Kaspar - Die Reise nach Feuerland

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»Ach, komm, Sebastian, lass es gut sein«, Niko klopfte ihm auf die Schulter, »denk lieber an die Ferien bei deinem Großvater – dann geht es dir bestimmt wieder besser.«

»Ja«, sagte Sebastian, »eine ganze Woche bei Großvater Joe. Das wird bestimmt ...«

»... super cool werden«, beendete Niko den Satz.

»Dein Großvater hat ein riesiges Haus.« Juana war begeistert. »Nur leider lebt er allein, seit dem plötzlichen Tod deiner Oma. Das tut mir irgendwie leid«, sie blickte Sebastian traurig an.

»Mir auch«, gab Sebastian zu.

»Fährt uns dein Vater oder deine Mutter?«, wollte Niko wissen.

»Mein Vater fährt uns, meine Mutter hat leider keine Zeit.« Enttäuschung lag in Sebastians Stimme.

Die Schulglocke läutete das Ende der Pause ein.

***

»Na, Sebastian, freust du dich schon, auf den Urlaub bei deinem Großvater?«, fragte Rebecca nach dem Abendessen, als sie mit Sebastian alleine im Wohnzimmer war.

»Ja, sehr, Mutter. Großvater hat immer schöne Geschichten zu erzählen, und manchmal liest er aus einem alten Buch vor.«

»Ich freue mich für dich und deine Freunde«, sie nickte zufrieden, »wirklich, Sebastian.« Sebastian sah zu ihr auf. »Ich hatte leider nicht so einen netten Großvater wie du, Sebastian.«

»Das tut mir leid, Mutter.«

»Mir auch.«

»Ich gehe nach oben in mein Zimmer und packe meine Tasche.«

»Soll ich dir helfen?«

»Nein, das kann ich schon alleine, Mutter.«

»So langsam wirst du erwachsen«, lächelte sie.

»Ja, Mutter«, sagte Sebastian stolz und rannte die Treppe hinauf, in sein Zimmer.

Sebastian flitzte hin und her, schnappte sich T-Shirts, Jeans, Socken, Unterhosen und warf sie auf das Bett. Dann öffnete er eine Schublade, holte eine Taschenlampe und Batterien heraus, die neben seinen Jeans auf dem Bett landeten. Er holte dies und das noch aus dem Schrank und den Schubladen, und im Nu hatte er statt einer Reisetasche zwei gepackt. Endlich war er fertig und setzte sich ans Fenster, sah hinaus in eine sternenklare Nacht. Sebastian überlegte, mit welchen Fantasy-Rollenspielen sie sich bei Großvater Joe die Zeit vertreiben sollten, und plötzlich überkam ihn der absurde Gedanke, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit an all den vielen Geschichten lag, die es über Elfen, Zauberer, Drachen, Trolle, Hexen und Feen gab.

Als er einen leuchtenden Stern beobachtete, stellte er sich die Frage, ob es wohl dort oben, irgendwo auf einem Planeten, auch jemanden gab, der jetzt wie er zum Fenster hinausblickte, sich den Himmel betrachtete und sich die gleichen Gedanken machte.

Sebastian wurde langsam müde. Seine Augenlider fühlten sich schwer an, und er beschloss ins Bett zugehen, doch zuvor warf er noch einen kurzen Blick hinauf zu den Sternen und machte ganz große Augen, als er eine Sternschnuppe mit einem leuchtenden Schweif am Himmel vorüberziehen sah. Sebastian presste die Lippen zusammen und wünschte sich mit seinen Freunden ein aufregendes Abenteuer in den Sommerferien zu erleben.

Als Sebastian im Bett lag dauerte es nicht lange, bis er einschlief. Ein mysteriöser Traum begleitete ihn in dieser Nacht.

***

Sebastian schwebte durch die Luft, nirgends war etwas zu erkennen, rings um ihn herum befand sich das absolut Nichts, das hell und freundlich strahlte. Die Reise, die er begonnen hatte, schien endlos zu sein. Sie bereitete ihm einen höllischen Spaß. Plötzlich tauchte in der Ferne eine kleine Stadt auf, er flog über Dächer hinweg und bewegte sich auf eine mächtige Erle zu, die mitten in einem Park stand. Bunte Luftballons stiegen empor und flogen an ihm vorbei. Plötzlich verschwanden die Luftballons, ebenso der Baum und der Park. Dann verschwanden auch die Häuser, und Sebastian war wieder allein. Eine bunte Wiese entstand unter ihm, auf der Sebastian landete. Er sprang fröhlich umher, als plötzlich ein harmonischer Chorgesang an seine Ohren drang.

