange vorbei. Mit seinem Schmierbauch und seinem abstoßenden Äußeren, konnte er höchstens noch alte Menschen und kleine Kinder einschüchtern.

»Wie wäre es mit einer neuen Wette?«, fragte sie mich schließlich.

Ich warf den abgenagten Eisstiel achtlos auf den Boden und schaute dabei zu, wie er im Dreck landete. Dann sagte ich: »Um was wetten wir jetzt?«

»Wir zählen wieder Autos!«

»Ich setz mich hier nicht wieder hin und zähle die Autos, um darauf zu wetten, das wievielte ein rotes ist!«, rief ich gelangweilt. »Beim letzten Versuch durfte ich mit Pomps über die Straße laufen.«

Melanie lachte wieder. »War aber echt lustig.«

»Hör auf!«, ich gab ihr einen freundschaftlichen Stoß in die Seite. »So beschissen habe ich mich noch nie gefühlt!«

Vorne an der Straße hörte man das abrupte Bremsen eines Autos, gefolgt von einem schrillen Reifenquietschen und dann wurde gehupt. Vermutlich war wieder jemand vom Supermarkt Parkplatz, in die Hauptstraße eingebogen, ohne die Vorfahrt zu beachten.

Ich verfolgte es nur beiläufig. Gedanken versunken schaute ich auf die Rücklichter eines Autos, das halb in der Straße stand und halb in der Ausfahrt.

Am liebsten wäre ich jetzt abgehauen!

Weg von dieser Mülltonne und raus aus der Stadt.

Mit Melanie natürlich!

Mit ihr und ihren Ideen, die verrückt genug waren, um sich durchzuschlagen.

Doch so würde es nie sein!

Melanie würde nachher wieder heimgehen und auch ich würde zu späterer Stunde in meinem Zimmer sitzen und über all das nachdenken, was ich heute hätte machen können und von dem ich nichts unternommen hatte. Mein Leben war irgendwie wie eine zäh dahin fließende Masse. Dick und träge und man konnte schon vorher sehen, wohin sie floss.

Und sollte sie aus der Bahn gleiten, war genug Zeit, sie zurück zu drücken. In die richtige Spur und zwar von denen, die ihren weiteren Verlauf bestimmten. Menschen, wie meine Mutter, Phillip….

Wäre doch bloß auch Melanie dabei, dann wüsste ich wenigstens, dass ich irgendwann, an einem halbwegs vernünftigen Ziel ankommen würde.

Melanie ging es da schon besser. Ihre Mutter ließ sie machen, was sie wollte. Gab ihr alle Freiheiten und akzeptierte, was sie tat, auch wenn es nicht immer richtig war.

»Der Supermarkt macht zu!«, hörte ich sie plötzlich sagen und kehrte aus meinen Gedanken zurück, in die Realität.

»Schon so spät?«, fragte ich abwesend.

»Ich hol schnell noch was!«, Melanie sprang von dem Container und rannte den Gang vor. Um die Ecke, wo sie aus meinem Blickfeld verschwand.

Nach einer Weile kam sie mit einer Tüte Chips zurück.

Dazu hatte sie eine Flasche Cola gekauft.

Beides stellte sie auf den oberen Rand des Containers und krabbelte dann selbst wieder hinauf. Wir öffneten die Tüte und die Flasche und beobachteten dabei die Menschen, die nach und nach ihre Einkäufe zu ihren Autos brachten.

Manche von ihnen kamen sogar hierher, um sich der Verpackungen zu entledigen, die sie schon auf dem Parkplatz von ihren Einkäufen abgerissen hatten.

Kisten von Elektrogeräten, Schuhkartons und so weiter.

Dann warfen sie uns einen freundlichen Blick zu, oder schauten bewusst nicht nach oben.

Idioten eben, wie es hier viele gab.

So verging die Zeit.

Es wurde schon dunkel, als sich Melanie und ich auf den Heimweg machten.

Der Supermarkt hatte schon lange zu gemacht und nachdem Melanie mit mir auch noch die letzte, noch so kleine Unwichtigkeit besprochen hatte und es mittlerweile fast zweiundzwanzig Uhr geworden war, drängte ich darauf, endlich heim zu kommen.

Wir verließen unseren Platz auf den Mülltonnen, gingen den langen Hinterhof entlang, bis vor zur Straße, wo wir uns trennten. Melanies Wohnung lag von hier aus, in entgegen gesetzter Richtung.

