Kaspar - Die Reise nach Feuerland

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Sebastian atmete tief durch.

»Was willst du denn von mir, Großvater?«, fragte Sebastian zurückhaltend.

»Komm, setz dich neben mich, Sebastian«, sagte Großvater, als er sich auf den Boden niederließ.

Es war bereits spät am Nachmittag und die dunklen Wolken waren gänzlich verschwunden.

Sebastian warf einen kurzen Blick hinüber zu seinen Freunden, die nahe bei der Holzhütte kreisförmig beisammenstanden und vermutlich diskutierten, welche Szene sie vom Drachenjäger spielen sollten.

»Also, Sebastian«, fing Großvater an, »was ist los mit dir? Du wirkst so traurig.«

»Nichts, Großvater.«

»Du kannst mir nichts vormachen, Sebastian, dafür kenne ich dich schon zu lange«, rügte Großvater ihn. »Ist es wegen deinem Vater?«

Sebastian schaute zu Boden.

»Also, wegen deinem Vater«, stellte Großvater Joe fest. »Mir ist es ja nicht entgangen, wie ihr euch heute verabschiedet habt«, erklärte Großvater, »sieh mich an, Sebastian!«

Sebastian hob den Blick.

»Ich habe recht, stimmt's, Sebastian?«, sagte Großvater.

Sebastian nickte schweigend.

»Worüber habt ihr euch denn gestritten?«, wollte Großvater wissen.

»Wir streiten uns dauernd«, fing Sebastian an, und dann sagte er mit finsterer Miene: »Immerzu muss ich lernen und wenn ich im Garten spielen will, verbietet mir mein Vater das – meistens. Süßigkeiten gibt es nur an Feiertagen – und die sind selten, wie du sicherlich weißt, Großvater. Wenn ich Löcher im Garten grabe, bekomme ich Stubenarrest von meinem Vater aufgebrummt.«

»Löcher im Garten hat nicht jeder gern, Sebastian«, lächelte Großvater, »aber das ist natürlich keine Entschuldigung dafür, dass dein Vater dir Stubenarrest gibt, wenn du sie gräbst«, versuchte er ernst zu bleiben.

»Das Schlimmste ist jedoch, dass mein Vater dauernd etwas an mir auszusetzen hat. Meinem Bruder lässt er alles durchgehen. Ich habe das Gefühl, dass er ihn mehr liebt als mich. Wenn mein Bruder mal etwas anstellt, sagt mein Vater nichts – mir dagegen droht er mit Stubenarrest. Meinem Bruder hört er immer aufmerksam zu – zu mir sagt er immer bloß: RUHE!«, erzählte Sebastian mit trauriger Stimme.

Sebastian und Großvater sahen sich für einen Moment schweigsam an.

»Lass den Kopf nicht hängen, Sebastian. Das kriegen wir schon wieder hin – dass mit deinem Vater und dir«, sagte Großvater und legte ihm kurz den Arm auf die Schulter. »Ganz bestimmt kriegen wir das wieder hin, Sebastian, du wirst sehen.«

Sebastian wandte den Blick von Großvater ab. Er sah zu, wie seine Freunde spielten. Niko war mit wenigen Schritten wieder bei Lars und hielt ihn mit einem Stock in Schach, der ein Schwert darstellen sollte. Noch hatte Niko sich zurückgehalten, doch nun trat er einen Schritt vor und zückte sein Schwert, dass er quer über dem Rücken trug.

»Willst du mit deinen Freunden spielen?«, fragte Großvater.

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Ich habe doch die besten Freunde der Welt«, fing Sebastian an. »Oder siehst du das anders, Großvater?«

»Es gibt nichts, was ich an deinen Freunden auszusetzen hätte.«

»Ehrlich nicht?«

»Nein. Wie kommst du denn darauf, Sebastian? Hat dein Vater etwa ...«

»Nicht mein Vater«, unterbrach Sebastian, »aber Herr Henry Titus.«

»Dein Mathelehrer?«, stutzte Großvater.

Sebastian nickte.

»Was hat er denn zu dir gesagt?«

»Er meinte, dass Niko und Lars kein guter Umgang für mich wären, und ihm ist rätselhaft, warum Juana sich mit den beiden abgibt. Dann hat Herr Titus noch etwas gesagt, aber ich habe ihm nicht weiter zugehört.«

»Ich glaube, da sollte deine Mutter mal ein Wörtchen mit Herrn Titus reden«, schüttelte Großvater den Kopf. »Das geht ja nicht, dass Herr Titus dir so etwas sagt.«

Sebastian schüttete sein Herz weiter aus, und Großvater Joe hörte ihm geduldig zu.