»Kaspar, Kaspar nun wird es Zeit,

ein Abenteuer steht für dich bereit.

Die Lösung naht, sie ist nicht fern,

Kaspar, Kaspar dein Großvater hat dich gern.

Reise mit ihm durch die ganze Welt,

zu jedem Ort der euch gefällt,

aber morgen reist du in die Andere-Welt.«

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Nein, ich fahre morgen zu meinem Großvater«, sagte er, »und außerdem heiße ich Sebastian.«

»Das wissen wir«, drang eine zarte, weibliche Stimme zu ihm vor. »Dein Name ist Sebastian Kaspar Addams, der neue ...«

»Ach, lass mich in Ruhe«, unterbrach Sebastian und winkte ab. »Ich will die Luftballons noch einmal sehen.«

»Kaspar, komm zu uns ...«

»Ach, hör auf damit! Mein Name ist Sebastian«, murrte er.

»Du bist Sebastian, das ist uns klar. Aber auch Kaspar heißt du, ja, das ist wahr«, flüsterte die Stimme.

Plötzlich verschwand die Stimme, und Sebastian befand sich mit einem Mal in einer Halle, die menschenleer war, bis auf eine geheimnisvolle Gestalt, die einen braunen Umhang trug und bewegungslos wie eine Steinfigur auf einer Empore stand. Die Gestalt lebte, denn sie bewegte die Finger der rechten Hand und sie schien zu warten, denn sie hatte ihre leuchtend giftgrünen Augen auf die große, hölzerne Pforte am anderen Ende des Raumes gerichtet – Sebastian rätselte wer oder was, ob früher oder später, durch die Pforte schreiten würde.

Sebastian ging auf die Empore zu, sein Blick war starr auf die fremde Gestalt gerichtet. »Wer bist du?«, fragte Sebastian schließlich, doch die Gestalt blieb stumm.

Der Lichtschein der Fackeln, die in Höhe der Empore an den Wänden brannten, verlieh der mysteriösen Gestalt zusätzlich ein unheimliches Aussehen.

Die große Pforte schwang nach innen auf, und ein stattlicher Mann mit einer goldenen Krone auf dem Haupt, die mit unendlich vielen Edelsteinen verziert war, betrat den Raum – es war ein König, wie Sebastian vermutete.

Sebastian schluckte. Seine Kehle wurde staubtrocken. Was soll ich jetzt ..., bevor Sebastian den Gedanken zu Ende fassen konnte, löste sich die unheimliche Gestalt auf der Empore in Luft auf und erschien direkt neben Sebastian. Sebastian suchte nach einer Ausrede, um der Gestalt zu sagen, was er hier zu suchen hatte. Doch die Gestalt nahm keine Notiz von ihm – sie schien ihn gar nicht zu bemerken, so wie auch der König, der jetzt vor der Gestalt stand und sie mit den Worten, »Ich freue mich dich zu sehen, Zauberer«, begrüßte.

»Ich bin gekommen, so wie Ihr es mir befohlen habt, mein König.«

Der König schwang ein unterarmgroßes Zepter, das mit einem goldenen Knauf versehen war. Der Zauberer schien sich davor zu fürchten, denn er wich einige Schritte zurück.

»Was hast du, Acaton?« Sebastian sah, wie der König seine Macht genoss. »Angst vor meinem Zepter?«, fragte er mit einem hämischen Grinsen. »Komm mit mir, Acaton!« Der König senkte das Zepter und vollführte mit der Hand eine Geste. »Wenn du tust, was ich von dir verlange, Acaton, wird dir nichts geschehen!«

Acaton nickte kaum merklich, und seine Augen funkelten zornig. Der König wandte sich der Pforte zu, und Acaton folgte ihm wortlos.

»Ich habe ein großes Problem, Acaton, mit den neuen Siedlern, die mein Land wie eine große Flut überschwemmen, dafür brauche ich deine Hilfe. Solltest du dich nochmals weigern und verschwinden, wird dir das nichts nützen, Acaton. Ich werde dich überall finden und dann werde ich dich töten.«

Eine beunruhigende Stille trat ein, als der König und der Zauberer die Pforte durchschritten. Sebastian folgte ihnen – neugierig zu erfahren, was der König dem Zauberer befehlen würde.

