Kaspar - Die Reise nach Feuerland

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»Er wollte ein Geschenk für deinen Großvater einpacken und es schon mal in den Wagen legen«, antwortete Juana.

»Wo bleibt denn Niko?«, fragte Sebastian ungeduldig und blickte kurz zum Kaminsims, auf dem eine Uhr stand. »Er ist wieder zu spät«, fluchte er.

»Na ja, du kennst doch Niko«, sagte Lars und winkte ab, »der sitzt bestimmt noch am Frühstückstisch und stopft sich voll.«

Sebastian blickte aus dem Fenster.

»Scheiß Wetter, was?«, bekam er von Lars zu hören.

»Lars! Bitte!«, ermahnte Juana ihn.

»'tschuldigung, gnädige Frau«, lächelte Lars Juana an. »Ich meinte, das Wetter sieht nicht besonders gut aus«, Lars hob die Nase empor und alberte herum: »Der Himmel ist wolkenverhangen und es sieht nach Regen aus, gnädige Frau.«

»Lass den Blödsinn, Lars«, fauchte Juana.

»Ja, schon gut, Juana, will heute keinen Ärger mit dir bekommen«, winkte Lars ab.

Der Himmel hing voller dunkler Wolken, die, wie es aussah, nur darauf warteten sich zu entladen, um die Erde mit Wasser zu überschwemmen. Kein einziger Sonnenstrahl drang durch die dichten Wolken und es wehte ein kalter Wind.

»Morgen soll das Wetter aber besser werden«, wandte Juana ein.

»Hoffentlich«, sagte Sebastian. »Verregnete Sommerferien wären nämlich blöde.«

Die Haustür stand weit offen, deshalb konnte Niko hereinspazieren, und er brüllte, als er ins Wohnzimmer trat: »Hallo, Freunde! Auf geht's in ein Ferienabenteuer.«

»Mensch, Scheiße, Niko«, fluchte Lars, der regelrecht in sich zusammenfuhr. »Ich hab mich vielleicht erschrocken.«

Sebastian und Juana erging es nicht anderes.

»Verdammt«, fluchte auch Juana.

»Schön dich zu sehen, Niko«, lächelte Sebastian.

»Na, wenigstens einer der sich freut, mich zu sehen«, brummte Niko.

Niko setzte die Tasche ab und schwang sich in den Sessel neben Lars. »Gemütlich«, sagte er und fasste mit beiden Händen auf die Armlehnen. »Captain James Kirk an Lieutenant Sulu, hören sie mich?«, sagte Niko im hektischen Ton und wandte sich Sebastian zu. »Lieutenant Sulu, bitte melden Sie sich, die Lage ist sehr ernst«, wiederholte Niko.

»Commander Scott, hören Sie mich?«, fragte Niko und sah zu Lars.

»Ja, hier ist Scotty, Captain, ich höre Sie klar und deutlich.«

»Wissen Sie, wo Lieutenant Sulu ist, Scotty?«

»Er arbeitet im Maschinenraum am Fluxkompensator«, sagte Lars mit verstellter Stimme.

Juana zog die Augenbrauen hoch.

»Fluxkompensator?«, sagte sie mit lehrerhaftem Blick. »Hast du da nicht etwas verwechselt, Lars? Ein Raumschiff fliegt mit Warpantrieb«, klärte sie ihn auf.

Niko verzog mürrisch die Mundwinkel.

»Ist doch völlig egal, Juana. Sei locker, es sind Ferien, und außerdem ist es doch nur ein Spiel«, wandte Niko ein.

Juana zuckte nur mit den Schultern.

»Ja, hier Lieutenant Sulu, ich höre Sie Captain«, grinste Sebastian, und Niko fuhr mit der rechten Hand über die Armlehne, so als ob er einige Regler am einstellen wäre.

»Tagchen, Mr. Addams«, schreckte Niko hoch und sprang mit einem Satz aus dem Sessel.

»Guten Morgen, Captain James Tiberius Kirk«, empfing William ihn, und dies war seit langer Zeit das erste Mal, das Sebastian seinen Vater lächeln sah.

»So, können wir los, Lieutenant Sulu?«, fragte William an seinen Sohn gewandt.

»Ja, Vater«, nickte Sebastian und fügte schnell hinzu: »Wir sind dann soweit.«

Juana stellte das Buch ins Regal zurück, Lars trank sein Glas aus, und Niko schnappte sich seine Tasche.