»Ich finde, dass Niko ein guter Freund ist, Großvater. Er hat immer gute Sprüche auf Lager, über die alle lachen müssen – na ja, manchmal sind sie etwas derbe, das muss ich zugeben, Großvater, und besonders deftige Sprüche lässt er los, wenn er sich über Herrn Titus lustig macht. Ob er Niko deswegen nicht leiden kann?«, Sebastian holte kurz Luft, bevor er fortfuhr: »Aber auf Niko kann man sich immer verlassen, und wenn eine Situation brenzlig wird, lässt er einen nicht im Stich. Was meinst du dazu, Großvater?«

Großvater hob die Schultern.

»Also, meiner Meinung nach ist Niko ganz in Ordnung. Er ist ein bisschen wüst und redselig, und seine Sprüche sind manchmal etwas ausgefallen«, lächelte Großvater, »aber das ist noch lange kein Grund, dass er ein schlechter Umgang für dich wäre. Und warum, denkst du, hat Herr Titus etwas gegen Lars?«

»Das weiß ich auch nicht, Großvater. Lars und Niko albern oft zusammen herum – vielleicht ist es das, was den Lehrer stört? Aber Lars tut keiner Fliege etwas zu Leide, und das im wahrsten Sinne des Wortes«, schmunzelte Sebastian.

Großvater horchte.

»Niko ärgert sich oft über die dämlichen Fliegen, wenn sie im Sommer um seinen Kopf herum surren. Dann schlägt er nach ihnen, und Lars tritt dazwischen und schimpft Niko lautstark aus, dass er die armen Dinger in Ruhe lassen soll.«

Großvater lächelte wieder.

Sebastian kratzte sich am Kinn und war überzeugt, dass Lars ein wirklich guter Freund war.

»Lars ist völlig in Ordnung, Sebastian«, bestätigte Großvater ihm.

Sebastian sah kurz zu Juana, bevor er zu Großvater sagte: »Der Lehrer ist sehr angetan von Juanas außergewöhnlicher Begabung. Sie ist aufgeweckt, ehrgeizig und überaus klug. Sie ist die Lieblingsschülerin von Herrn Titus, und deswegen, vermute ich, mag er es nicht, wenn sie sich mit Niko und Lars abgibt.«

»Denk mal nicht so viel darüber nach, was der Lehrer zu dir gesagt hat, Sebastian. Ich denke, er liegt völlig falsch mit seinen Behauptungen«, erklärte Großvater.

»Herr Titus ist ein fieser und hinterhältiger Mensch, und er ist launisch und eingebildet – er weiß doch überhaupt nicht, was Freunde sind«, schimpfte Sebastian.

»Es sind Ferien, Sebastian. Denk nicht an Herrn Titus, sondern spiel lieber mit deinen Freunden«, sagte Großvater.

»Und in der Schule habe ich oft Ärger mit dem blöden Victor Bainbridge«, seufzte Sebastian. »Ach, Großvater, ich wünschte, ich könnte mein Leben neu beginnen.«

»Sebastian, Sebastian«, sagte Großvater, »über all die Dinge solltest du dir nicht so viele Gedanken machen«, schüttelte er den Kopf und fuhr behutsam fort: »Und was deinen Vater betrifft, Sebastian, er ist kein schlechter Mensch. Er hat im Augenblick so einiges um die Ohren. Er wird schon wieder zur Vernunft kommen.« Großvater nahm eine kurze Pfeife zu Hand und stopfte sie mit dem Tabak, den er von seinem Sohn geschenkt bekommen hatte. »Aber ich werde mit deinem Vater mal über die Dinge reden, die er dir antut.« Großvater zündete mit einem langen Streichholz die Pfeife an.

»Ehrlich«, kam es geradewegs von Sebastian heraus.

Großvater nickte und zog an der Pfeife.

»Ja«, sagte er nickend, »wenn dein Vater dich abholen kommt, rede ich mit ihm.«

»Danke, Großvater.«

»Das mache ich gerne für dich, Sebastian.«

Großvater zog wieder an der Pfeife.

»Aber du musst mir dafür etwas versprechen, ...«

»Was denn, Großvater?«, unterbrach Sebastian.

»... dass du – solange du hier bei mir in Ferien bist – nicht an deinen Vater oder an Herrn Titus denkst.«

»Darauf kannst du dich verlassen, Großvater.«

Großvater hob den Blick, als Juana laut brüllte.

