Kaspar - Das Geheimnis von Eduan

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»So, jetzt genehmige ich mir dieses besondere Tröpfchen«, sagte Balthasar und griff nach einer der beiden Flaschen auf dem Tisch.

»Was ist denn da drin?«, fragte Niko neugierig.

»Bier«, antwortete Balthasar und setzte die Flasche an die Lippen. Balthasar genoss den Schluck in vollen Zügen, und als er die Flasche auf den Tisch stellte, blickte er zu Kaspar: »Das Rezept für dieses ganz besondere Bier habe ich von deinem Großvater«, erklärte er.

Nox schielte auf die Flasche in Balthasars Hand.

»Die andere Flasche ist für dich, Nox«, sagte Balthasar.

»Danke.« Nox leckte sich die Wurzellippen. »Das Bier von den Menschen ist eines meiner Lieblingsgetränke.«

»Mein Großvater hat Ihnen das Rezept gegeben?«, hakte Kaspar nach.

Balthasar nickte vergnügt: »Ja, ich habe ihn darum gebeten.«

Nox reichte Niko eine Schüssel mit Brot. »Hier, nimm dir etwas und gib sie weiter.«

»Danke, Nox«, sagte Niko und griff zu.

»Morgen früh brechen wir nach Urta auf«, fing Balthasar an, während Nox aufstand und zum Kamin ging. »Mit deiner magischen Karte und meinen beiden Zaubertränken werden wir Gohr besiegen.«

»Ist das der Name des Todbringers?«, fragte Lars ängstlich.

»Ja«, bestätigte Balthasar.

»Schon wieder ein Monster, das einen Namen trägt«, warf Niko ein.

»Welches Monster mit Namen meinst du?«, fragte Lars.

»Na, dieses Pflanzending«, fing Niko an, »Odo«, sagte Niko.

»Odo ist kein Monster«, empörte sich Juana.

Niko zog die Augenbrauen hoch.

»Ist er denn nun gefährlich, dieser Gohr?«, lenkte Lars auf das eigentliche Thema zurück.

Balthasar nickte und sagte: »Sehr sogar.«

»Warum müssen wir Gohr denn unbedingt aus Urta vertreiben? Sollten wir uns nicht besser auf die Suche nach den goldenen Drachentränen machen?«, fragte Kaspar.

»Gohr ist ein Diener von Drawen. Er besitzt einen Gegenstand, den wir für die Suche nach den Drachentränen benötigen«, erklärte Balthasar.

»Und was ist das?«, wollte Kaspar wissen.

»Das weiß ich nicht.«

»Aber wie können Sie sich sicher sein, dass dort wirklich etwas ist, dass wir für die Suche benötigen?«, fragte Juana.

»Das dort etwas ist, kann ich mit Bestimmtheit sagen. Nur was es ist, das ist mir noch nicht bekannt. Wenn ich in meinen Visionen Urta sehe, dann enden sie immer abrupt.«

»Gut, dann werden wir tun, was wir tun müssen«, sagte Kaspar.

»Cooler Satz von dir«, sagte Niko mit erhobenem Daumen.

Nox kam mit einer Schüssel Springbockfleisch zurück und verteilte es auf die Teller.

»Jetzt wissen wir immer noch nicht genau, wer oder was Gohr ist«, wandte Lars ein.

»Lass dich überraschen«, grinste Niko ihn an.

»Dir wird das dämliche Grinsen im Hals stecken bleiben, wenn du diesem Gohr gegenüberstehst«, brummte Lars.

Niko nahm ein Stück Springbockfleisch vom Teller und biss hinein.

»Wie werden wir nach Urta reisen?«, fragte Lars, obwohl er die Antwort schon wissen musste.

»Numba wird uns dorthin bringen«, sagte Balthasar beiläufig, als er ein Stück Springbockfleisch nahm.

»Muss das wirklich sein?«, hakte Lars nach.

»Ja«, nickte Balthasar, »es ist sehr weit, bis nach Urta.«

Niko schob sich ein Stück Fleisch in den Mund und schwieg.

»Willst du noch etwas Springbockfleisch?«, fragte Nox an Niko gewandt.

»Ja, gerne«, antwortete Niko schnell und wandte sich dann Juana zu. »Das ist ja schließlich unsere Henkersmahlzeit, da muss ich nochmal zuschlagen.«

Juana verzog die Mundwinkel.

»Und du, Kaspar, solltest endlich mal lernen mit dieser verdammten magischen Karte umzugehen. Dann könnten wir uns den Drachenflug ersparen«, murrte Niko.