Zu blöd.

So musste von hier aus, jeder für sich alleine weitergehen.

Ich hatte es dabei einfach.

Mein Häuserblock lag kaum drei Straßen weiter, in Richtung Innenstadt.

Ein angenehmer Spaziergang. Die Luft war noch warm und die Straßenlampen beleuchteten die Gehwege.

Je näher ich der Innenstadt kam, mit den breiten Fußgängerzonen, desto belebter wurde wieder der Gehweg. Die Menschen spazierten an den geschlossenen Geschäften vorbei und boten mir eine innere Sicherheit, die mich ohne Angst und in aller Ruhe, durch die Straßen schlendern ließ.

Ich wendete mich nochmals kurz um und sah weit hinten Melanie, die um die Ecke einer Häuserfront verschwand und so aus meinem Blickfeld.

Dann ging ich etwas schneller. Es war zeit nach hause zu kommen.

Melanie fühlte sich alleine auf dem Weg nach Hause.

Gerne wäre sie mit mir in die andere Richtung gegangen, doch dann wäre sie nie nach Hause gekommen.

In ihrer rechten Hand hielt sie die Schuhe, die sie sich von ihrer Mutter ausgeborgt hatte und ließ sie mit jedem Schritt vor und zurück schwingen. Während sie in der anderen Hand, die Tasche trug, die ich getragen hatte.

Tragen musste.

Schließlich hatte ich die Wette verloren.

Bei dem Gedanken an diese Wette, musste sie schmunzeln. Sie entsprach genau dem Blödsinn, den wir beide gerne auslebten und warum auch nicht?

Wir waren beide jung und voller Hoffnungen auf ein besseres Leben.

Die Straße wurde hier etwas enger und die großen Lampen warfen kaum noch Licht in diese Verengung, die auf beiden Seiten von Hausvorbauten begrenzt wurde.

Plötzlich zuckte Melanie zusammen.

Eine Hand legte sich auf ihre linke Schulter und hielt sie unsanft fest.

Melanie drehte sich um und schaute in das Gesicht von Donald Herb.

Sein alkoholisierter Atem schlug ihr entgegen, wie ein böser Dunst, der auf sie zuflog und sich in ihrer Nase festbiss.

»Wie geht’s denn so?«, fragte er spöttisch und packte das Mädchen so fest am Oberarm, dass Melanie schmerzerfüllt ihr Gesicht verzog. Gelähmt vor Angst, starrte sie ihn an und versuchte den Schmerz zu unterdrücken, um ihm nicht die Genugtuung zu geben, dass er ihr wehtat.

 

Donald zog an ihrem Arm, drückte sie nach hinten, wo eine Tür aufflog und er sie mit einem brutalen Ruck, in einen Hausflur stieß.

Melanie war sprachlos. Unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Der Lichtschalter klackte, die Lampe flammte auf. Melanie blinzelte und sah neben Donald seinen Freund Reiner stehen. Der Geruch seiner Füße zog über den Boden hinweg, auf den Melanie gefallen war und stieg langsam in ihre Nase. Seine grinsende Fratze starrte sie an, als wollte er sich jeden Moment auf sie stürzten.

Melanie sah die Schuhe, die sie in der Hand getragen hatte, vorne im Eingang liegen und die Tasche, war direkt vor Reiners Füße gefallen.

Angeekelt erhob sie sich und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand.

»Gar keine so große Klappe wie heute Mittag!«, fauchte Donald sie an.

»Was wollen sie?«, stotterte Melanie, die langsam wieder ihre Sprache fand.

»Nur mit dir reden«, wimmerte Don, der Melanies ängstlichen Unterton in ihrer Stimme bemerkt hatte.

»Lassen sie uns einfach in ruhe.«, verlangte Melanie und schluckte.

»Das will ich aber nicht!«, wimmerte Donald weiter und seine alkoholisierte Stimme klang dabei übertrieben hoch. Gespielt hysterisch.

»Sie haben meine Freundin erniedrigt!«

»Erniedrigt!«, rief Donald laut. Seine Stimme hatte plötzlich jeden Anflug von Verspieltheit verlosen. Er schaute dabei zu seinem Freund, der über sein schmales Gesicht grinste und und sich sein fettiges Haar mit der Hand zurück strich.