»Sie spielt einen Drachen«, erklärte Sebastian.

»Das muss aber ein gewaltiger Drache sein«, lächelte Großvater.

»In der Schule bin ich für die anderen ein Loser«, erklärte Sebastian.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Wie gesagt, mit Victor Bainbridge und seiner Gang liege ich oft im Streit. Mit ihnen kann ich es nicht aufnehmen.«

»Deswegen bist du doch noch lange kein Loser«, sagte Großvater auf Sebastians deprimierten Blick hin. »Du hast gute Freunde, auf die du dich stets verlassen kannst Das ist viel mehr Wert, als irgendwelche Nichtsnutze in einer Keilerei besiegen zu wollen.«

»Das schon, Großvater, aber ...«

»Glaube mir, Sebastian«, unterbrach Großvater ihn, »das ist sehr viel mehr Wert.«

Sebastian horchte, als Großvater an der Pfeife zog.

»Mit Victor wirst du eines Tages auch noch fertig werden«, war Großvater überzeugt.

»Victor ist zu stark für mich, Großvater.«

»Das glaube ich nicht, Sebastian«, sagte Großvater und beugte sich ein Stück vor, »du bist klug und flink – Stärke hat nicht unbedingt etwas mit Kraft zu tun, Sebastian. Und jetzt kein Wort mehr über diesem Victor – genieße die Ferien, Sebastian.«

»Wenn ich doch nur neu anfangen könnte – in der Schule, meine ich, dann ...«

»Warum willst du neu anfangen, Sebastian?«

Sebastian schwieg.

»Es ist nie zu spät, um sich zu ändern. Jeder Mensch hat sein Schicksal in der eigenen Hand – du auch, Sebastian. Du kannst deine Sterne neu ordnen, glaube mir.«

»Aber wie?«

»Du musst es nur ganz fest wollen, Sebastian, dann wird dir das auch gelingen.«

Sebastian blickte erschrocken auf, als Lars einen entsetzlich lauten Schrei abließ.

»Niko hat ihn mit dem Schwert erwischt«, lachte Sebastian.

»Hoffentlich hat er sich nicht weh getan.« Großvater blickte erschrocken, als Lars zu Boden fiel.

»Ach, nein, Großvater, Lars stirbt immer so laut.«

Großvater zog an der Pfeife.

 

»Ich merke schon, du willst jetzt zu deinen Freunden«, sagte Großvater. »Na, geh schon, wir reden ein anderes mal weiter.«

Sebastian ging, dann wandte er sich noch einmal seinem Großvater zu und sagte: »Das ich mein Schicksal selbst in der Hand habe und die Sterne neu ordnen kann, das gefällt mir, Großvater.«

Sebastian rannte zu seinen Freunden.

Erdgeistgeflüster

Es scherte Sebastian nicht weiter, dass Niko düster wie eine Gewitterwolke dreinblickte. Soll Niko nur sauer auf ihn sein. Er war im Recht, als er Niko das Toast aus der Hand riss und ihn aufforderte nach draußen zu kommen, um mit ihm und seinen Freunden an so einem schönen sonnigen Morgen Drachenjäger zu spielen.

Was sollte er von Niko, der Essen über alles liebt, auch anderes erwarten? Nein, ihn wunderte es nicht, dass Niko in der Küche saß und sich lieber den Bauch vollstopfen wollte.

»Wie lange willst du eigentlich noch hier herumsitzen?«, fragte Sebastian in einem derart nörgelnden Ton, dass Niko ihm die Antwort verweigerte.

»Oh, dem edlen Herrn hat's wohl die Sprache verschlagen«, stichelte Sebastian.

»Elender Krötenfurz!«, empörte sich Niko nun.

»Was soll das heißen?«, knurrte Sebastian.

»Lass mich einfach in Ruhe!«, fuhr Niko ihn an. »Ich hab nämlich noch Hunger und werde mir noch ein oder zwei Toast reinziehen – und ich habe nicht die geringste Lust, mit dir zu reden.«

Laut schnaufend stand Sebastian vor Niko, der am Küchentisch saß und sich ein neues Toast machte. Die Sonnenstrahlen fielen durch das breite Küchenfenster, auf die hochglanzpolierten Marmorfliesen des Küchenbodens. Der Raum schien in dem hellen Licht förmlich zu ertrinken. Das schöne Wetter würdigte Niko jedoch mit keinem Blick – er nahm das Toast und schmierte dick Erdbeermarmelade drauf.

»Anstatt den King zu spielen, solltest du die Marmelade mal probieren, hat nämlich dein Großvater selber gemacht«, sagte Niko barsch.