Sebastians Vater blickte hinüber zu Lars und sagte im ernsten Ton: »Commander Scotty, Sie können mir bei der Warp-Maschine helfen, es muss noch etwas Treibstoff nachgefüllt werden.«

»Jawohl, Sir«, grinste Lars.

Sebastian stand startklar im Flur. William hatte schon die Tür geöffnet, als er sich Sebastian zuwandte und ihn fragte: »Was ist los, Sohn? Hast du keine Lust mehr zu Großvater zu fahren?«

»Doch natürlich«, antwortete Sebastian verstört darüber, dass sein Vater gute Laune zu haben schien, »aber ich muss mich noch von Mutter verabschieden.«

Rebecca kam die Treppe herunter und blieb vor Sebastian stehen.

»Ich hab dich lieb, Mom«, sagte er.

Rebecca schloss ihn in die Arme und gab ihm einen Kuss.

»Ich dich auch, Sebastian. Ich wünsche dir und deinen Freunden viel Spaß in den Ferien«, sagte sie, »aber denke daran, dein Großvater ist schon zweiundsiebzig Jahre!«, ergänzte sie.

Sebastian nickte. »Wir werden artig sein, Mutter!«

»Die Jungs werden sich schon benehmen, Frau Addams«, kam es von Juana, »dafür werde ich schon sorgen!«

»Gut«, lächelte Rebecca, »dann bis bald, Sebastian.«

Endlich war es soweit. Sebastian und seine Freunde saßen im Van und warteten darauf, dass William endlich den Wagen startete. Als sie losfuhren, fielen die ersten Regentropfen vom Himmel herunter.

Eine Stunde Autofahrt lag vor ihnen.

***

William lenkte den Wagen durch den Stadtverkehr und nahm schließlich die Schnellstraße, die in nördlicher Richtung von London wegführte. In der Ferne blitzte es und Sekunden danach folgte ein gewaltiger Donner. Der Regen nahm zu.

»Falls das Wetter sich nicht bessert, Kinder, dann legen wir bei der nächsten Möglichkeit eine Pause ein«, schlug William vor.

Die Scheibenwischer liefen auf Höchstleistung, um die Wassermassen von der Windschutzscheibe zu beseitigen.

»Hier, Sebastian, nimm das Handy und ruf deine Mutter an! Bei diesem Wetter macht sie sich bestimmt schon sorgen.«

William wandte sich kurz Sebastian zu, der rechts auf dem Rücksitz neben Juana saß, und reichte ihm das Handy.

»Willst du ein Stück Schokolade, Juana?«, fragte Niko, der hinter Juana saß.

»Nein, danke.«

»Toll, so ein Van, man hat sooo vieeel Platz hier drin«, schwärmte Lars, wandte sich nach links Niko zu und nahm ihm das Stück Schokolade aus der Hand. »Danke«, sagte er kurz und stopfte sich die Schokolade schnell in den Mund.

William verließ die Schnellstraße und nahm die Landstraße, lenkte den Wagen durch eine tiefe Talsenke und bog auf der nächsten Höhe rechts ab. Die Baumkronen bewegten sich im heftigen Wind hin und her. Der starke Regen hatte zum Glück etwas nachgelassen.

Sebastian sah sich um, hinter ihnen tauchte ein Kleinbus auf, der Gas gab und bei dem Sauwetter zum Überholen ansetzte. Als der Kleinbus vorbeifuhr, schimpfte William lautstark: »Verdammter Idiot!«, und trat leicht auf die Bremsen. »So ein Bestusster ...« William schwieg.

Niko lachte, und Lars hob wutschnaubend die Hand: »Blöder-überheblicher-schwachsinniger-Sonntagsfahrer!«

»Also, Kinder«, fing William an, »es tut mir leid, das hätte ich eben nicht sagen sollen.«

»Sie hatten doch recht, Herr Addams«, sagte Niko, »bei so einem Wetter überholt man doch nicht.«

»Und das auch noch in einer leichten Kurve«, schimpfte Juana.

William verließ die Landstraße und bog in eine schmale Straße ein. In der Ferne tauchten die ersten Häuser auf. Durch das schlechte Wetter brannte in vielen Häusern Licht.

William lenkte den Wagen am Ortseingangsschild vorbei und schon bald passierten sie die ersten Häuser. Eine ältere Frau trat aus der Haustür heraus, an der Leine führte sie einen kleinen Hund.

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, was du jetzt sagen willst«, kam ihm Niko zuvor.

»Sei lieber still, Niko!«, ermahnte Juana ihn.