»Wie könnte man zwei Schlampen wie euch erniedrigen?«, fragte Donald Melanie.

Sie sah ihn nur schweigend an.

»Na wie denn?«, wiederholte er seine Frage und sein Alkohol getränkter Atem, zog direkt in Melanies Nase.

»Ich weiß es nicht!«, versuchte sie sich zu verteidigen. Während ihre Stimme zitterte und ihr Puls raste.

»Ihr seid kleine Schlampen! Mehr nicht. Ihr seid schon ganz unten!«, dabei fuhr er ihr, mit seiner speckigen Hand über die Wange, so dass Melanie anfing zu weinen.

Als er ihre Tränen sah, hielt er inne und sein speckiges Gesicht fing an zu Grinsen. Es schien ihm zu gefallen, das Melanie vor Angst zusammenbrach. Doch dann verschwand sein Grinsen und mit einem Mal, holte er aus und schlug ihr ins Gesicht, so dass sie wieder zu Boden fiel.

»Sieh nur Reiner! Sie ist ganz unten!«, rief er dabei und Reiner trank einen Schluck, aus einer Flasche, die er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte und die er erst jetzt wieder hervor holte. Er nahm einen langen Schluck und gab die Flasche dann an Donald, der ebenfalls trank.

Den Rest des Inhaltes, kippte er über Melanie aus.

Der Geruch von Alkohol war plötzlich überall und sie spürte, wie ihre Angst umschlug in Panik. Am liebsten hätte sie geschrien. Doch Donald hätte vermutlich die Scheiße aus ihr heraus geprügelt, so wie er sich gerne ausdrückte, wenn sie dies getan hätte.

Die beiden Männer waren betrunken und es schien ihr das Beste zu sein, sich einfach nur still zu verhalten. Doch Donald sah das anders. In seinem durch Alkohol gestärkten Dämmerzustand, fühlte er sich plötzlich zurückversetzt, in seine alten Tage, als er noch der König der Straße gewesen war. Damals hätte er diese kleine Nutte zertreten wie eine Ameise. Sie zerquetscht und jetzt lag sie vor ihm. Hilflos und klein, während er die Oberhand besaß. Sein Gesicht fing an zu grinsen und er fing an, auf das Mädchen einzutreten.

Immer und immer wieder.

Seine Tritte lösten in Melanie qualvolle Schmerzen aus, während sie einfach nur dalag und versuchte, sich mit Armen und Händen zu schützen. Doch er trat immer wieder auf sie ein und immer wieder an eine andere Stelle.

Melanie krümmte sich. Sie versuchte nicht zu schreien, um Donalds Zorn nicht noch weiter zu steigern.

Doch Donald war wie in Rage und trat weiter zu. Immer und immer wieder. Er trat so lange und so fest, auf das am Boden liegende Mädchen ein, bis ihr Körper fast taub war und jeder weitere Tritt die Schmerzen in ihrem Körper nicht weiter steigern konnte. Sein Lachen klang so weit entfernt und die Schmerzen in ihrem Körper fühlten sich so kalt an.

Mit einem Mal hörte sie Reiner sagen: »Komm lass gut ein!«

Seine Stimme klang ängstlich und zögernd, während Melanie regungslos auf dem Boden lag und weinte.

»Was ist los mit dir!«, fauchte Donald seinen Kumpanen an. »Hast du Angst ich trete die Kleine tot?«

»Hör auf!«, Reiner zog Donald von dem Mädchen weg. Raus aus dem Flur, hinaus auf die Straße, wo Melanie ihn immer noch herum schreien hörte. Dann fiel die Tür zu.

Von da an war es still im Hausflur.

Melanie fürchtete sich. Sie hatte Angst, dass jeden Moment die Tür wieder aufgehen könnte, doch nichts geschah. Die Stimmen der beiden Männer entfernten sich und mit einem Mal, klackte es im Hausflur und das Licht schaltete sich ab.

Melanie wollte nicht aufstehen.

Sie lag auf dem Boden, das Gesicht in ihre Hände gegraben und wartete und hoffte. Hoffte, dass Donald nicht noch mal zurückkommen würde. Sie atmete den Gestank des Alkohols ein, der sich langsam durch ihre Kleidung fraß und wartete, bis es ganz still geworden war.

Irgendwann ging das Licht wieder an und Melanie zuckte erschrocken zusammen.