Lars kam in die Küche gestürmt.

»Wann kommst du endlich?«, fragte er ungeduldig an Niko gewandt.

»Siehst nicht, das ich noch esse?« Niko war wütend. »Hast wohl die Tomaten beim Frühstück auf deine Augen gelegt, anstatt zu essen.«

»Was hält dich denn hier fest?«, fragte Lars.

»Selbst gemachte Erdbeermarmelade von Joe«, sagte Niko.

Lars schwang sich auf den Stuhl neben Niko.

»Die muss ich auch mal probieren.«

»Soll ich dir ein Toast machen?«, fragte Niko.

»Gerne«, nickte Lars.

Sebastian stand daneben und seine Miene verfinsterte sich zunehmend, als nun auch noch Juana hereinkam, sich an den Tisch setzte und nach einem Marmeladentoast fragte, verließ Sebastian wütend die Küche, blieb jedoch vor der Küchentür stehen, so dass ihn seine Freunde nicht sehen konnten.

»Was hat er denn?«, hörte Sebastian Juana fragen.

»Keine Ahnung«, sagte Niko laut, so dass es Sebastian hören musste, »er stänkert schon den ganzen Morgen herum.«

»Vielleicht hat er schlecht geschlafen«, kam es von Lars.

»Du verhältst dich Sebastian gegenüber aber auch nicht gerade kameradschaftlich, Niko«, ermahnte Juana ihn. »Wir warten schon eine ganze Stunde auf dich.«

»Na und! Ihr hättet ja auch ohne mich anfangen können Drachenjäger zu spielen.«

»Das wollten wir ja auch«, sagte Juana, »aber Sebastian wollte, dass du dabei bist, wenn wir Drachenjäger spielen.«

»Ehrlich«, staunte Niko, »das wollte er?«

»Ja«, kam es von Lars.

»Ist ja gut, Freunde, jetzt seht mich nicht so an, als ob ich ein Monster wäre«, sagte Niko, »ich esse noch schnell das Toast, dann können wir zu Sebastian gehen.«

Sebastian öffnete die Terrassentür und ging in den Garten. Am Springbrunnen blieb Sebastian stehen und beobachtete wie silberne Fische ihre Bahn zogen. Sebastian hörte, wie von den Johannisbeersträuchern, die etwas abseits von den mächtigen Buchen standen, etliche Vögel zwitscherten. Neben dem Springbrunnen standen bunte Tontöpfe mit roten Blumen. Als sich sein Blick auf die Terrassentür richtete, strahlte er plötzlich.

»Na, endlich«, flüsterte Sebastian, »das wurde aber auch Zeit«, sagte er laut, als seine Freunde auf ihn zukamen.

»Wie soll ich das nun wieder verstehen?«, fragte Niko genervt.

Sebastian zögerte.

»Ähm ... tja, also ... ich bin froh, dass ihr hier seid«, stotterte Sebastian.

»Kommt, lasst uns zu den Bäumen gehen«, schlug Juana vor.

Es war ein sonniger Ferientag und die Bäume spendeten einen angenehmen Schatten in der grellen Sonne.

»Also, was machen wir jetzt?«, fragte Lars.

»Wir können Drachenjäger spielen«, antwortete Sebastian, »natürlich nur, wenn du Lust dazu hast, Niko«, sagte er.

Nikos finstere Miene hellte sich langsam auf. Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Von mir aus.«

»Von mir aus auch«, kam es von Lars.

Sebastian blickte zu Juana.

»Ich bin einverstanden«, sagte sie.

Sebastian strahlte.

Niko trat einen Schritt auf Sebastian zu. Er sprach mit einer dunklen Stimme: »Wir Drachenjäger können auf das Wohlwollen des einfachen Volkes getrost verzichten. Im Kriegsfall müssen wir vier fest zusammenhalten – egal, ob wir unterschiedliche Vorstellungen vom Tagesablauf haben, die alten Zwistigkeiten müssen wir hintenanstellen. In ganz Phantasien kennen die Helden jetzt nur ein Ziel: Nabor, der finstere Drache – er muss mit allen Mitteln aufgehalten werden.«

»Das war gut gesprochen«, schwärmte Sebastian.

»Na, klar, war es das«, Niko war sehr von sich überzeugt und auch von seiner Kunst zu schauspielern.

»Ich schlage vor, dass wir in den Schuppen gehen, uns die Sachen holen, die wir zum Drachenjägerspiel brauchen, und endlich anfangen Nabor zu jagen ...«, Ungeduld lag in Lars Stimme, »... bevor der bösartige Drache das nächste Dorf angreift und zerstört.« Lars fieberte dem Spiel entgegen.