»Ich werde keine Truppen gegen die Siedler anführen können«, erklärte der König, »das würde bei meinem Volk und bei den Königen meiner Nachbarländer nicht gut ankommen. Um meinen Plan zu verwirklichen, brauche ich dich, Acaton.«

Seufzend folgte der Zauberer dem König. Sie schritten einen prunkvollen Flur entlang. Während Sebastian dem König und dem Zauberer folgte, betrachtete er die wundervollen Gemälde – etliche Porträts und Landschaftsbilder schmückten die weiß gekalkten Wände. Sebastian berührte eine mannshohe Marmorsäule, auf der eine goldene Öllampe brannte. Dutzende dieser Säulen standen rechts und links entlang des Flures verteilt.

»Ich habe befürchtet, dass Ihr etwas Schlimmes von mir verlangen würdet«, jammerte Acaton.

Sebastian trat schnell an Acatons Seite und wartete gespannt darauf, was der König dem Zauberer befehlen würde. Der Traum wirkte so real auf Sebastian, dass er für einen Augenblick zweifelte, ob es überhaupt noch ein Traum war.

Der König blieb stehen und sah dem Zauberer direkt in die giftgrünen Augen. »Die Siedler sind meine Feinde. Sie besetzen mein Land und bringen eine Kultur hierher, die ich in meinem Königreich nicht dulden werde!«

»Was für ein fieser Mensch«, fluchte Sebastian und hielt sich die Hand vor den Mund, als Acaton sich ihm zuwandte.

»Was hast du, Acaton?«, fragte der König.

»Verzeiht mir, mein König, ich dachte, ich hätte etwas gehört.« Sebastian blickte direkt in Acatons giftgrüne Augen. »Aber ich glaube, ich habe mich geirrt, mein König«, sagte Acaton und wandte sich dem König zu.

Doch Sebastian kam es so vor, als hätte der Zauberer ihn gehört und den König angelogen. Acaton sprach gelassen und mit aller Höflichkeit weiter: »Was verlangt ihr von mir, mein König?«

»Die Siedler müssen vertrieben werden ...« Acaton lauschte, als er dem König in das finstere Gesicht blickte. »... ich habe heute einen Siedler bestraft, der es gewagt hatte, königliches Vieh von der Weide zu stehlen.«

 

»Ich habe gehört, dass der junge Mann das Tier erworben hatte«, sagte Acaton.

»So, hast du das, Zauberer?« Der König blieb stehen. »Wer hat dir das erzählt?«, wollte der König sofort wissen.

»Ich habe es auf dem Marktplatz gehört.«

»So, so, auf dem Marktplatz«, erwiderte der König, »dort wird viel Tratsch verbreitet ...«, winkte der König ab. »Der Siedler leugnete stundenlang trotz großer Qualen, die der Folterer ihm angetan hatte. Er bettelte um Gnade und um sein Leben – doch der Folterer stieß ihm letztendlich ein glühendes Eisen in sein gottloses Siedlerherz. Er war ein Dieb, Acaton ...«

Der König wirkte sichtlich zufrieden.

»... und ein Dieb muss bestraft werden, so will es das Gesetz!«

Acaton schwieg – sichtlich entsetzt, über die grausame Tat, die der König angeordnet hatte.

»Ich könnte dem Folterer befehlen, dir ...«

Der König vollführte eine Geste mit der linken Hand und wollte gerade weitersprechen, doch Acaton kam ihm zuvor: »Ich fürchte die Folter nicht. Also, macht mit mir, was Ihr ...«

»Aber, das hier fürchtest du, nicht wahr, Acaton?« Der König hielt Acaton das königliche Zepter unter die Nase. »Du bist so schweigsam. Was hast du, Acaton?« Der König senkte das Zepter. »Angst?«, fragte er.

»So mutige Worte von jemand, der doch so verletzlich zu sein scheint«, höhnte der König. »Acaton, du weißt, dass ich viele verschiedene Arten der Folter kenne, und eine ist bestimmt darunter, die du gewiss nicht ertragen würdest.«

Acaton senkte den Blick und verzog die Mundwinkel.

Der König richtete sich kerzengerade auf und ein grausames Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.

»Ich denke, dies wird der geeignete Anreiz sein, um deinen Gehorsam zu erzwingen, Acaton.« Der König wandte sich einer Tür zu und zog sie an einem Metallring auf. Sebastian glaubte in der bösartig, schneidenden Stimme des Königs zu hören, dass ihm ein Menschenleben völlig bedeutungslos war.

Acaton erbleichte, als die Tür aufschwang und eine junge Frau mitten in der Halle kniete.