***

Es war noch früh am Morgen, als Balthasar Kaspar und seine Freunde mit einem fröhlichen, »Habt ihr gut geschlafen?«, weckte.

Von wegen gut geschlafen, dachte Kaspar. Immer wieder war er aufgewacht, weil er von irgendwelchen Monstern geträumt hatte. Kaspar fühlte sich gerädert und wäre gerne noch etwas länger liegen geblieben.

Niko war der Erste, der aufstand. »Die Sonne ist ja noch nicht einmal aufgegangen«, brummte Niko, als er verärgert zum Fenster hinaussah.

Juana reckte sich und gähnte kurz, bevor sie sich aus ihrer Schlafstätte erhob, dann half sie Balthasar das Frühstück zuzubereiten.

Kaspar trat gähnend an den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Schweigend beobachtet er seine Freunde.

»Wo ist Nox?«, fragte Juana.

»Er ist draußen bei Numba«, antwortete Balthasar.

Lars stand schweigend auf und ging zur Tür.

»Wo willst du denn hin?«, fragte Niko.

»Ich will mich waschen«, antwortete Lars.

»Was? Da draußen?«, fragte Niko verstört.

»Ja, natürlich da draußen«, sagte Lars.

»Es ist bitterkalt«, schüttelte Niko den Kopf.

»Wenn du rechts um die Hütte herum gehst, gibt es ein kleines Bad«, sagte Balthasar, der am Herd stand und mit einem Holzlöffel in einer Schüssel rührte.

»Seit wann ist denn da ein Bad?«, staunte Niko.

»Seit dieser Nacht«, antwortete Balthasar. »Nox hat es extra für euch gebaut«, erzählte Balthasar.

»Prima«, freute sich Lars.

»Warte, Lars! Ich komme mit dir«, sagte Niko.

»Ist es dort auch warm?«, rief Niko Balthasar zu.

»Nox hat dort einen Wärmezauber ausgesprochen«, antwortete Balthasar.

»Ladys First«, sagte Juana und trat mit erhobener Nase an Niko und Lars vorbei.

Bevor Niko oder Lars etwas sagen konnten, verschwand Juana durch die Tür.

»Seit wann ist die 'ne Lady?«, fragte Niko an Lars gewandt.

Lars zuckte nur mit den Schultern.

»Ich darf gar nicht daran denken«, schüttelte Niko den Kopf.

»Woran?«, fragte Lars schnell.

»Mit Numba zu fliegen«, antwortete Niko.

»Davor graust es mir auch schon«, sagte Lars.

»Ich werde mit einem Zauber dafür sorgen, dass uns während des Fluges nichts geschehen wird«, bemerkte Balthasar.

»Warum bloß können mich diese Worte nicht beruhigen?«, nuschelte Niko.

***

»Das Frühstück war wirklich gut«, lobte Niko.

»Danke«, lächelte Balthasar zufrieden.

»Das Bad und das Wasser waren schön warm«, schwärmte Lars.

»Ja, vielen Dank für alles, Nox«, sagte Juana freudig.

»Oh, bitte, bitte«, sagte Nox, »es freut mich, wenn es euch gefallen hat.«

Kaspar war schweigsam geworden.

»Bist du auch satt?«, fragte Nox an Kaspar gewandt.

»Ja«, sagte Kaspar beiläufig.

Balthasar nahm die beiden Lederbeutel, in denen die Zaubertränke waren, vom Regal und befestigte sie an seinem Gürtel.

Juana stand auf und wollte den Tisch abräumen, doch Nox sagte: »Lass alles stehen, Juana. Ich mach nachher den Abwasch, wenn ihr fort seid.«

»Du kommst nicht mit uns?«, fragte Lars irritiert.

»Nein«, schüttelte Nox heftig den Kopf, »ich bin doch nicht verrückt.«

»Wie meinst du das?«, wollte Niko sofort wissen.

»Ich fliege doch nicht mit einem Drachen«, winkte er ab, »viel zu gefährlich«, ergänzte er, und Kaspar sah, wie die Gesichter von Niko und Lars an Farbe verloren.

»Aber Balthasar schützt uns doch mit einem Zauber«, stotterte Lars.

Nox beugte sich vor, sah kurz zu Balthasar, der am Herd stand und ein wenig Proviant für die Reise einpackte, und flüsterte dann: »Also, beim letzten Mal, als ich mit Numba geflogen bin, hat Balthasar den Schutzzauber vergessen ...«

Nox schwieg, als Balthasar zu ihm blickte.

»Was ist dann passiert?«, fragte Lars schnell, als sich Balthasar wieder dem Herd zugewandt hatte.