»Ich bin Sareg«, sagte Sebastian. »Lars spielt Lox und Juana ist Taschin.« Sebastian überlegte. »Du kannst Itzaban, den Zauberer, spielen.«

»Wirklich?« Nikos Pausbacken blähten sich vor Freude auf.

»Na, endlich, geht es los«, Lars war Feuer und Flamme, als Sebastian das Schwert erhob.

***

»Lox, sieh nur, die Drachen, sie fliegen hoch! Wir werden wieder einen schönen Tag bekommen«, sagte Sebastian, der im Drachenjägerspiel den Sareg mimte und gerade sein imaginäres Pferd – einen alten Besenstiel – zügelte.

Lox schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Sareg«, sagte er und sah in dessen tiefblaue Augen. »Ich frage mich oft, mein Freund«, kam es von Lox, der die rechte Augenbraue hochzog, »ob du schon mal den blauen Himmel von dort oben gesehen hast?«

»Steig auf dein Pferd, Lox!«, befahl Sareg. »Wir sollten weiter, bevor uns die Drachen entdecken!«

Lox stieg auf sein imaginäres Pferd und trieb es an. Mit federndem Trab ritt er den lichten Waldweg entlang.

Sareg folgte Lox lachend mit seinem Pferd. »Weißt du, was dein Fehler ist, mein Freund?«, rief Sareg ihm nach. »Du bist nur verrückt aufs Kämpfen.«

»Sieh, dort oben auf dem Felsvorsprung.« Lox deutete gen Norden. »Taschin wartet bereits auf uns.«

Als sie endlich die Gesteinsformation erreicht hatten, begrüßte ihre Gefährtin sie mit Ungeduld.

»Da seid ihr ja endlich, ihr Raufbolde. Kommt, lasst uns den Drachen folgen«, sagte sie und ritt voraus.

Als Sebastian mit seinem imaginärem Pferd im Schatten einer Buche stand, wirbelte ein kühler Wind sein Haar durcheinander. Er glaubte einen leisen Gesang zu hören.

»In der Tiefe der Erde, dort ruhe ich,

in der Tiefe der Erde, dort findest du mich.

Suche nach mir, bitte suche mich.

In der Tiefe der Erde, dort findest du mich.«

***

»Sebastian, Sebastian – alles in Ordnung mit dir?«, fragte Juana besorgt und rüttelte an seiner Schulter.

»Was ist los?« Lars schaute in Sebastians starre Augen.

»Woher kommt der Wind?« Niko begann zu frösteln.

»Fürchte dich nicht vor mir, Kaspar«, flüsterte eine sanfte, männliche Stimme, die nur Sebastian hören konnte. Sie schien schon etwas älter zu sein. Sebastian sah sich im Garten um. Sein Blick wirkte hektisch. Als der Wind nachließ, hörte er wieder dieselbe Stimme: »Komm zu mir, Kaspar! Komm!«

»Mein Name ist Sebastian«, sagte er trotzig und rief dann aus voller Kehle: »Wohin soll ich kommen?«

Ein kurze Stille trat ein.

»Folge deinem Schicksal, Sebastian.« Das waren die letzten Worte, die ihm zu Ohren kamen.

»Was ist mit dir, Sebastian?« Juana machte sich Sorgen.

»Unheimlich«, bemerkte Lars.

Niko sagte keinen Ton.

Sebastian wusste nicht, warum er sich der Holzhütte zuwandte. Es war nur so ein Gefühl, das ihn plötzlich überkam.

»Folgt mir!«, sagte er hastig.

»Sollten wir nicht deinen Großvater rufen, Sebastian?«, fragte Lars ein wenig ängstlich.

Niko winkte ab. »Damit Joe uns den Spaß verdirbt?«

»Joe wird uns bestimmt nicht den Spaß verderben«, antwortete Lars.

»Und wenn doch?«, sagte Niko.

Lars schwieg.

Sebastians Stimme klang heiser vor Anspannung, als er langsam die Tür der Holzhütte öffnete und hineinging. »Hallo, ist da jemand?«

Juana folgte ihm. Dicht hinter Juana folgte Niko. Lars zögerte, bevor er mit einem Satz in die Holzhütte sprang. Die Tür fiel ins Schloss und Juana fuhr erschrocken herum.

»'tschuldigung«, sagte Lars.