Wie lange sie schon dort lag konnte sie nicht sagen, aber plötzlich fasste sie jemand am Arm an und fragte: »Was ist denn mit ihnen los?«

Melanie sah auf und blickte in das Gesicht einer älteren Frau, die in den Hausflur gekommen war.

Ihr Puls raste und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, dann verlor sie das Bewusstsein.

Als ich an diesem Abend in unsere Wohnung kam, ging ich, wie so oft, zuerst in die Küche.

Aus dem Schlafzimmer kam das stetig ansteigende Stöhnen meiner Mutter, die sich kurz vor ihrem sexuellen Höhepunkt zu befinden schien und dies mit ihrem Stöhnen bereits ankündigte. So als wollte sie dabei noch etwas sagen, doch mehr kam nicht aus ihrem Mund heraus.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging in mein Zimmer.

Das musste ich nicht hören!

Ich schloss die Tür und schaltete den Fernseher ein, der neben meinem Bett stand. Der Ton aus dem Fernseher überlagerte die Geräusche von nebenan, auch wenn das Quietschen des Bettes immer noch zu hören war.

Warum verdammt, musste sie auch ausgerechnet mit diesem Typen ficken, fragte ich mich genervt.

Schließlich war er ein Arschloch. Er hasste mich, hasste diese Wohnung und er verabscheute meine Mutter. Eigentlich war er nur bei ihr, weil er nicht genug Geld besaß, um auf eigenen Beinen zu stehen und meine Mutter, viel zu naiv war, um das zu erkennen.

Mein Gott!

Durchfuhr es mich, während ich auf meinem Bett saß und mit dem Rücken an der Wand lehnte. Wenn eine sechzehnjährige das erkennen konnte, warum nicht eine erwachsene Frau?

Endlich wurde es ruhig.

Scheinbar hatte der Spaß seinen Höhepunkt erreicht.

Ich schaltete den Fernseher wieder ab, ohne darauf zu achten, was da überhaupt in der Glotze lief und suchte nach der Fernbedienung zu meiner kleinen Stereoanlage.

Das Einzige, das mir von meinem Vater noch geblieben war.

Die Anlage stand auf einem schmalen Regal an der Stirnseite meines Bettes. Direkt dort, wo ich für gewöhnlich mit dem Kopf schlief. Zumindest immer dann, wenn ich mit einer inneren Zufriedenheit ins Bett ging und dabei noch etwas Musik hören wollte.

Ansonsten schlief ich mit dem Kopf in die andere Richtung, als Zeichen dafür, dass sich meine Stimmung im Keller befand.

Vielleicht etwas verrückt, doch es half. Das war meine Art, mit den beschissenen Tagen in meinem Leben umzugehen. Leider gab es davon mehr als genug.

Endlich fand ich die kleine Fernbedienung, in der Kante meines Bettes, direkt zwischen Matratze und Holzgestell. Nahm sie in die Hand und richtete sie über das Bett hinweg auf die Anlage. Die Lichter an dem Gerät flackerten auf und Musik fing an den Raum zu erfüllen.

Mein Zimmer war einfach aber gemütlich.

Zwei Kiefernschränke, an der gegenüberliegenden Wand vom Bett.

Am Fenster, ein großer Schreibtisch, auf den mein Vater damals eine noch größere Arbeitsplatte gelegt hatte, weil ich einfach viel Platz benötigte.

Hier auf dieser Seite ein Bett, eine Kommode und viele Poster an den Wänden. Die Wände selbst waren alle in einem hellen pink gehalten, doch bei den vielen Postern sah man nicht mehr viel davon.

Abgerundet wurde das Ganze noch von den unzähligen Stofftieren auf den Schränken und in den Regalen. Erinnerungen an schönere Zeiten.

Eben ein typisches Jugendzimmer.

Angela Müllers kleine Welt.

Plötzlich klopfte es an der Tür und eine dumpfe Stimme fragte durch das Holz: »Angie bist du da?«

Dann ging die Tür auf und meine Mutter steckte den Kopf ins Zimmer.

»Die Musik ist an!«, sagte ich genervt. »Was denkst du, wo ich dann bin?«

»Entschuldige«, sagte meine Mutter kurz. Sie hatte ebenfalls dunkelbraunes Haar, wie ich. Hatte es sich aber kurz schneiden lassen. Sportlich sollte es aussehen, so wie sie gesagt hatte. Für mich sah sie so einfach nur alt aus.