Nox legte die Stirn in Falten und flüsterte: »Was glaubst du denn, was ohne Schutzzauber passiert?«

»Ihr seid doch nicht etwa heruntergefallen?«, fragte Niko besorgt.

Nox nickte heftig.

»Oh, doch, ganz gewiss ...«, fing Nox an, und ihm blieb das Wort im Mund stecken, als Balthasar hinter ihm stand und ihn ermahnte: »Erzähl' ihnen die ganze Geschichte, Nox!«

»Jaja, das habe ich doch getan.« Nox wurde verlegen.

»Hast du da nicht eine Kleinigkeit vergessen?«, sprach Balthasar mit tiefer Stimme.

»Nun ja«, fing Nox an und kratze sich verlegen mit seinem Wurzelzeigefinger am Hinterkopf, »also, ich ...«

»Nox hat zu mir gesagt, dass er den Schutzzauber aussprechen wollte«, erklärte Balthasar, »und deswegen habe ich es nicht mehr getan.«

»Nun ... ja, ... also«, stotterte Nox, »dieses kleine Missgeschick – du hättest es merken müssen, dass ich es vergessen hatte«, schimpfte Nox und schwebte zur Küche.

Kaspar legte etwas Proviant in seinen Rucksack zu den Schätzen. Der Rucksack hatte mit der Zeit an Gewicht zugenommen, dachte Kaspar. Es befanden sich mittlerweile eine goldene Kugel, ein Fläschchen mit dem magischen Gebirgswasser, ein kleiner Rubinschädel, ein Beutel Goldmünzen, ein goldenes Medaillon mit dem königlichem Wappen und ein goldenes Pferd darin.

Kaspar schulterte den Rucksack.

Balthasar verließ die Hütte.

Kaspar und seine Freunde standen bei Nox.

»Bis später, Nox«, murmelte Niko zum Abschied.

»Bis später«, sagte Lars.

»Bis bald, Nox«, lächelte Kaspar ihm zu und verabschiedete sich mit einem Handzeichen.

»Sei nicht böse auf Balthasar«, sagte Juana und gab Nox einen kurzen Kuss auf die rechte Wurzelwange, und Kaspar glaubte ein schimmerndes Rot in Nox' Gesicht zu sehen.

»Kommt, Freunde! Balthasar wartet auf uns«, sagte Kaspar und ging voraus.

 

»Jetzt mach mal keinen Stress hier«, schimpfte Niko und folgte Kaspar durch die Tür.

Kaspar wandte sich der Hütte zu.

Lars verabschiedete sich noch einmal von Nox: »Also, dann, Nox, bis später.«

Lars trat hinaus.

Juana folgte ihm.

***

Numba beugte bereitwillig seinen Kopf zu Boden. »Sollen wir wirklich mit dem Drachen fliegen?«, fragte Lars gequält, als Balthasar sie aufforderte auf Numbas Nacken zu steigen.

»Er wird uns sicher nach Urta bringen«, erklärte Balthasar in einem ruhigen Ton.

Balthasar machte den Anfang und nahm vorne Platz. Kaspar folgte ihm schnell.

»Kommt schon!«, drängte Kaspar seine Freunde und sagte zu Niko gewandt: »Du willst doch bestimmt zum Abendessen wieder hier sein?«

»Natürlich will ich das«, brummte Niko und folgte Kaspar.

Kaspar sah, wie Lars zögerte und ängstlich in Numbas Drachenaugen blickte. Und als Juana ihn aufforderte auf Numbas Nacken zu steigen, kletterte Lars vorsichtig an der schuppigen Drachenhaut empor. Juana schüttelte den Kopf und folgte ihm. Balthasar umschloss sie alle mit einem Schutzzauber, der verhindern sollte, dass sie während der Reise herunterfielen.

»Das Wetter meint es gut mit uns, aber der Schnee wird sicherlich noch kommen«, vermutete Balthasar.

Kaspar schaute in die blasse, kalte Sonne am morgendlichen Himmel, die ihre Strahlen über die Vulkanlandschaft sandte.

Die Sonne schaffte es noch nicht die nächtliche Kälte zu vertreiben. Und überall dort, wo die Sonne noch nicht hinkam, konnte Kaspar den Reif der Nacht erkennen.

Balthasar umschloss alle noch mit einem Wärmezauber, dann gab er einen Befehl, und Numba startete sofort. Niko und Lars hielten sich krampfhaft an der schuppigen Drachenhaut fest, während Kaspar und Juana freudig grölten.

»Flieg nicht so rasant«, ermahnte Balthasar den Drachen.

Numba drehte eine Ehrenrunde über Balthasars Hütte.