Nur wenige Sonnenstrahlen drangen durch die staubigen, kleinen Fenster und tauchten den Raum in dämmriges Licht. Ein kühler Windzug streifte Sebastians Nacken, dann hörte er ein Knurren.

»Ich habe Hunger«, sagte Niko und fasste sich an seinen dicken Bauch.

»Wie kann man jetzt nur ans Essen denken?«, warf Lars ihm vor.

Sebastians Blick wanderte schnell von rechts nach links und wieder zurück. Er spürte, dass sie nicht mehr alleine waren. Irgendetwas war bei ihnen, das eine Eiseskälte ausstrahlte und Reif auf den Fensterscheiben hinterließ.

»Hast du etwas gesehen?«, fragte Juana und stupste ihn an.

»Nein«, sagte Sebastian.

Ein Schatten streifte ihn und irgendetwas berührte seinen linken Arm.

»Was war das?« Sebastian zuckte zusammen.

»Was war was?«, fragte Lars ängstlich.

Dann fiel Sebastians Blick auf zwei Nachttische aus edlem, poliertem Holz, die früher einmal im Schlafzimmer seiner Großeltern gestanden haben. Er ging in die Hocke und griff nach dem kleinen, runden Knauf der obersten Schublade und zog sie langsam heraus.

»Hast du was gefunden?« Nikos Vorfreude etwas kostbares zu finden wuchs.

»Nein«, sagte Sebastian enttäuscht. »Sie ist leer.«

Er öffnete die zweite, dann die dritte Schublade, aber außer Staub und toten Spinnen fand er nichts. Auch das zweite Nachtschränkchen war leer. Plötzlich hörte er wieder diesen seltsamen Gesang.

»Hört ihr das auch?», fragte Sebastian.

»Ich höre nichts«, sagte Juana.

»Ich auch nicht«, sagte Niko und zuckte mit den Schultern.

Lars schwieg. Seine Storchbeine zitterten vor Angst.

»Etwas Besonderes wartet von dir entdeckt zu werden, Kaspar«, flüsterte eine ältere, männliche Stimme.

Sebastian ärgerte sich, weil die Stimme ihn wieder Kaspar nannte und fragte dann missgelaunt: »Warum sagst du mir nicht, was ich wissen muss?«

»Mit wem redest du?«, fragte Juana verstört.

»Mit dieser seltsamen Stimme«, antwortete Sebastian und sah, wie Juana die Mundwinkel verzog.

Lars seufzte, als Sebastian erneut auf den Nachttisch seines Großvaters zuging.

»Wir sollten gehen!«, sagte Lars deutlich.

Doch Sebastian zog hastig die Schubladen ganz heraus, polternd legte er sie beiseite.

»Ich hätte schwören können, ich finde hier etwas«, sagte er und griff in den Nachtisch hinein. »Was ist denn das?« Er zog ein mysteriöses Pergament hervor, das in der hinteren Ecke geklebt hatte.

»Wow, eine Schatzkarte«, staunte Lars.

»Sei nicht albern, Lars«, schmunzelte Juana. »Was soll schon groß auf diesem kleinen Fetzen geschrieben stehen?«

Sebastians Hände zitterten leicht vor Aufregung, als er das Pergament auseinander faltete, auf dem mit Bleistift zehn Bäume gezeichnet waren.

 

»30 und 15«, hauchte Juana und deutete auf die Stelle der Zeichnung, auf der sie die Zahlen bemerkt hatte. Einen kleinen Pfeil hatte dort jemand neben einen der Bäume gekritzelt.

»Wir haben eine Schatzkarte gefunden«, jubelte Sebastian.

»Ich hatte also doch recht, es ist ...«, kam es von Lars, doch Juana fuhr ihm energisch ins Wort. »Wir sollten herausfinden, was die Zahlen zu bedeuten haben.«

»Sollten wir nicht zu deinem Großvater ...«, wandte Lars ein, doch nun fuhr ihm Niko dazwischen. »Ein großes Abenteuer wartet auf uns«, sagte er mit leuchtenden Augen.

»Und was machen wir jetzt?«, leierte Lars die Worte herunter. Er war verärgert, weil niemand ihm zuhören wollte.

»Wir gehen zum Haus und besprechen alles in Ruhe«, sagte Sebastian, »aber kein Wort zu Großvater!«, ermahnte er Lars.

»Warum willst du deinem Großvater denn nichts von unserem Fund erzählen?«, fragte Juana und ihre strahlend grünen Augen waren ganz schmal.