Sportlich war anders!

Jedenfalls steckte ihr Kopf, mit der sportlichen Frisur, im Türrahmen, während sie einen rosa Bademantel trug, unter dem sie vermutlich nichts weiter an hatte. Und so wie sie den Kopf hinein steckte, hatte sie auch nicht vor, weiter ins Zimmer zu kommen.

»Wir essen gleich!«, bemerkte sie.

»Jetzt noch, ich hab eigentlich keinen Hunger.«

»Ja jetzt noch. Wir mussten ja auf die junge Dame warten.«, antwortete sie vorwurfsvoll und warf einen ausgedehnten Blick ins Zimmer, bevor sie verschwand.

Wie so oft, ließ sie dabei die Tür offen und wie immer, stand ich dann verärgert auf, schlug mit der flachen Hand gegen das Türblatt, so dass es mit einem lauten Knall zuflog. Dabei brannte meist meine Handfläche so unsäglich, dass ich mich noch mehr über meine Mutter zu ärgern begann.

Aber diesmal nicht.

Diesmal hatte die Hand, die Tür so getroffen, dass ich kaum einen Schmerz verspürte, als ich mich wieder aufs Bett setzte.

Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis meine Mutter, mich in die Küche rief.

Sie würde dann mit Phillip im Bett essen, während ich alleine vor dem Küchenfenster sitzen würde und mir aus den Resten, ein paar Brote schmieren durfte. Mehr würde sie um die Uhrzeit sowieso nicht mehr auftischen und natürlich musste ich danach auch alles wegräumen.

Wie praktisch Kinder doch sein konnten!

Heute war wieder so ein Tag, an dem ich mit dem Kopf in die andere Richtung schlafen würde!

Irgendwie hatte ich es den ganzen Tag über gespürt.

Ich legte den Kopf gegen die Wand und lauschte der Musik.

Was für eine blöde Wette, dachte ich.

Dann rief meine Mutter aus der Küche.

Am nächsten Morgen traf mich die Nachricht, von Melanies angeblichem Unfall, wie ein Schock.

Melanies Mutter hatte noch vor der Schule bei uns angerufen und mir mitgeteilt, dass Melanie im Krankenhaus liege. Prellungen am ganzen Körper und im Gesicht. Dazu eine Platzwunde, über dem rechten Auge, die mit zwei Stichen genäht werden musste.

Als ich die Nachricht in mich aufnahm und Melanies Mutter den Versuch unternahm einige Geschehnisse, des gestrigen Tages bei mir zu hinterfragen, konnte ich nur noch an Donald Herb denken.

Niemand sonst wäre für diesen Überfall in Frage gekommen. Doch aus den Fragen, die mir Melanies Mutter stellte, konnte ich erkennen, dass Melanie nichts davon erzählt hatte. Vermutlich gab es dafür einen guten Grund und solange ich diesen nicht kannte, entschloss ich mich dazu, die Geschichte mit Donald Herb für mich zu behalten. Was dazu führte, das ich während des Telefonats, jede Frage, die mir Melanies Mutter stellte, geschickt zu umgehen versuchte. Doch als sie dann auflegte, konnte ich fühlen, dass sie ahnte, dass ich ihr etwas verheimlichte.

Aber ich wollte nichts sagen. Wenigstens so lange, bis ich mit Mel gesprochen hatte.

Darum versuchte ich mir äußerlich nichts anmerken zu lassen. Auch wenn ich innerlich voller Zorn und Verachtung gegen Donald Herb war.

Plötzlich bedauerte ich, dass ich Melanie gestern Abend nicht nachhause begleitet hatte.

 

Die Vorstellung, was sie alles durchgemacht haben musste, während dieses fette Schwein sie misshandelt hatte, löste in mir eine ganze Welle von Hass und Wut aus, die nach und nach immer mehr anstieg.

Je länger ich über das, was gestern geschehen war nachdachte, umso mehr verstand ich, wie offensichtlich es gewesen war, dass er einer von uns beiden auflauern würde. Melanie hatte ihn schließlich bloßgestellt. Eine Blamage, die ein Säuferhirn, wie Donald Herb es besaß, nicht so ohne weiteres wegstecken konnte.

Als ich den Hörer zurück in die Ladeschale gestellt hatte, versuchte ich meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich bereits heute Vormittag ins Krankenhaus müsse.