»Manju«, flüsterte Acaton entsetzt.

Sie war in Begleitung eines einzigen Wachsoldaten, der sie an den Handfesseln gepackt hielt.

»In deinen Augen lese ich, dass du mir den Tod wünschst, Zauberer«, lachte der König, »das ist gut so.«

Der König trat einen Schritt auf Acaton zu.

Sebastian sah, wie eine einzige Träne über die Wange der jungen Frau rollte, als sie in Richtung Acaton blickte.

»Tut Ihr nicht weh, mein König«, sagte Acaton und schüttelte ungläubig den Kopf, und zum ersten Mal glaubte Sebastian, ein leichtes Zittern in der Stimme des Zauberers zu hören. »Bitte, tut ihr nicht weh, mein König«, wiederholte er.

»Also wirklich, Acaton«, höhnte der König. »Warum sollte ich so einem wunderschönen Geschöpf weh tun wollen?«

Ein bösartiges Lächeln lag auf dem Gesicht des Königs.

»Wenn ihr das tut, was ich von euch verlange, Acaton, wird niemandem etwas geschehen«, sagte der König, »dir nicht«, der König deutete auf Manju, »und auch ihr nicht.«

Acaton gab sich geschlagen. Der König hatte ihn jetzt endgültig in der Hand.

»Sie ist so etwas wie eine Tochter für dich, nicht wahr, Acaton?«, belächelte der König den Zauberer.

Acaton nickte.

»Ja«, sagte er mit gesenktem Blick.

»Gut«, erwiderte der König, »löse ihre Fesseln mit einem Messer«, befahl er dem Wachsoldaten.

Sebastian sah, wie Blut zwischen den Fingern der jungen Frau hervorquoll.

»Nein!«, schrie Acaton. »Ihr habt versprochen, ihr nichts anzutun!«, wandte er sich an den König.

»Habe ich das?«

»Ja, das habt ihr.«

»Dann können wir ja unseren Handel abschließen«, fuhr der König fort.

»Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt.«

»Nein, nicht, Acaton!«, schrie Manju.

»Schweig, Weib!«, befahl der König.

»Nimm sie, Acaton, und geh«, sagte der König, »bevor ich es mir anders überlege und sie meinen Soldaten überlasse – als Abendvergnügen versteht sich.«

Schnell wandte sich Acaton Manju zu und griff ihre Hand.

»Falls Manju etwas geschehen sollte, mein König, ist unsere Abmachung wertlos, und weder Himmel noch Hölle werden mich dann dazu bringen, mich Eurem Befehl zu unterwerfen!«

»Geht jetzt!«, befahl der König mit finsterem Blick. Er legte eine Pause ein und erwartete eine Erwiderung, doch Acaton blieb schweigsam.

Der König vollführte eine Geste mit dem Zepter und verließ geschwind die Halle – zurück blieb Acaton mit Manju und der Wachsoldat, der sagte: »Es tut mir leid, Mädchen, aber der König hat mir befohlen dich ...« Der Wachsoldat senkte den Blick, schüttelte stumm den Kopf und verließ bedrückt den Raum.

Acaton streckte einen Arm in Sebastians Richtung, während seine Worte flehend klangen: »Du willst dich mir nicht zeigen ...«

»Mit wem redest du, Acaton«, unterbrach Manju.

»Ich weiß es nicht«, begann Acaton an Manju gewandt, »ich kann dich zwar nicht sehen, Fremder«, wandte sich Acaton Sebastian zu, »aber ich kann dich hören.«

Acaton legte eine kurze Pause ein.

»Du scheinst mir ein mächtiger Zauberer zu sein, Fremder. Ich werde Schlimmes für den König tun müssen, wie du sicherlich gehört hast – ich kann nicht mehr von meinem Versprechen dem König gegenüber zurücktreten«, seufzte Acaton. »Du musst mir etwas versprechen, Fremder!«

Das Licht der späten Nachmittagssonne fiel durch die südlichen Fenster ein und überzog den Saal mit einem zarten Schimmer.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Sebastian, der jetzt nicht mehr zwischen Traum oder Wirklichkeit unterscheiden konnte.

»Ja, ich kann dich hören, Fremder. Du stehst genau vor mir«, nickte Acaton.

»Ich kann nichts hören, Acaton«, sagte Manju. »Wer ist hier?«, wollte sie wissen und klammerte sich ängstlich an Acaton.