»Ich will dieses Geheimnis selber lösen«, Sebastian hielt das Pergament seinen Freunden vor, »dann werde ich natürlich zu Großvater gehen und ihm alles erzählen.«

»Ich bin auch dafür, dass wir alleine auf Schatzsuche gehen sollten«, stand Niko Sebastian bei.

»Okay«, platzte Juana heraus, »ich bin auch dafür.«

Sebastian blickte zu Lars.

»Ist schon gut, Freunde, ich will mich euch ja nicht in den Weg stellen«, sagte Lars ein wenig mürrisch, »suchen wir halt alleine den Schatz.«

Der Mittag nahte und die Sonne stand hoch am Himmel.

»Was mag es wohl zum Mittagessen geben?«, fragte Niko.

»Du denkst immer nur ans Essen«, bekam er von Lars zu hören.

Niko verzog trotzig die Mundwinkel und wollte gerade die passende Antwort geben, als Sebastian beide ermahnte, dass sie mit den kindlichen Streitereien endlich aufhören sollten.

***

Seit einer geschlagenen Stunde saßen Sebastian und seine Freunde nun schon auf der Terrasse, bei Kürbissaft und einer Schüssel voll Süßigkeiten. Die große Fensterfront hinter ihnen glitzerte im Sonnenlicht. Niko griff gierig nach einem Schokoladenriegel.

»Die Bäume auf der Zeichnung sind eindeutig die aus eurem Garten«, stellte Juana fest. »Aber welcher von denen könnte der mit dem Pfeil sein?«

»Gib mir mal die Karte, Sebastian!«, befahl Juana.

Sie hatte eine Idee und drehte die Karte im Kreis, dann sagte sie ohne Luft zu holen: »So ist es richtig. Dort drüben, das muss der Baum sein.«

»Wie kommst du denn darauf?« Lars staunte darüber, dass Juana für alles immer Einfälle und Lösungen parat hatte.

»Das ist der kleinste Baum auf der Zeichnung, und dort drüben steht er. Hier, Sebastian, deine Schatzkarte«, sagte sie.

»Kommt mit, Freunde!« Sebastian ging zielsicher auf die Bäume zu. Ihre mächtigen Wurzeln hatten sich im Laufe der Jahrzehnte so im Erdreich festgekrallt, dass selbst ein mächtiger Sturm sie nicht hätte herausreißen können.

Lars entfernte sich etwas von der Gruppe, so dass er einen Blick hoch zu den Baumkronen werfen konnte.

»Die Zahlen könnten eine Entfernungsangabe bedeuten«, rätselte Juana.

Sebastian nickte.

Lars ging zur Gruppe zurück. »Sieht wie ein ganz normaler Baum aus.«

Niko hatte inzwischen die Buche umrundet und stand wieder bei seinen Freunden.

»Der Pfeil deutet die Richtung an, in die wir gehen müssen«, davon war Sebastian fest überzeugt, »also gehen wir mal 30 Schritte dort entlang.«

»Eins, zwei, drei ...« Lars zählte laut mit.

»Und warum gerade dort entlang?«, fragte Juana.

»Es sieht so aus, als ob der Pfeil dort hin zeigen würde«, antwortete Sebastian, »und da die 30 an erster Stelle steht, dachte ich ...«

»Ein Versuch ist es Wert«, unterbrach Juana und zählte laut mit. »Fünf, sechs, sieben ... dreißig.«

»Was könnte die Zahl 15 bedeuten? Etwa weitere 15 Schritte?«, fragte Niko, als sie das Ziel erreicht hatten.

»Aber in welcher Richtung?« Juana zog nachdenklich die rechte Augenbraue hoch.

»Oder müssen wir hier 15 Meter tief graben?« Lars hielt sich den Bauch vor Lachen fest.

Über ihnen zogen Wolken dahin, die ab und zu die Sonne verdeckten.

»Sei nicht so kindisch, Lars!«, wandte Juana ein.

»Hey, was soll das nun schon wieder heißen, Miss Erwachsen? Ich bin schließlich noch ein Kind –«, ärgerte sich Lars, »– und als solches darf ich kindisch sein!«

»Du bist zwölf Jahre, Lars«, sagte Juana mit aller Deutlichkeit, »denk mal darüber nach. Es wird langsam Zeit erwachsen zu werden.«

»Hört endlich auf, euch dauernd zu streiten! Das bringt uns nicht weiter!«, ermahnte Sebastian die beiden.