Niko zuckte mit den Schultern und brach noch ein Stück Schokolade von der Tafel ab. »Dann eben nicht«, sagte er kauend.

Dann bog William in eine Seitenstraße ein und endlich tauchte das Herrenhaus von Sebastians Großvater auf. Das rostige Gitter der großen Toreinfahrt stand weit offen. William lenkte den Wagen durch die Einfahrt und fuhr im Schritttempo die schmale Schotterstraße entlang, die direkt zum Haus führte. Der Regen hatte fast aufgehört.

»Super cooles Haus«, schwärmte Niko immer wieder, wenn er das alte Herrenhaus sah, das noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte.

»Ja, es ist wunderschön«, sagte William, »mein Vater hatte es extra für meine Mutter gekauft.«

»Er muss viel Kohle haben«, stellte Niko fest.

»Ja, das hat er. Ihm gehörte eine Kleiderfabrik«, erklärte William.

»Warum haben sie nicht dort gearbeitet?«, fragte Lars.

»Hey, Lars!«, sagte Juana.

»Ist schon gut, Juana«, kam es von William, »ich habe mich damals nicht sonderlich gut mit meinem Vater verstanden. Außerdem wollte ich studieren und hatte eigene Pläne für meine Zukunft. Na ja, so ist das im Leben. Es läuft nicht immer alles wie man es plant. Mein Vater hatte die Fabrik verkauft, als er in den Ruhestand ging. Damals ging es mir auch sehr gut, als ich noch eine Stelle als Ingenieur hatte.«

Sebastian hatte in diesem Moment Mitleid mit seinem Vater und erinnerte sich, wie sein Vater den Job verloren hatte und danach lange Zeit zu Hause gewesen war, bevor er endlich eine neue Stelle als Vertriebsmitarbeiter ergattern konnte. Die Firma, bei der sein Vater nun angestellt war, produzierte Staubsauger – die besten der Welt, sagte sein Vater immer dann, wenn er oder sein Bruder ihn nach seiner Arbeit fragten.

Sebastian blickte träumerisch aus dem Seitenfenster, auf die zehn mächtigen Buchen, die kreisförmig aus dem Boden wuchsen, und bei diesem Wetter auf ihn wirkten wie Ungetüme aus einer fernen Urzeit.

Es regnete jetzt nicht mehr. Die schweren Wolken lagen noch immer wie eine graue Decke über dem Himmel.

Die fünf kreisrunden, bunten Blumenbeete sahen etwas verwüstet aus. Sie erinnerten Sebastian daran, wie er immer am frühen Morgen aussah – mit unfrisiertem Haar.

 

Sebastians Blick fiel auf die Holzhütte, in der Großvater Gartengeräte, alte Möbel und sämtliches Zeug, das im Haus nicht mehr gebraucht wurde, verstaut hatte.

»Da ist ja unser Hauptquartier«, klopfte Niko Sebastian auf die Schulter und deutete auf die Holzhütte.

William parkte den Wagen unmittelbar vor dem Haus. Großvater stand mit seiner Pfeife unter dem Vordach vor der Haustür, das rechts und links von zwei runden, weißen Marmorsäulen gestützt wurde, und wartete bereits ungeduldig auf seinen Besuch.

»Hallo, Vater.« William ging auf ihn zu und umarmte ihn kurz.

»Hallo, mein Sohn«, sagte Großvater Joe, und seine Augen hatten etwas kindlich leuchtendes an sich, als er Sebastian und seine Freunde sah.

»Hier, das ist für dich, Joe.« William übergab ihm ein kleines Päckchen.

»Danke, mein Sohn.«

William schüttelte den Kopf. »Das Haus ist viel zu groß für dich, Vater. Warum ziehst du nicht in die Stadt?«, sagte er.

Großvater Joe verzog mürrisch das Gesicht. »Was soll ich in der Stadt? Hier ist mein Zuhause«, winkte er ab, »hier bin ich mit meiner Frau zusammen hingezogen und hier werde ich auch sterben«, brummte er, »wir sollten ins Haus gehen«, schlug Großvater vor, und sein Gesicht hellte sich wieder auf, als er Sebastian ansah.

»Es sind die vielen schönen Erinnerungen, die mich mit diesem Haus verbinden, William, das musst du verstehen. Ich habe hier schöne Dinge mit deiner Mutter erlebt – natürlich auch weniger schöne Dinge«, lächelte Großvater in sich hinein und ging voraus, direkt ins Wohnzimmer. »Ich werde meinen Lebensabend hier verbringen, William, und nichts auf der Welt kann mich davon umstimmen!«

»Ist schon gut, Vater. Ich will mich nicht mit dir streiten«, gab William nach.