»Da unten ist Nox«, sagte Juana und winkte ihm zu.

Nox winkte zurück, und Numba beschleunigte schneller als ein Ferrari.

»JUHU«, schrie Kaspar.

»JEH«, schrie Juana.

»Wir sind am Arsch«, stöhnte Niko, und Lars hielt sich die Hand vor den Mund. »Kotz' mir bloß nicht ins Kreuz, Lars!«, ermahnte Niko seinen Freund.

Zu Fuß oder zu Pferd hätte die Reise wahrscheinlich Tage gedauert, ging es Kaspar durch den Kopf. Numba flog schnell, und schon bald hatten sie Feuerland hinter sich gelassen. In einer grandiosen Bergwelt hoch oben auf einer Bergspitze stand ein altes Kloster. Kaspar erfuhr von Balthasar, dass noch nie ein Fremder diese Anlage betreten hatte. Das Kloster war nach allen Seiten gesichert und uneinnehmbar. Die dort lebenden Mönche hüteten einen wertvollen Schatz. Schon oft hatten Diebe versucht, die verschlungenen Bergpfade zu passieren, wo auf Schritt und Tritt Gefahren lauerten. Die Gier nach dem Schatz war so groß, dass sie die Warnungen der Mönche missachteten und auf den schmalen Bergpfaden den Tod fanden. Kaspar warf einen letzten Blick auf das Kloster.

Eine gefühlte Stunde später folgten Kaspars Augen einer Herde Springböcke, die eine Ebene durchstreiften. Kaspar hielt sich fest, als Numba plötzlich an Höhe verlor und dem Erdboden entgegen raste.

»Nicht so schnell, Numba!«, ermahnte Balthasar.

Numba steuerte auf einen Wald zu und flog dicht über ihn hinweg.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Niko, nachdem sie schon einige Stunden geflogen waren.

»Wir sind bald da«, sagte Balthasar.

»Wird ja auch langsam Zeit. Ich habe keine Lust im Dunkeln zu fliegen«, brummte Niko.

Juana lachte.

»Was gibt's denn da zu lachen?«, murrte Niko.

»Ach, nichts«, winkte Juana ab.

»Lande da unten auf der Lichtung zwischen den Bäumen, Numba«, sagte Balthasar. »In Urta ist kein Platz für dich«, ergänzte er noch.

Obwohl Numba aus großer Höhe auf Fels landete, machte er nicht mehr Lärm als Wassertropfen, die zu Boden fielen. Numba verharrte einige Sekunden, bevor er den Nacken senkte.

Lars war der Erste, der vom Drachen stieg, schnell folgte Niko, dann Juana und Kaspar. Bevor Balthasar abstieg, lobte er Numba, dass er sie wohlbehalten ans Ziel gebracht hatte.

»Es ist schon Nachmittag, und wir haben noch nichts gegessen.« Niko schielte auf den Beutel Proviant, den Balthasar an einem Riemen über der Schulter trug. »Ich hab vielleicht einen Kohldampf«, ergänzte Niko.

»Du musst dich noch etwas gedulden, Niko.« Balthasar klopfte mit der flachen Hand auf den Beutel. »Später, wenn die Arbeit getan ist, werden wir zusammen essen.«

»Na toll, bis dahin falle ich ja vom Fleisch«, schimpfte Niko. Balthasar übernahm mit Kaspar und Juana die Führung.

Niko und Lars folgten widerwillig. Numba blieb zurück und sollte hier auf ihre Rückkehr warten.

Sie passierten eine kleine Holzbrücke. Kaspar sah hinunter zum kleinen Bach, dessen kristallklares Wasser schnell unter ihnen dahinfloss. Der Wald endete, und die ersten Häuser kamen zum Vorschein. Ein schmaler Weg führte sie direkt auf den breiten Hauptweg, der quer durch Urta verlief. Es war still, nur in der Ferne hörte Kaspar ein Knurren, und irgendwo schloss jemand eine knarrende Tür. Rauchschwaden stiegen aus Kaminen empor.

Kaspar blieb stehen.

»Es ist unheimlich hier«, bemerkte Lars.

»Ja, es sieht hier aus wie in einer Geisterstadt«, hauchte Niko.

»Eigenartig«, sagte Juana.

»Ja«, bemerkte Kaspar.

Balthasar zuckte nur mit den Schultern, als Kaspar ihn fragend ansah.

»Ob Gohr angegriffen hat und deswegen niemand zu sehen ist?«, fragte Kaspar an Balthasar gewandt.