»Er hört sich noch jung an.« Acaton sprach einen Zauber aus. »Schade«, sagte er. »Ich hatte gehofft, dich so sichtbar zu machen, Fremder.«

»Willst du nicht von uns gesehen werden?«, fragte Manju mit ängstlicher Stimme.

»Ich weiß nicht, wie ich das machen soll«, gab Sebastian zu.

Sebastian sah in Manjus sanfte, braune Augen und bemerkte, wie ängstlich sie in seine Richtung blickten.

»Sag ihr, dass sie keine Angst vor mir zu haben braucht«, wandte sich Sebastian Acaton zu.

»Du kannst mich loslassen, Manju«, sagte Acaton, »der Fremde wird uns nichts antun.«

»Ich heiße Sebastian.«

Acaton lächelte. »Wie alt bist du, Sebastian?«

Sebastian zögerte, doch dann sagte er: »Zwölf.«

»Zwölf Jahrhunderte?«, fragte Acaton.

»Nein, zwölf Jahre«, sagte Sebastian lächelnd.

Acaton zuckte mit den Schultern. »Zwölf Jahre?« Seine Stimme klang erstaunt.

»Ja«, sagte Sebastian.

»Dann hast du eine ganz besondere Gabe, Sebastian«, sagte Acaton, »und ich hoffe, du kannst mir helfen, wenn ich scheitern sollte.«

»Wobei soll ich dir helfen?« Sebastian horchte.

»Wenn ich den Zauber, den ich bei den neuen Siedlern anwenden werde, nicht mehr rückgängig machen kann, dann musst du ihn auflösen.«

»Welchen Zauber und wie soll ich das machen?«

»Es ist so, wenn ...«

Als sich eine Tür öffnete, wandten Sebastian, Acaton und Manju sich gleichzeitig um und sahen den König kommen.

»Ihr seid noch hier, Zauberer?«, rief der König erstaunt.

Sebastian konnte in Acatons Gesicht Nervosität erkennen. Seine Gelassenheit, mit der er sich eben mit ihm unterhalten hatte, löste sich mit einem Mal auf.

Auf ein Kopfnicken des Königs hin stießen zwei Palastwachen die schwere Doppeltür auf.

»Der Folterer«, hauchte Manju, und ein schmächtiger Mann mit schlanken Händen und wässrigen Augen trat über die Schwelle. Sebastian wunderte sich, dass solch ein Kerlchen jemanden foltern konnte – er sah so zerbrechlich aus.

Sebastian sah, wie Manjus Hände zitterten und sie verzweifelt versuchte, sie unter Kontrolle zu bringen.

»Keine Angst, Mädchen«, sagte der König. »Wir sind hier, um einen Siedler zu verhören«, der König kam einige Schritte näher, »aber ihr solltet längst fort sein!«

Acaton schnappte sich Manjus Hand und zog sie hinter sich her. Schnell verließ Acaton mit ihr den Saal, ohne sich nach Sebastian umzudrehen.

»Du wirst deine gerechte Strafe erhalten ...«, fauchte Sebastian und ging furchtlos auf den König zu und wünschte sich innig, dass der König seine Worte mitbekam, »... und ich hoffe, dass die Strafe für dich nicht zu mild ausfallen wird, du fieser König.«

»Habt ihr das auch gehört?«, fragte der König und wandte sich den Palastwachen zu, die mit den Köpfen schüttelten. »Wer hat das gesagt?«, fragte der König verwirrt.

Großvater Joe

Sebastian wurde aus seinem tiefen Traum herausgerissen, als der Wecker neben ihm auf dem Nachttisch Musik spielte. Träge raffte er sich auf und stellte ihn leise fluchend aus. Dann ließ er seinen Kopf ins Kissen fallen und schloss die Augen.

Das war vielleicht ein ungewöhnlicher Traum, ging es ihm durch den Kopf. Ich habe von einem König und einem Zauberer geträumt, der zu mir sagte, dass ich die neuen Siedler erlösen soll, wenn er scheitern sollte. Sebastian atmete tief ein. Eigenartig, der Traum wirkte so echt – ich glaube noch, den Geruch des Königs in der Nase zu haben – ein Bad hätte ihm sicherlich nicht schaden können, dachte er weiter und öffnete dabei die Augen. Sebastian ließ den Blick im Zimmer umherschweifen, so als ob er jemanden suchen würde.