»Das ist gut so, William«, sagte Großvater Joe lächelnd, »du würdest eh den Kürzeren ziehen.« Er zwinkerte Sebastian zu und zog an seiner Pfeife, die einen angenehm süßlichen Geruch im Raum verbreitete.

Großvater deutete auf den schweren Esstisch, der vor dem großen Fenster stand, durch das man einen herrlichen Blick auf die Terrasse und den Garten hatte.

»Ich habe eine Kanne Tee vorbereitet«, sagte Großvater, »und für euch, Kinder, habe ich Limonade gemacht.«

»Prima«, jubelte Niko, »deine Limonade ist nämlich super«, und schon hatte Niko sich auf einen der schweren Holzstühle niedergelassen.

»Niko!«, ermahnte Juana ihn mit einem strengen Blick. »Du hast wirklich kein Benehmen!«

»Setzt euch!«, sagte Großvater und legte die Pfeife beiseite. »Ich gehe und hole den Tee und die Limonade.«

»Warte, Vater, ich helfe dir.«

Großvater Joe und William gingen zusammen in die Küche.

»Geben Sie mir den Krug, Herr Addams«, sagte Juana, als William wieder zurückkam.

Juana schenkte die Limonade der Reihe nach ein, während Großvater die Teetassen auffüllte, bevor er das Päckchen von seinem Sohn öffnete.

»Danke dir, William«, freute sich Großvater Joe über das Geschenk, »das ist mein Lieblingstabak«, sagte er und stellte die Tabakdose auf den Tisch.

Niko griff in die Schüssel, die bis zum Rand mit Süßigkeiten gefüllt war. »Lecker«, schwärmte er, als er in einen Schokoladenriegel biss.

Lars schlürfte Limonade und Juana wollte einen Tee.

Im Nu war eine Stunde verflogen und Großvater Joe fragte: »Ich weiß, es ist schon etwas später geworden, aber möchtest du nicht zum Mittagessen bleiben, William?«

Sebastian fuhr erschrocken zusammen, als er die Frage von Großvater hörte. Doch zu seinem Glück sagte William: »Nein, danke, Joe, aber ich muss noch etwas für den Garten besorgen und will pünktlich zum Tee zu Hause sein.«

Sebastian atmete erleichtert auf.

»Aber, wenn ich Sebastian und seine Freunde wieder abholen komme, bringe ich Rebecca mit und wir können dann ja gemeinsam zu Abend essen«, schlug William vor.

»Das wäre schön«, sagte Großvater Joe und trank einen Schluck Tee. »Manuel kommt doch auch mit?«, fragte Großvater Joe. »Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.«

»Natürlich«, antwortete William und trank die Tasse aus. »So, jetzt muss ich aber fahren. Das Wetter sieht ja wieder besser aus.«

Die Wolkendecke riss an einigen Stellen auf und blauer Himmel kam zum Vorschein. Sonnenstrahlen fielen durch das große Fenster auf den Esstisch und legten einen hellen Lichtschein über den Boden, der aussah wie ein glänzender Teppich.

William schritt über den Lichtschein zur Tür. Großvater und die Kinder folgten ihm, in den breiten Flur, bis zur Haustür.

»Schade, dass du schon gehen musst«, sagte Großvater Joe und umarmte seinen Sohn zum Abschied.

»Bis bald, Vater«, sagte William und ließ ihn los.

Sebastian stand da wie versteinert und blickte zu seinem Vater auf. »Auf wiedersehen, Vater«, sagte er.

»Auf wiedersehen, mein Sohn.« Williams Blick wirkte unbeholfen.

William drehte Sebastian den Rücken zu und ging zum Wagen.

»Grüß Mutter von mir«, rief Sebastian ihm nach.

William wandte sich um.

»Ja, das werde ich tun.« Dann, aus heiterem Himmel, sagte William in einem schroffen Ton: »Und denk dran, Sebastian! Benimm dich bei deinem Großvater, sonst komme ich dich vorzeitig holen und es gibt Stubenarrest, für den Rest der Ferien!« Dann stieg William in den Wagen und fuhr die Schotterstraße zurück zum Tor.

»Hmmm«, kam es von Großvater Joe, der neben Sebastian stand. »Hast du Streit mit deinem Vater?«

»Ach, ja, das ist so eine Sache mit ihm und mir«, stotterte Sebastian. »In letzter Zeit habe ich dauernd Streit mit ihm«, gab Sebastian zu.