»Es liegt ein Schutzzauber über Urta, der in einem Obelisken steckt. Gohr kann Urta nicht gefährlich werden. Der Obelisk steht da hinten, mitten auf dem Dorfplatz. Agilon der Zauberer hatte ihn erschaffen«, erklärte Balthasar.

»Dann muss Agilon ein mächtiger Zauberer sein«, staunte Kaspar.

»Warum hat er Gohr nicht schon längst von hier vertrieben?«, fragte Juana schnell.

»Diese Frage lag mir auch gerade auf der Zunge«, sagte Kaspar.

»Er ist leider verstorben«, bedauerte Balthasar.

»Oh, das tut mir leid«, sagte Juana betrübt. »Wann ist er denn gestorben?«, wollte sie wissen.

»Schon vor einigen hundert Jahren. Steinalt ist er geworden – aber kommt jetzt, wir müssen weiter!«

Zwei Männer kamen aus einem Seitenweg. Sie waren gut bewaffnet. Jeder von ihnen trug ein Schwert auf dem Rücken, und am Gürtel einen langen Dolch, der in einer ledernen Scheide hing. Sie waren dem Wetter entsprechend gekleidet – wärmende Jacken mit Fell gefüttert. Der größere Mann sprach Balthasar an, während der kleinere, etwas untersetzte, Mann seine Hand auf den Dolchgriff legte.

»Seid gegrüßt, Fremde«, sagte der größere Mann. »Was führt euch hierher?«

»Mein Name ist Balthasar, und das sind meine Freunde«, antwortete Balthasar.

»Balthasar der Zauberer?«, fragte der kleinere Mann.

Balthasar nickte.

Der kleinere Mann nahm sofort seine Hand vom Dolchgriff und sagte: »Ja, jetzt erkenne ich Sie wieder. Es ist lange her, dass Sie in Urta waren.«

»Ja, eine Ewigkeit«, nickte Balthasar.

»Entschuldigen Sie, Balthasar, aber der Todbringer hat Söldner angeheuert, die Urta vor ein paar Tagen überfallen haben«, sagte der größere Mann. »Mein Name ist Shark«, verneigte er sich leicht vor Balthasar.

»Aber wir haben sie in die Flucht geschlagen«, sagte der kleinere Mann und klopfte dabei auf den Dolch. Er machte eine kurze Atempause. »Ihr könnt mich Thinky nennen«, sagte er beiläufig.

»Kommt ihr von Arasin?«, fragte Shark.

»Nein, wir sind von meiner Hütte in Feuerland aufgebrochen«, antwortete Balthasar.

»Seid ihr zu Fuß gekommen?«, fragte Thinky erstaunt.

»Nein wir sind mit Numba gereist«, antwortete Balthasar.

»Numba?«, fragte Thinky.

»Ja, einem Drachen«, brummte Niko.

Thinky lächelte leicht, als er in Nikos Gesicht blickte.

»Er wartet vor dem Dorf auf uns«, erklärte Balthasar.

»Was wollt ihr in Urta?«, fragte Shark und sagte dann: »Ich frage zu viel. Ihr seid bestimmt hungrig von der langen Reise und möchtet bestimmt ins Wirtshaus«, sagte er.

»JA«, kam es spontan aus Niko heraus.

»Dann wollen wir euch nicht länger aufhalten. Wir müssen unsere Runde drehen«, sagte Thinky.

»Wir sind wegen dem Todbringer hier«, erklärte Balthasar noch.

»Und wenn wir mit ihm fertig sind, braucht ihr euch nicht mehr um ihn zu kümmern«, prahlte Niko.

»Ach so, ja?«, sagte Shark und zog die Augenbrauen hoch, als er Niko ansah.

Niko kratzte sich verlegen am Kopf. Balthasar verabschiedete sich von den Männern und beschloss das Wirtshaus aufzusuchen. Eine Mahlzeit würde ihnen guttun, und außerdem wäre es nicht verkehrt dort zu übernachten. Müde und hungrig sollte man nicht in den Kampf ziehen, sagte der Zauberer zu Kaspar und seinen Freunden.

***

Ausgeschlafen und satt gegessen, verließen sie am frühen Morgen das Wirtshaus, das in der Nähe des Dorfplatzes lag. Kaspar und seine Freunde bekamen noch den Obelisken aus der Nähe zu sehen, der Urta vor dem Todbringer schützte. Natürlich lag Niko wieder eine Bemerkung auf den Lippen, und er fragte, ob Obelix den Hinkelstein dort abgestellt hatte. Lars bekam sich nicht mehr ein vor Lachen. Juana verzog genervt das Gesicht und schimpfte über die Kindereien von Niko und Lars. Niko stellte natürlich wie immer klar, dass sie schließlich noch Kinder waren. Doch Juana machte deutlich, dass nach all den Abenteuern, die sie zusammen durchgestanden hatten, er und Lars sich etwas erwachsener benehmen könnten.