Dann warf er mit Schwung die Decke zurück, so dass sie vom Bett rutschte und zu Boden fiel. Als er aufstand und zum Schreibtisch ging, gähnte er laut und versuchte sich an den ganzen Traum zu erinnern. Die Rollläden hätte er besser unten gelassen, denn als er aus dem Fenster blickte, sah es verdammt trübe aus. Er setzte sich auf den Bürostuhl, schnappte sich einen Stift und schrieb den seltsamen Traum auf ein leeres Blatt Papier.

Gähnend ging Sebastian ins Badezimmer. Heute – an diesem ganz besonderen Tag, an dem Sebastian und seine Freunde zu Großvater Joe fahren würden – wollte er sich gründlich waschen; dafür nahm er Mutters besondere Seife und Vaters Lieblingsduschgel, denn an diesem Morgen wollte er keinen Rüffel von seinem Vater erhalten und sich von ihm anhören müssen, dass er sich wieder einmal einer Katzenwäsche unterzogen hätte.

Pah! Da wirst du gleich aber Augen machen und staunen, Vater, dachte Sebastian und drückte auf die Tube Duschgel und war fest davon überzeugt, dass er gleich ganz besonders gut riechen würde.

***

»Wo ist Vater?«, fragte Sebastian seine Mutter, als er freudestrahlend die Küche betrat und sich an den Tisch setzte.

»Die Zeitung holen«, antwortete Rebecca gelassen und Sebastian grinste sie freudig an.

»Und, wo ist mein Bruder?«

»Er hat schon gefrühstückt.«

Sebastian atmete laut aus und sagte: »Klasse, dann sind wir alleine – nur du und ich – kein Vater und kein Bruder«, sagte er, »niemand, der mir heute Morgen auf die Nerven gehen kann – das ist gut so«, nickte er zufrieden.

»Sei nicht so hart zu deinem Vater«, ermahnte Rebecca ihn, »und auch nicht zu deinem Bruder«, sie sah Sebastian in die strahlend blauen Augen. »Dein Vater hat es im Augenblick auf der Arbeit sehr schwer. Früher war er ...«

Sebastian winkte ab. »Ist schon gut Mutter. Wir sollten zusammen essen und nicht über meinen Vater und meinen Bruder sprechen. Ich weiß ja, dass Vater ...« Sebastian fand nicht die richtigen Worte.

»Dein Vater ist wirklich kein schlechter Mensch, Sebastian.« Rebecca ging zum Teekessel, der auf dem Herd stand und füllte die Teekanne mit heißem Wasser auf.

»Du möchtest bestimmt eine Milch?«, fragte sie.

»Gerne, Mutter.«

»Da hast du heute aber gründlich geduscht«, schnupperte Rebecca, als sie Sebastian Milch ins Glas goss.

»Ja, Mutter«, sagte Sebastian stolz.

»Ich hoffe, du hast nicht das ganze Duschgel aufgebraucht«, lächelte sie.

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Wie ich an dir rieche, hast du auch meine Seife benutzt.«

Sebastian nickte, und ihm ging durch den Kopf, dass er das Badezimmer noch aufräumen musste.

 

»Freust du dich schon auf den Urlaub bei Großvater?«, lenkte Rebecca auf ein anderes Thema.

»Und wie«, kam es wie aus der Pistole geschossen aus Sebastian heraus, »ich kann es kaum noch abwarten. Dann brauche ich eine Woche lang Vater und Bruder nicht zu sehen.«

Rebecca sah bedrückt aus.

»Entschuldigung, Mutter«, sagte Sebastian und senkte den Blick, »ich hab' das nicht so gemeint.«

»Ist schon gut, Sebastian, ich kann dich ja verstehen.« Sie ging zum Toaster und nahm zwei fertige Toasts heraus, die sie auf einen Teller legte und Sebastian reichte.

»Danke, Mutter.«

Sebastian schmierte zwei Zentimeter dick die Erdbeermarmelade auf einen Toast und auf den anderen Nutella. Dann biss er ein großes Stück von dem Erdbeertoast ab. Trank einen Schluck Milch dazu und fragte mit vollem Mund: »Ist Vater schon lange fort?«

»Er müsste eigentlich jeden Augenblick zurückkommen.«

»Er hat doch nicht vergessen, dass er mich und meine Freunde heute zu Großvater fahren wollte?«, fragte Sebastian vorsichtig.

Rebecca lächelte sanft.

»Nein, das hat er nicht«, antwortete sie.

»Gut«, nickte Sebastian und nahm einen zweiten Bissen zu sich.