»Das musst du gerade sagen«, fuhr Juana Sebastian an, »seit wir bei deinem Großvater sind, streitest du dich dauernd mit Niko.«

»Hey, Freunde, hört jetzt auf«, stellte sich Niko zwischen Sebastian und Juana, »wir sollten zusammenhalten und den Schatz finden.«

Lars sah, wie ein großer Vogelschwarm vorüberzog. »Hoffentlich kommt da nichts heruntergefallen«, stöhnte er.

Niko lachte laut, als Vogelkot Lars nur um Zentimeter verfehlte.

»Ja, äußerst witzig, Dicker!«, fuhr Lars ihn an.

Niko ignorierte die Beleidigung.

»So, suchen wir nun weiter, oder was?«, fragte Niko.

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sagte Sebastian: »Klar doch! Vorschläge?«

Niko lächelte ihm zu.

»Wir könnten uns ja mal das Buch von deinem Großvater ansehen«, schlug Juana an Sebastian gewandt vor. »Vielleicht ist dort ein Hinweis versteckt.«

Sebastian verschluckte fast die Wörter, als er sagte: »Wie kommen wir bloß an Großvater vorbei?«

»Frag ihn doch einfach, ob wir uns mal das Turmzimmer ansehen dürfen«, schlug Niko vor.

»Und wenn er mit uns kommt, was machen wir dann?«, fragte Sebastian.

»Dann müssen wir uns etwas anderes überlegen«, sagte Juana.

***

»Und?«, fragte Juana Sebastian, sobald sie das Wohnzimmer verlassen hatten. Großvater Joe blieb Pfeife rauchend im Schaukelstuhl zurück. »Bist du nun zufrieden mit deinem Großvater?«

»Hätte ich nicht gedacht –«, sagte Lars an Sebastian gewandt, »– dass dein Großvater uns alleine in sein Schreibzimmer lassen würde.«

Sebastian und seine Freunde hasteten die alte Holztreppe im turmähnlichen Anbau hinauf, die unter dem Ansturm ächzte, als würde sie unendlichen Qualen ausgesetzt. Als sie endlich das Schreibzimmer betraten, überfielen Sebastian Erinnerungen. Juana, Lars und Niko sahen sich sofort im Zimmer um, während Sebastian zu Großvaters Schreibtisch ging. Ein Regal mit alten, verstaubten Büchern zog Juana in den Bann, während Niko und Lars in einer Holztruhe wühlten. Sebastian rückte den alten Holzstuhl zurecht und ließ sich vor Großvaters Schreibtisch nieder. Er sah aus dem Fenster und dachte an seinen Großvater, der oftmals zu ihm gesagt hatte: ›Gute Geschichten entstehen nicht über Nacht. Sie müssen erlebt und dann geschrieben werden.‹ Was hatte sein Großvater ihm damit sagen wollen? Sebastian erinnerte sich an die Abenteuerspiele mit seinem Großvater. Als Aron der Sucher, streifte sein Großvater mit ihm als Sohn Sareg durch den Garten, der nun für sie den Todeswald in der Anderen-Welt darstellte, auf der Suche nach einem sagenumwobenen Schatz.

»Träumst du etwa?«, vernahm Sebastian Juanas Stimme von rechts.

»Ich habe an meinen Großvater gedacht«, flüsterte er.

»Habt ihr schon etwas gefunden?«, rief Niko.

»Nein«, rief Sebastian zurück.

Lars wandte sich von der Truhe ab und stöberte im Bücherregal. Plötzlich jauchzte er: »Ich habe das Buch von deinem Großvater gefunden.«

Sebastian schien für einen kurzen Augenblick wie versteinert.

»Hast du nicht gehört, Sebastian?«, fuhr Juana ihn an.

»Doch, natürlich«, sagte Sebastian schnell.

Als Lars links von Sebastian stand, reichte er ihm das Buch. Sebastian nahm es erwartungsvoll entgegen und schlug die erste Seite auf.

»Wow«, staunte Niko, der hinter Sebastian stand und ihm über die Schulter lugte, »was für eine schöne Schrift.«

Sebastian blätterte langsam die Seiten um.

»Gibt es ein Inhaltsverzeichnis?«, fragte Juana.

Sebastian blätterte weiter. »Nein«, sagte er, als die erste Geschichte anfing.

Sebastian versuchte, eine angenehme Position auf dem Stuhl zu finden.

»Das kann ja noch Stunden dauern, bis wir das Buch durchgeblättert haben«, stöhnte Lars Sebastian ins Ohr.

»Na und, was soll's? Hast du keine Zeit?«, sagte Niko.

»Na, klar, ich schon, aber was ist mit Sebastians Großvater«, brummte Lars, »er wird uns bestimmt nicht solange hier oben alleine lassen.«

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