»Na, das wird sich bestimmt wieder legen«, wollte Großvater Joe ihn beruhigen und legte ihm dabei die Hand auf die Schulter. »Jetzt hast du erst einmal Ferien«, sagte Großvater freundlich. »Kommt, wir holen uns neue Limonade und Süßigkeiten aus der Küche und setzen uns auf die Terrasse. Was haltet ihr davon?«

»Klasse«, kam es von Niko. »Ich liebe Süßigkeiten vor dem Mittagessen.«

»Das sieht man dir an«, sagte Lars und streckte seinen Bauch heraus.

»Na, wenn schon, Lars. Das ist mir so was von egal!«, schnauzte Niko. »Ehrlich, es ist mir völlig egal, Lars Storchbein.«

***

Am frühen Nachmittag schien die Sonne häufiger und es war bereits angenehm warm geworden. Sebastian saß auf dem dunklen Holzboden der Terrasse und ließ seinen Blick über den Garten schweifen, dann sah er nach links, zu dem turmähnlichen Anbau, wo sich Großvaters Schreibzimmer befand.

Niko griff in die Schüssel Süßigkeiten, die Großvater Joe wieder bis zum Rand aufgefüllt hatte.

»Mensch, Niko, du hast doch heute Mittag schon ein ganzes Rind verdrückt. Lass mir noch etwas von den Süßigkeiten übrig!«, hänselte Lars ihn.

»Für dich ist noch genug da, Storchbein!«, giftete Niko ihn an.

»Ihr wollt euch doch nicht streiten?«, ermahnte Großvater Joe die beiden.

»Ach, ne, ...«, sagte Lars.

»Das ist doch kein Streit«, winkte Niko ab. »Wir sind die besten Freunde.«

Großvater Joe lächelte zufrieden. »Dann ist es ja gut.« Er zündete sich eine Lesepfeife an.

»Das ist ja eine außergewöhnliche Pfeife«, bemerkte Juana.

»Ja, in der Tat, das ist sie wirklich«, sagte Großvater Joe und tat geheimnisvoll, »sie hat einmal meinem Großvater gehört«, betonte er, »und er hat sie wiederum von einem König geschenkt bekommen.«

»Von einem König?«, fragte Lars verblüfft.

»Ja«, sagte Großvater Joe nickend, nahm einen sanften Zug und blies den Qualm langsam aus, »aber das ist eine andere Geschichte, die ich euch später einmal erzählen werde.«

»Bist du sicher, dass die Pfeife von deinem Großvater ist?«, fragte Sebastian.

»Ja«, nickte Großvater. »Warum?«

Sebastian zuckte mit den Schultern.

»Vom wem sollte sie sonst sein, wenn nicht von meinem Großvater?«, überlegte Joe.

Sebastian schwieg.

Großvater griff mit der linken Hand nach dem dicken Buch, das rechts von ihm auf dem Holzboden lag. »Jetzt möchte ich euch eine Geschichte aus diesem geheimen Buch vorlesen«, hauchte er.

Großvater Joe rauchte seine Pfeife und blickte dabei in die Runde. Er betrachtete sich für einen kurzen Moment den langen Stiel der Pfeife und legte sie dann bedächtig beiseite, nahm das Buch in beide Hände und schlug den ledernen Einband auf, auf dessen Mitte eine Sonne und Sterne zu erkennen waren, darüber befand sich eine seltsame goldene Inschrift. Sebastian, der neben seinem Großvater saß, wagte einen Blick auf die handgeschriebenen Seiten.

»Ich möchte euch nun die Geschichte von der goldenen Kugel vorlesen«, sagte er, »die mein Großvater einmal geschrieben hat.«

Sebastian horchte erwartungsvoll wie auch seine Freunde. Doch Großvater Joe ließ sich Zeit und griff noch einmal nach seiner Pfeife. Sebastian grübelte über die Worte seines Großvaters nach. War das Buch wirklich von seinem Ururgroßvater?

Großvater Joe räusperte sich.