Das Haustürschloss knackte und Vater William kam herein. Als er sich mit: »Guten Morgen Sebastian«, an den Frühstückstisch setzte und die Zeitung aufschlug, fragte Sebastian: »Wann fahren wir los?«

»RUHE!«, brüllte William laut.

Rebecca reichte ihrem Mann eine Tasse Tee.

»Wenn deine Freunde da sind, wird dein Vater euch fahren«, sagte Rebecca.

Sebastian nickt zufrieden und biss in das Nutellatoast.

»Ahm – Vater – kann ich deine Taschenlampe haben? Ahm – meine ist mir eben hingefallen«, fragte Sebastian ganz vorsichtig.

»Nein«, sagte William scharf und sah Sebastian über den Rand der Zeitung an. »Wieso sollte ich sie dir geben? Damit du sie auch noch fallen lässt – dummer Junge. Und jetzt sei still, ich will meine Zeitung in Ruhe lesen!«

»Lass deinen Vater jetzt in Ruhe, Sebastian«, ging Rebecca dazwischen und füllte Sebastians Milchglas auf.

»Es steht nur dummes Zeug in der Zeitung«, brummte William.

Sebastian verzog missmutig das Gesicht.

»Warum liest du sie denn?«, fragte Sebastian vorwitzig.

William hob den Blick.

Sebastian schluckte.

»Es ist noch eine alte Taschenlampe im Keller. Die kannst du haben«, schlug Rebecca vor.

»Danke, Mutter.«

Sebastian hatte inzwischen das Nutellatoast aufgegessen und sah mit bedrückter Miene, wie sein Bruder in die Küche kam.

»Ey Mann, Brüderchen Tohuwabohu, was hast du da oben bloß wieder angestellt?«

William legte die Zeitung beiseite.

»Was gibt es denn, Manuel?«, wandte er sich seinem Sohn zu.

»Sebastian hat zwei Handtücher benutzt, die jetzt auf dem Boden herumliegen, und Mutters Seife liegt in der Dusche auf dem Boden. Sie ist total aufgeweicht – ach, ja, die Fliesen im Bad sind auch ein wenig nass geworden«, Manuel holte Luft und fuhr fort, »und die Zahnpastatube sieht aus, als hätte sich ein Elefant darauf gesetzt.«

Williams Blick bohrte sich wie ein Dolch tief in Sebastian hinein, noch bevor William etwas sagen konnte, kam ihm Sebastian zuvor: »Vater, du hast mir selbst gesagt, ich solle mich morgens richtig waschen, das habe ich getan – und die Zähne putzen sollte ich auch«, Sebastian sprach so schnell, dass sein Vater nichts anderes übrig blieb, als seinem Sohn zuzuhören, »das habe ich auch getan, Vater. Ich habe nur auf das gehört, was du mir immer wieder gesagt hast, Vater. Und außerdem übertreibt mein Bruder mal wieder. Die Fliesen sind gar nicht nass geworden, und die Zahnpastatube habe ich nicht zerdrückt, das stimmt nicht.«

»Bist du nun endlich fertig, mein Sohn?«, sagte William, seine Stimme klang dabei gefährlich ruhig.

»Die Handtücher muss ich noch wegräumen und die Seife ist mir hingefallen. Ich habe vergessen, sie aufzuheben, das werde ...«

»Schweig endlich!«, brüllte William. »Und du denkst jetzt bestimmt: Dafür hat Sebastian doch keine Strafe verdient«, wandte er sich Rebecca zu. »Du denkst bestimmt, dass dein Sohn für die Unordnung im Bad eine plausible Erklärung hat. Soll ich deinen Sohn dafür vielleicht auch noch belohnen?« William wartete kurz auf eine Antwort. »Dazu fällt dir wohl nichts ein, nicht wahr? Dein Sohn muss bestraft werden, und ich weiß auch schon, wie ich das tun ...«

Rebecca schnippte mit den Fingern und ihre Augen waren ganz schmal auf William gerichtet. »Falls du das schon vergessen hast, mein lieber Mann, Sebastian ist unser Sohn und nichts wirst du tun«, Rebecca stand in der Küche wie ein Fels in der Brandung, als sie weiterfuhr: »Bestrafen ist das Einzige, was dir dazu einfällt – natürlich, was kann dir auch sonst bloß einfallen«, sie fuchtelte mit den Fingern vor Williams Gesicht herum. »Sebastian und seine Freunde werden Großvater Joe besuchen«, Rebecca atmete tief ein, und ihr Blick erinnerte Sebastian an die zahlreichen Bilder von Kriegerinnen, die in Fantasy-Foren zu finden waren, »und du wirst sie dorthin fahren«, betonte Rebecca scharf, dann wandte sie sich Sebastian zu. »Und du, Sebastian, siehst zu, dass das Badezimmer wieder in Ordnung kommt, bevor du zu Großvater fährst!«

Sebastian nickte. »Ja, Mutter.«

»Also, worauf wartest du, Sebastian? Ab, nach oben mit dir!«, sagte sie, und Sebastian verschwand auf der Stelle.