Doch meine Mutter sprach ein klares Verbot aus!

Auch nachdem ich immer wieder versucht hatte, sie umzustimmen. Schließlich hatte ich überlegt, ob ich die Schule einfach sausen lassen sollte.

Blau machen!

Aber bei den vielen Fehltagen, die ich bereits auf meinem Konto verbuchte und der Absprache, die meine Mutter mit meinem Klassenlehrer getroffen hatte, machte ich mich doch lieber auf den Weg in die Schule.

Wenn nicht, hätte mein Klassenlehrer bei meiner Mutter angerufen und sie darüber informieren, dass ich nicht in der Schule gewesen war und dann würde meine Mutter wieder Hausarrest verhängen. Eine der drakonischen Bestrafungen, die zu meinem Wohl sein sollten und die mich dazu bewegen sollten, zukünftig überlegter und erwachsener vorzugehen.

Meine Mutter liebte solche Maßnahmen.

Bei dem Gedanken daran, könnte ich ihn schon riechen. Den muffigen Gestank der Wohnung, den ich dann wieder für mindestens eine Woche einatmen durfte.

Bäh!

Also ging ich heute lieber zur Schule

Ein langer und beschwerlicher Weg, auf dem mich hundert Gedanken quälten und ich mich immer wieder daran erinnerte, was mit meiner Freundin geschehen war. Hinzu kam mein Gewissen, das mich immer wieder davon zu überzeugen versuchte, doch lieber ins Krankenhaus zu fahren.

Schließlich ging ich an der Bushaltestelle vorbei, wo meine Entschlossenheit, in die Schule zu gehen, auf eine harte Probe gestellt wurde.

Nein!

Ich blieb fest entschlossen.

Besuchen konnte ich Melanie auch noch am Nachmittag.

Vielleicht kam sie ja dann sogar schon wieder raus!

Schließlich versuchte ich, nicht mehr an Melanie zu denken, sondern vielmehr an ihren Täter.

Was ging nur in einem Menschen wie Donald Herb vor, das er ein siebzehnjähriges Mädchen krankenhausreif schlagen musste und das, obwohl sie ihm eigentlich überhaupt nichts getan hatte. Außer das sie ihn seine eigene Medizin hatte schmecken lassen. Er hatte mir hinterher gerufen und mich auf der Straße lächerlich gemacht. Mel hatte lediglich den Spieß herum gedreht, indem sie Donald angeschnauzt hatte und plötzlich alle Passanten nicht mehr mich, sondern ihn angeschaut hatten.

War das ein Grund, ihr aufzulauern und sie zusammen zu schlagen?

Wieder war es da!

Das aufgewühlte Gefühl, und mit ihm die Vorstellung, was alles passiert sein konnte!

Ich musste fast weinen.

Plötzlich aber schweiften meine Gedanken ab. Denn mir schoss eine furchtbare Vorstellung durch den Kopf.

Was, wenn er auch hinter mir her war?

Gestern hätte er mich nicht abfangen können!

Der Weg vom Supermarkt zu mir nach Hause, war zu belebt und zu gut ausgeleuchtet.

Ein Glück für mich.

Dennoch war ich der Auslöser gewesen, der zu der ganzen Streiterei geführt hatte.

Darüber hatte ich noch überhaupt nicht nachgedacht und plötzlich ertappte ich mich dabei, wie ich einen kurzen Blick zurück über meine Schulter warf. Nur für einen kurzen Moment. Um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte.

Das Ganze war so verrückt!

Beruhig dich, sagte ich zu mir und ging weiter.

Die Allee entlang und direkt auf die Schule zu, die am Ende der Straße stand.

Ein altes Backsteingebäude, wie es abstoßender kaum hätte sein können.

Mit kleinen Fenstern, die sich an dem vierstöckigen Gebäude, in langen Reihen über die Hausfronten erstreckten. Darauf befand sich ein hässliches schwarzes Dach, in dem sich noch weitere Klassenräume befanden, die aber nur genutzt wurden, wenn Bedarf bestand. Angeblich gab es auf dieser Etage Probleme mit den Brandschutzbestimmungen. Ich hatte das ganze Gerede darüber nicht verstanden.

Es war mir auch ziemlich egal gewesen. Auch als es damals hieß, unser Klassensaal sollte dort oben hin verlegt werden.