»Also, dann will ich euch mal die Geschichte vorlesen: Von Tag zu Tag häuften sich die Berichte über schwarzmagische Zauberer, die sich in der Hauptstadt Arasin, das im Königreich Nebra lag, versammelten. Der Himmel hing ...«, las er mit ruhiger Stimme vor. Sebastian und seine Freunde saßen stillschweigend da und horchten gespannt, als Großvater Joe mit der Geschichte fortfuhr: »... voller dunkler Wolken, die sich wie eine große Glocke über das Königreich Nebra gelegt hatten. Kein einziger Sonnenstrahl drang an diesem Morgen durch die dichte Wolkendecke, und es wehte ein verdammt eisiger Wind, der aus östlicher Richtung auf die Stadt traf. Der Winter kündigte sich in diesem Jahr früher an. Das Südtor stand weit offen. Die Türme, die sich rechts und links des Tores befanden, waren von jeweils zwei Wachen besetzt. Regungslos blickten sie nach Süden, wo die ersten Schneeflocken das Land in eine weiße Landschaft verwandelten. Hoch auf der mächtigen Stadtmauer beugte sich ein alter, weißbärtiger Mann über die Brüstung, gehüllt in einen braunen Umhang, stand er da und blickte ebenfalls nach Süden. Der Schnee interessierte ihn nicht – er schien auf etwas oder jemanden zu warten.«

»War ihm nicht kalt, bei diesem miesen Wetter?«, fragte Lars.

»Tschsch ...«, zischte Juana.

»Ich kann ja wohl mal fragen«, bekam sie von Lars zu hören.

»Nein, ihm war nicht sonderlich kalt, denn er war ein weißmagischer Zauberer und hatte mit einem Zauber vorgesorgt, dass er – na ja, sagen wir mal, er musste kaum frieren«, erklärte Großvater Joe und las die Geschichte weiter vor.

»Der Zauberer zeigte ein freudiges Lächeln, als er vier Fremde entdeckte, die auf das Südtor zukamen. Die vom Wind zerzausten weißen Haare, strich er sich aus dem Gesicht.«

Großvater schlug eine Seite um und trank das Glas Limonade aus, bevor er weiter aus dem Buch vorlas: »Kaspar Addams und seine drei Freunde verließen gerade einen lichten Laubwald und näherten sich den Toren von Arasin ...«

»Wieso taucht denn der Name meines Ururgroßvaters in dieser Geschichte auf?«, fragte Sebastian erstaunt. »Soll er etwa in Arasin gewesen sein?«

Großvater Joe nickte.

»Ja, in der Tat, er war dort gewesen, Sebastian«, bestätigte Großvater.

»Wie ist er denn dorthin gekommen?«, wollte Juana wissen.

»Kaspar und seine Freunde haben eine magische Karte besessen, mit der sie in die Andere-Welt reisen konnten«, erklärte Großvater Joe.

»Ach, ja«, zweifelte Lars.

Großvater Joe nickte wieder.

Sebastian und Juana wechselten skeptische Blicke. Mein Großvater denkt wohl, wir sind noch kleine Kinder, denen man so eine Geschichte als wahr aufschwatzen kann, dachte Sebastian und fand die Äußerungen seines Großvaters äußerst peinlich. Was mochten seine Freunde bloß von seinem Großvater denken?

Niko schob sich einen Schokoladenriegel in den Mund und sprach: »Ist ja weit herumgekommen, Ihr Großvater.« Niko kaute und sagte dann: »Ach, kommt, Leute«, sprach Niko seine Freunde an. »Seid mal was lockerer und hört einfach zu.«

»Ich glaube, die ...«, fing Lars an, und Niko winkte ab: »Hör doch einfach zu, Lars! Wir kämpfen ja auch gegen Drachen und Orks und spielen den Teufelslord.«

Lars schwieg.

»Wie geht es denn weiter?«, sprach Niko Großvater Joe an.

»Die Geschichte ist wirklich wahr«, bestätigte Großvater Joe und las weiter: »Der Wind blies nun stürmisch und trieb Laub hinter Kaspar und seinen Freunden her, und Kaspar schien es plötzlich so, als ob der Wind eine Melodie mit sich tragen würde. Kaspar sah eine Gestalt, die über die Brüstung lugte und ihm zuwinkte. Kaspar wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass es der Zauberer war, der ihn da so freudig begrüßte. Plötzlich blieb Kaspar stehen. Er hörte eine zarte, weibliche Stimme, die seine Freunde nicht wahrnahmen. Sie flüsterte ihm zu: Die Begegnung mit dem weißmagischen Zauberer und dem König von Nebra steht dir und deinen Freunden eines Tages bevor. Doch zuerst müssen du und deine Freunde ein anderes Abenteuer bestehen. Folge den Spuren des Bären, um zu finden, was spätere Generationen von dir begehren.«

 

Niko schob sich einen weiteren Schokoladenriegel in den Mund.