»Und was ist mit der aufgeweichten Seife?«, hörte Sebastian seinen Bruder fragen.

»Wir haben reichlich Seife im Haus«, antwortete Rebecca kochend vor Wut.

»Und die Zahnpastatube?« Manuel ließ nicht locker.

»Warum, Manuel?«, fragte Rebecca. »Warum tust du das?«

Sebastian lauschte im Treppenhaus. »Na, warte, Bruder, dafür werde ich mich rächen, die Tube habe ich nämlich nicht zerdrückt.«

»Was denn, Mutter?«, fragte Manuel.

»Du tust alles, was notwendig ist, damit Sebastian von seinem Vater eine Strafe erhält. Wieso tust du das nur, Manuel?«

Manuel schwieg.

»Ich gehe hoch zu Sebastian und sehe mir mal an, was er wirklich angestellt hat«, sagte Rebecca. »Sebastians Freunde werden gleich kommen, also trink deinen Tee und ließ die Zeitung, aber vergiss nicht die Tür zu öffnen, wenn es klingelt!«, fuhr sie William an.

»Du lässt Sebastian zu viel durchgehen«, sagte William mit Nachdruck.

»Nein, das tue ich nicht«, antwortete Rebecca. »Normalerweise hätte ich ihn ja auch bestraft, aber nicht heute, das wäre falsch!«

Rebecca verließ die Küche.

»Ja, ich habe gewonnen«, jubelte Sebastian leise und sah zu, dass er schnell ins Badezimmer kam.

***

Sebastian stand mit seinem Gepäck oben im Flur und wartete auf seine Mutter, die in sein Zimmer gegangen war, um zu sehen, ob er alles aufgeräumt hatte, so wie er es ihr gestern Abend versprochen hatte.

Sebastian hörte die Türklingel und Juana war die Erste die kam.

»Guten Tag, Herr Addams«, sagte sie höflich, als William die Tür öffnete.

»Sebastian kommt gleich herunter. Er muss oben noch aufräumen«, erklärte William. »Du kannst schon mal ins Wohnzimmer gehen. Das Gepäck kannst du hier neben der Garderobe abstellen.«

»Möchtest du etwas zu trinken?«, fragte William.

»Ja, einen Orangensaft, bitte.«

William verschwand in der Küche.

»Sebastian hat das ganze Badezimmer verwüstet«, schimpfte Manuel, »oben sieht es aus, als ob ein Elefant sich ausgetobt hätte.«

Sebastian ärgerte sich, dass sein Bruder mal wieder total übertreiben und dass er ausgerechnet zu Juana so etwas sagen musste. Dass Juana darüber schmunzelte, konnte er ja nicht sehen.

»Na, warte, Brüderchen, so viele Lügen über mich zu erzählen, das zahl ich dir heim«, flüsterte Sebastian.

Juana ging ins Wohnzimmer. Manuel eilte zu seinem Vater in die Küche. Es klingelte wieder und Lars trudelte ein.

»Hallo, Herr Addams«, sagte er.

»Hallo, Lars«, begrüßte William ihn. »Du kannst dein Gepäck dort neben Juanas Tasche abstellen. Möchtest du auch einen Orangensaft?«

»Gerne, Herr Addams«, sagte Lars.

»Du kannst ins Wohnzimmer gehen. Juana ist auch schon da. Ich bringe euch dann den Saft.«

Sebastian schnippte ungeduldig mit den Fingern.

»Ist gut, Sebastian, du kannst nach unten gehen«, sagte Rebecca, als sie aus Sebastians Zimmertür trat.

Sebastian rannte die Treppe hinunter und stellte seine beiden Taschen neben die von Juana und Lars. Als Sebastian ins Wohnzimmer trat, sah er, wie Juana vor dem Bücherregal stand und Lars im Sessel saß und einen Orangensaft schlürfte. Nachdem sich die Freunde begrüßt hatten, fragte Sebastian vorsichtig: »Wo ist denn mein Vater?«