Die Etage war genauso unattraktiv und abstoßend, wie alle anderen.

Die Wände voll mit Graffiti, die Treppen alt und ausgetreten. Das Geländer nur noch ein spärlicher Überrest dessen, was es einmal gewesen war, ein breiter Holzlauf, der durch unzählige Schnitzereien, mehr oder weniger verunstaltet worden war und schließlich an vielen Stellen aufplatzte.

Die Toiletten waren alt und verdreckt, so wie die ganzen Waschräume und die Turnhalle, die sich auf der Rückseite des Gebäudes anschloss.

Die ganze Schule hätte eine Renovierung dringend nötig gehabt, doch ich würde das nicht mehr erleben.

Noch ein Jahr!

Wenn alles gut ging.

Ich erreichte das große Durchgangstor, das zum Schulhof führte und schaute nochmals zurück.

Hinter mir nur Kinder!

Alles okay, dann ging ich hinein.

Nach der Schule fuhr ich ins Krankenhaus.

Mit dem Bus durch die Stadt, vorbei am Stadtpark, dem Geschäftsviertel und auf der anderen Seite der Stadt den Hügel hinauf, bis zum höchsten Punkt, wo das Krankenhaus lag.

Ein kalter, unangenehm wirkender Neubau. Weiß und abstoßend.

Die silbernen Jalousien blinken freundlich in der Sonne und verbargen, was sich dahinter befand. Schmerz und gähnende Langeweile. Ich hasste den Bau alleine deshalb schon, weil ich bisher noch nichts Gutes in ihm erlebt hatte. Hier gab es nur Spritzen, Pflaster und langwierige Untersuchungen.

Nichts von dem, war je angenehm gewesen.

Besucht hatte mich hier noch nie jemand. Und obwohl ich heute als Besucher entspannt sein sollte, ergriff mich das gleiche beklemmende Gefühl im Magen, das ich jedes Mal gespürt hatte, wenn ich als Patient hier gewesen war. Mit diesem Gefühl, lief ich durch die Doppeltür am Eingang und betrat den großen Eingangsbereich des Gebäudes.

Dort links, ging es in die Ambulanz.

Den Weg kannte ich genau!

Geradeaus, dann zweimal rechts und noch mal links, dort lag ein kleiner Warteraum, in dem man Platz nehmen musste. Bevor man dann irgendwann aufgerufen wurde.

Wie viele Stunden ich dort schon mit irgendwelchen Wehwehchen verbracht hatte, konnte ich überhaupt nicht sagen.

Jetzt musste ich mich aber neu orientieren.

Station 3, hatte Melanies Mutter gesagt.

Ich überlegte und suchte nach einer Beschilderung, die mir den Weg zu den Stationen weisen würde, als plötzlich jemand zu mir sagte: »Kann ich dir helfen?«

Erschrocken fuhr ich herum.

Eine Frau in einem weißen Kittel stand neben mir und schaute mich an.

Nichts Ungewöhnliches in einem Krankenhaus und doch starrte ich sie an, wie eine geisterhafte Erscheinung. Schluckte dabei verlegen. Fast schuldbewusst. Heute schien ich derart schreckhaft zu sein, das ich anfing, mich über mich selbst zu wundern. Doch in Wahrheit gab es nichts, worüber ich mich wundern musste. Nur das sich der Gedanke, dass Donald Herb auch mir auflauern könnte, so intensiv in meinem Gehirn festgebissen hatte, das ich bei jeder Kleinigkeit aufschreckte. Darum sagte ich etwas irritiert: »Ich suche die Station 3. Kinderstation, dort liegt meine Freundin Melanie Schneider!«

»Dort entlang und dann mit dem Aufzug in die dritte Etage. Wenn du den Aufzug verlässt, siehst du direkt die Tür der Station.«

»Danke!«, bedankte ich mich und folgte der Beschreibung, die die Frau mir gegeben hatte. Ich betrat den Aufzug, fuhr hinauf und verließ ihn wieder, in der dritten Etage.

Wie die Frau mir erklärt hatte, sah ich sofort die Tür zur Station und ging darauf zu.

Ich öffnete sie und ging hinein.

Ein langer, gelber Korridor mit vielen Zimmertüren. Bilder von Kindern aus aller Welt, hingen an den Wänden. Dazwischen einige selbst angefertigte Gemälde und Basteleien.

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