»Komm schon, Juana. Das Leben ist ernst genug, da sollte man ab und zu mal Späße machen dürfen«, fuhr Niko sie an.

»Was weißt du schon vom Leben, Niko?«, zischte Juana.

»Ich denke, ich weiß ...«, fing Niko an, und Kaspar fuhr ihm ins Wort: »Wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren!«

Niko schwieg und schmollte.

Sie verließen Urta westwärts auf dem Hauptweg und folgten dann einem schmalen Pfad.

»Schützt uns der Obelisk hier auch noch?«, fragte Lars.

Balthasar schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er nur und ging voraus.

Kaspar und Juana folgten ihm.

»Nein? Das war alles, was er uns zu sagen hatte?«, schimpfte Niko.

Niko und Lars folgten schnell.

Wasser gab es in dem bewaldeten Gelände genug. Überall flossen kleine Bäche an ihnen vorbei oder kreuzten ihren Weg. Kaspar sah zum Himmel. Ein Bergadler kreiste hoch über ihnen und begleitete sie. Der schmale Pfad führte den bewaldeten Hügel hinauf.

»Bergauf«, stöhnte Niko.

»Ein bisschen Bewegung tut deiner Figur ganz gut«, fuhr Juana ihn an.

»Wir wollten uns doch nicht streiten, Juana«, sagte Kaspar mit Nachdruck.

Juana schwieg einen Moment, bevor sie zaghaft sagte: »Entschuldigung, Niko.«

Kaspar lächelte zufrieden, als Niko die Entschuldigung annahm.

Rechts, wo die Berge nicht so bewaldet waren, sahen sie eine Herde Bergziegen. Kaspar schaute nach links. Fast senkrecht wuchs dort eine Steilwand hoch, aus ihr schäumte ein kleiner Wasserfall. Nach der zweiten Biegung verließen sie den schmalen Pfad und wanderten durch hohes Gras.

»Es ist verzaubert, deswegen richtet es sich von selbst wieder auf«, erklärte Balthasar und beantwortete die Frage, die Kaspar gerade stellen wollte. »Dort oben auf dem Hügel befindet sich ein alter Kultplatz. In den dahinter liegenden Höhlen hat sich Gohr eingenistet.«

Schritt für Schritt näherten sie sich ihrem Ziel. Sie gingen auf einen Pfad zu, der steil aufwärts führte. Balthasar wollte eine kurze Rast einlegen, bevor sie die letzte Strecke zurücklegten. Auf einem Steinfeld, neben dem Pfad, fanden sie Platz.

»Puh, endlich sitzen«, schnaufte Niko und wandte sich dem steilen Weg zu. »Scheiße! Müssen wir da wirklich rauf?«, stöhnte er laut.

»Also, meine Freunde«, fing Balthasar an, »wenn wir die Kultstätte erreicht haben, ist höchste Vorsicht geboten. Gohr ist sehr gefährlich, tückisch und listig.«

»Wir haben schon gegen dämonische Hexen gekämpft«, protzte Niko, »und sie besiegt.«

Daran konnte sich Kaspar nur zu gut erinnern. Unendlich viele blaue Flecken hatte er bei diesem Kampf davongetragen. Haarscharf waren er und seine Freunde dem Tod entkommen. Sie hatten eine große Portion Glück gehabt, dass sie heute noch am Leben waren und hier beisammen sitzen konnten.

 

»Du solltest auf Balthasar hören«, ermahnte Kaspar seinen Freund Niko.

»Ach, komm schon, Kaspar. Da oben erwartet uns ein Gegner, und wir sind zu fünft. Was soll da schon schiefgehen?«, sagte Niko. »Was sagst du dazu, Lars?«, sprach Niko seinen Freund an.

Lars bohrte in der Nase, während Niko auf Antwort wartete.

»Ich sehe, du denkst über meine Frage scharf nach«, zischte Niko, während er immer noch auf Antwort wartete. »Du übst wohl schon für die Beamtenprüfung? Oder willst du mal Politiker werden?«, fragte Niko scharf.

»Was?«, flüsterte Lars abwesend.

»Kennst du die Beamtenprüfung nicht, Lars?«

»Nein.«

»Die ist ganz einfach.«

»Ach ja? Und wie ist die Politikerprüfung?«, fragte Lars interessiert.