»Man, schmatz nicht so laut!«, schimpfte Lars, und auch Juana blickte Niko angewidert an.

»Ihr stellt euch vielleicht an«, knurrte Niko.

»Was sollte Kaspar denn finden?«, fragte Sebastian.

»Wenn ihr wissen wollt, wie die Geschichte weitergeht, dann hört zu, Kinder«, sagte Großvater Joe und las weiter: »Dann erklang ein leiser Chorgesang, hinter ihnen im Wald. Ein schwerer Donner unterbrach die harmonische Melodie und der Gesang verstummte abrupt. Kaspar fasste den Entschluss, nicht nach Nebra zu gehen, sondern zurück in den Wald. Die Dunkelheit des Waldes verschluckte sie wie der Schlund eines riesigen Drachen. Noch bevor der weißmagische Zauberer Kaspar vor den dunklen Gestalten warnen konnte, waren Kaspar und seine Freunde im Wald verschwunden. Etwa vor vier Monden waren erste Gerüchte über die dunklen Gestalten aufgetaucht, die Reisende in den Wäldern auflauern sollten. Die unheimlichen Dunkel-Wesen, wie sie die Bewohner von Arasin nannten, seien wie Schatten – dunkler als die Nacht, mit langen Fingernägeln, so scharf wie die Schneidfläche einer Sense. Gegen dieses nächtliche Grauen konnte auch die Armee des Königs von Nebra nichts ausrichten. Und nun, da es langsam dunkel wurde, würde es nicht lange dauern, bis Kaspar und seine Freunde den Dunkel-Wesen in die Hände fallen würden.«

Großvater Joe blätterte eine Seite um und sah Sebastian an, dann wanderte sein Blick der Reihe nach umher. Keiner sagte ein Wort und so fuhr Großvater Joe fort: »Niemand reiste mehr gerne nach Sonnenuntergang durch den Wald, der früher einmal sicher gewesen war. Als Kaspar zurück blickte, huschte ein Schatten an einem Baum vorbei – das Laub wurde sofort welk und fiel zu Boden. Furcht befiel jetzt nicht nur Pepino, der eh immer etwas ängstlich war, sondern auch Kaspar, Leo und Jonna. Fast schon wollte Kaspar nach Arasin umkehren, da die Dämmerung ihnen langsam die Sicht nahm. Doch als in der Ferne ein brauner Bär zu sehen war, der zwischen zwei weißen Felsbrocken verschwand, beschloss Kaspar ihm zu folgen. Hinter ihnen tauchten in Scharen die geheimnisvollen Dunkel-Wesen auf, die mit ihren langen Fingernägel an den Baumrinden entlang schabten. Kaspar und seine Freunde rannten um ihr Leben, gejagt von den Dunkel-Wesen, die bestimmt keine guten Absichten verfolgten, denn jeder Baum, den sie berührten verlor auf der Stelle sein Laub. Kaspar und seine Freunde erreichten die beiden weißen Felsbrocken und aus der Höhle, die sich rechts in ein Felsmassiv bohrte, drang ein lautes Brummen heraus. Leo, der immer einen kleinen Rucksack mit allen möglichen Dingen bei sich trug, kramte eine Taschenlampe hervor und gab sie Kaspar, der in die Höhle hinein leuchtete und mutig vorausging. Kaspar wischte sich mit dem Handrücken die Wassertropfen aus dem Gesicht, die von der Decke fielen, und folgte dem Gang, an dessen glatten Wänden bunte Zeichnungen verschiedener bekannter und unbekannter Tierarten zu finden waren. Ein Bild fiel Kaspar ins Auge, das die Dunkel-Wesen vor einem Höhleneingang darstellte. Sie wurden durch ein grelles Licht vom Betreten der Höhle abgehalten. Und so war es auch, die Dunkel-Wesen versammelten sich vor dem Höhleneingang, jedoch folgten sie ihnen nicht. Als die Höhle sich in zwei Gänge aufteilte, folgte Kaspar dem Gang, in dem er ein sonderbares Schriftzeichen an der Höhlenwand entdeckte. Kaspars schmale Lippen verzogen sich zu einem freudigen Lächeln, als sie einen runden Höhlenraum betraten. Sechs brennende Fackeln leuchteten das Innere aus – Kaspar und seine Freunde rätselten, wer die Fackeln angezündet hatte – Freund oder Feind. Hier, in diesem Raum lag ein Geheimnis verborgen, davon war Kaspar fest überzeugt, als er von Fackel zu Fackel schritt, verfolgt von den Blicken seiner Freunde. Jonna entdeckte auf der Höhlenwand eine verblasste Zeichnung, die Kaspar an eine Kugel erinnerte. Als Kaspar die Hand auf das Bild legte, fiel in der Mitte der Höhle der Boden in sich zusammen und ein kleines Loch entstand, in dem eine eigroße, goldene Kugel lag, auf der sich die Lichtscheine der sechs Fackeln widerspiegelten und das Wort Feuerland in flammender Schrift zu lesen war. Als Kaspar die Kugel nahm, erlosch die Schrift. Und so fanden Kaspar und seine Freunde ihren ersten Schatz in der Anderen-Welt.«