»Ist gehopst wie gesprungen.«

»Sag schon! Wie ist sie!«

»Du schaust zwei Stunden aus dem offenen Fenster und denkst an nichts und bohrst dabei ab und zu in der Nase.«

»Hast schon mal bessere Witze gemacht«, schimpfte Lars.

Balthasar reichte ein Brot herum, von dem sich jeder ein Stück abbrach – Niko nahm natürlich das Größte. Als Balthasar den Lederbeutel Wasser herumgereicht hatte, brachen sie auf. Der steile Bergpfad führte durch kahles Gelände, und sie hatten einen tollen Blick auf die Berge ringsum. Während des Aufstiegs sprachen sie nicht miteinander, sondern wanderten durch die geheimnisvolle Stille der grandiosen Bergwelt.

Nach einem langen Aufstieg hörten sie plötzlich ein Rauschen, das vermutlich von einem Wasserfall stammte. Der Pfad machte eine Biegung, und Augenblicke später bot sich ihnen ein spektakulärer Anblick. Der Pfad führte weiter geradeaus in einen Tunnel hinein, rechts vom Pfad ging es steil abwärts. Ein mächtiger Wasserfall schoss über den Tunnel hinweg, fast senkrecht den Berghang hinab. Vor dem Tunneleingang blieben sie stehen. Kaspar trat an den Abgrund und schaute in die Tiefe und sah, wie sich das Wasser in einem gigantischen Steinbecken sammelte. Von da aus floss das Wasser über den felsigen mit tiefen Rinnen durchsetzten Untergrund weiter hinab.

Niko trat an Kaspars linke Seite. »Boah, voll cool«, schwärmte er. »Schau dir das an, Kaspar!«, sagte Niko und deutete in Richtung Felsrinnen.

Nachdem das Wasser über die Felsrinnen geflossen war, sammelte es sich am Fuß des Berges zu einem reißenden Strom, der an einem mit Bäumen gesäumten Ufer vorbeifloss.

»Ein schöner Ausblick«, schwärmte auch Juana, die jetzt an Kaspars rechter Seite stand.

»Ja, es ist wunderbar«, sagte Kaspar und lächelte sie an.

Juana blieb ernst. Kaspar vermutete, dass es wegen Niko war, der still dastand und horchte.

Kaspar wandte sich Balthasar zu, der sich mehr für den Tunnel interessierte als für die schöne Landschaft. Lars stand neben Balthasar. Kaspar vermutete, dass Lars Angst hatte zu nahe an den Abgrund zu treten.

»Kommt, wir müssen weiter«, sagte Balthasar.

Kaspar und seine Freunde wandten sich nun auch dem Tunneleingang zu. Das Ende des Tunnels war nicht zu erkennen.

»Müssen wir wirklich da durch?«, zitterte Lars.

»Es ist völlig ungefährlich, Lars«, wollte Balthasar ihn beruhigen, »der Tunnel schützt uns vor dem Wasserfall.«

Einen Augenblick später traten sie in den dämmrigen Tunnel ein, der schon bald einen Knick nach links machte. Es wurde heller, denn in der rechten Felswand befanden sich große Öffnungen, durch die Tageslicht in den Tunnel eindrang. Durch die Öffnungen sahen sie, wie das schäumende Wasser in die Tief stürzte. Das tosende Geräusch des Wasserfalls ließ nach, nachdem sie den Tunnel verlassen hatten. Als der Pfad eine Linksbiegung machte, kehrte die geheimnisvolle Stille zurück.

»Komme mir vor wie auf einem Friedhof«, bemerkte Niko.

»Warum?«, fragte Lars.

»Grabesstille«, hauchte Niko.

Als die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte, machte der Pfad noch einmal eine Linksbiegung, und endlich erreichten sie die alte Kultstätte. Auf merkwürdige Art und Weise schien es hier noch stiller zu sein als auf dem schmalen Bergpfad. Der Wind spielte mit dem Geäst der uralten Bäume, die gespenstische Schatten über sie warfen. Es schien Kaspar so, als ob die Schatten nach ihnen greifen wollten. Die fast vier Meter hohen Steinquader auf dem runden Platz vor ihnen bildeten einen Ring, in dessen Mitte sich ein Steintor befand.

»Es ist unheimlich hier«, flüsterte Lars, und Niko bestätigte ihm das mit einem schweigsamen Nicken.

Neben der Kultstätte befand sich ein gewaltiger Steinwall, hinter dem eine steile Felswand aufragte. Dort war eine breite Höhlenöffnung zu sehen. Kaspar vermutete, dass der Todbringer in dieser Höhle zu finden war. Kaspar ließ den Blick schweifen und suchte nach einem Weg, um über den Wall zu gelangen, aber er fand keinen.

»Ihr wartet bei den Steinquadern. Ich werde mir die Höhle ansehen«, sagte Balthasar.

»Viel Spaß beim Klettern«, scherzte Niko.

»Ich werde doch nicht über den Steinwall klettern«, schüttelte Balthasar den Kopf. »Das ist mir viel zu gefährlich. Die Steine sehen locker und brüchig aus«, ergänzte er.

»Und wie wollen Sie über den Steinwall kommen?«, fragte Lars.

»Mensch, Lars«, atmete Juana schwer. »Balthasar ist ein Zauberer, da wird er bestimmt eine Möglichkeit finden. Er könnte den Steinwall zum Beispiel mit einem Zauber überwinden.«

»Na, toll. Das ist ja ganz toll«, brummte Niko laut. »Dann hätte Balthasar uns ja auch hierher zaubern können, anstatt mit uns den Berg hoch zu kraxeln.«

Balthasar lachte herzlich und schüttelte den Kopf, als er sagte: »Für einen Ort zu Ort Zauber habe ich nicht die richtigen Zutaten dabei.«

»Also hätten Sie es tun können«, stellte Niko fest.

Balthasar nickte.

Niko schmollte.

Lars verzog das Gesicht.

»Aber die Zutaten für diesen Zauber sind schwer zu besorgen«, stellte Balthasar klar. »Es ist eine ganz besondere Pflanze dazu nötig, die wir vorher hätten suchen müssen. Sie muss nämlich frisch benutzt werden.«

»Hmmm«, stutzte Lars. »Warum sind wir nicht mit dem Drachen hierher geflogen?«, fragte er. »Platz dafür wäre hier ja genug.«

»Über dieser Stätte liegt ein Drachenabwehrzauber, deswegen ging es nicht«, erklärte Balthasar.

»Schade«, jammerte Lars.

»Wie wollen Sie den Wall bezwingen?«, fragte Juana gespannt.

»Ich nehme diesen Weg dort. Er führt durch den Steinwall hindurch«, grinste Balthasar freundlich und deutete nach links.

Kaspar und seine Freunde mussten sich anstrengen, damit sie den Weg erkennen konnten.

»Ich werde das Gefühl nicht los«, flüsterte Niko Kaspar zu, »dass der Zauberer uns manchmal verarschen will«, sagte er barsch.

»Was sollen wir tun, während Sie in die Höhle gehen?«, fragte Juana.

»Ihr wartet hier, bis ich euch ein Zeichen gebe, dann kommt ihr nach«, sagte Balthasar und machte sich auf den Weg.

»Der behandelt uns als wären wir noch Kinder«, knurrte Niko, als Balthasar außer Hörweite war.

»Er ist besorgt um uns«, verteidigte Juana ihn. »Außerdem sagst du doch immer wieder, dass du noch ein Kind bist«, stellte Juana klar.

»Ja, das stimmt, wir sind noch Kinder«, warf Lars ein.

»Ja, du vielleicht, Lars«, brummte Niko ihn so laut an, dass Lars einen Schritt zurücktrat.

Kaspar sah, wie Balthasar im Steinwall verschwand.

»Und nun?«, fragte Lars.

»Jetzt warten wir«, sagte Kaspar.

»Langweilig«, sagte Niko.

»Besser Langeweile haben, als in eine Falle zu tappen«, kam es von Juana.

Kaspar kramte aus seinem Rucksack etwas hervor, das in ein Tuch eingewickelt war. Unter den neugierigen Blicken seiner Freunde faltete er das Tuch auf und überreichte ihnen je ein Stück Springbockfleisch. Nikos Miene hellte sich sofort auf, als er den ersten Bissen nahm. Sie tranken Wasser aus einem ledernen Beutel. Niemand sprach ein Wort. Kaspar sah zum Steinwall, aber von Balthasar war noch immer nichts zu sehen. Es vergingen viele Minuten. Langsam machte sich Kaspar Sorgen um den Zauberer. Hoffentlich hatte der Todbringer ihm keine Falle gestellt.

»Wenn Balthasar nicht bald auftaucht, gehe ich zu ihm«, sagte Kaspar nach weiteren Minuten fest entschlossen.

»Aber er hat gesagt, dass wir hier warten sollen«, wandte Lars ein.

»Er ist schon lange fort«, sagte Kaspar.

»Ja, zu lange.« Niko kratzte sich am Kinn. »Also, ich bin auch dafür, dass wir mal nachsehen sollten, wo der Zauberer bleibt.«