Großvater Joe schlug das Buch zu.

»Wow, was für eine tolle Geschichte«, kam es von Niko.

»Was ist Feuerland?«, fragte Juana.

»Es ist ein gefährliches Land in der Anderen-Welt. Das aber ist eine andere Geschichte. Ich könnte sie euch morgen vorlesen, wenn ihr sie hören wollt«, antwortete Großvater Joe.

»Ja, prima«, johlte Lars.

»Ich hätte da eine tolle Idee für ein neues Fantasy-Rollenspiel: Die vier besten Freunde reisen nach Feuerland, um dort magisch gefährliche Abenteuer zu erleben«, sagte Niko so voller Begeisterung, dass er die Wort fast verschluckte.

»Viel zu langer Titel«, schüttelte Lars den Kopf. »Wie wär's mit: Die Reise nach Feuerland?«

»Von mir aus, mein Freund«, sagte Niko, »dann spielen wir: Die Reise nach Feuerland.«

»Ja, die Geschichte war wirklich gut«, nickte Sebastian seinem Großvater zu, jedoch konnte Sebastian sich nicht vorstellen, dass die Geschichte der Wahrheit entsprechen sollte.

»Haben denn Kaspar und seine Freunde die goldene Kugel mitgenommen?«, wollte Juana wissen und in ihrer Stimme lag ein misstrauischer Unterton verborgen.

»Natürlich! Kaspar hat die Kugel an sich genommen«, sagte Großvater Joe und legte das Buch beiseite. »Du glaubst doch etwa nicht, dass ich euch anschwindeln würde, Juana.«

Juana schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich damit nicht sagen – ehrlich.«

»Ist schon gut, Juana.« Großvater Joe griff in die Tasche seiner Strickjacke. »Hier ist die goldene Kugel«, sagte er und überreichte sie Sebastian. »Sie gehört von nun an dir, Sebastian.«

Sebastian nahm sie wortlos entgegen.

»Leider habe ich die magische Karte von meinem Großvater nie gefunden, von der im Buch so oft die Rede war.«

Gemächlich erhob sich Großvater Joe und verschwand im Haus, um das wertvolle Buch zurück in sein Schreibzimmer zu bringen.

»Wie sollte mein Großvater denn auch etwas finden, dass nicht existiert«, sagte Sebastian an Juana gewandt.

Juana rückte ein Stück näher an Sebastian. »Die Kugel ist wunderschön«, sagte sie und ging nicht weiter auf Sebastians Bemerkung ein. »Aber sie könnte auch in irgendeiner Goldschmiede angefertigt worden sein.«

»Ja, das vermute ich auch«, sagte Sebastian, »aber mein Großvater würde mich doch niemals anlügen«, wechselte Sebastian seine Meinung, um seinen Großvater ein wenig in Schutz zu nehmen.

»Sag niemals nie«, antwortete Niko und versuchte dabei erwachsen zu klingen.

Sebastian lachte wie auch Lars und Juana.

»Nein, Großvater hat mich nicht angelogen«, sagte Sebastian überzeugt. »Niemals«, ergänzte er mit fester Stimme.

»Das glaubst du doch jetzt wohl selber nicht«, warf Lars ihm an den Kopf.

Juana verzog zweifelnd das Gesicht und ließ ihren Blick über die goldene Kugel gleiten, während sie sich eine Strähne aus der Stirn strich.

Großvater Joe kehrte zurück.

»Was haltet ihr davon, wenn wir Drachenjäger spielen?«, fragte Niko.

»Super«, bestätigte Lars schnell.

»Ja, dazu hätte ich auch Lust«, nickte Juana.

»Dann geht schon mal, ich habe noch etwas mit Sebastian zu besprechen«, sagte Großvater Joe.