Mit schwarzen Flügeln

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Aus der Reihe: Mit schwarzen Flügeln #1
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8

Aus Anfängen wurde mit etwas Zeit Routine. Und Deacon hat­te keinesfalls seine Probleme damit. Es machte ihm sogar rie­sigen Spaß, Tag auf Tag wie ein ganz gewöhnlicher Mensch zu leben. Die Arbeit war zwar nicht so rosig, doch Nadjas Worte über Madeleine stimmten und mit ihr verstand er sich bald ge­nauso gut wie mit den Geschwistern. In seinen Pausen raufte er mit den Kindern und wenn er abends müde bei Teds Woh­nung eintraf, genoss er es, in der Runde beim Feuer zu sitzen und Geschichten zu lauschen.

Trotz dessen, dass er stets höflich und freundlich zu allen Bewohnern der Siedlung war, nie ein böses Wort sagte und für Essen wie Schlafplatz arbeitete, betrachtete man ihn anschei­nend unabwendbar als Außenseiter. Hinterrücks wurde weiter getuschelt und über den Neuen gelästert.

Der Grund war die alte Tesla, die wohl beschlossen hatte, ihn bis in alle Ewigkeit nicht ausstehen zu können. Wenn sie auf seinen Namen spuckte, taten viele es ihr gleich. Ob aus Herdenzwang, Dummheit oder Antipathie, ließ sich nicht sa­gen.

Das außer Acht gelassen, war es hier eigentlich recht schön. Vor allem, bei Nadja zu sein, gefiel ihm.

Ihr Charme, ihr Lachen, ihr unerschütterlicher Wille und die unbezwingbare Hoffnung in ihren Augen ... Da geriet er für die junge Frau ins Schwärmen.

Wegen so einer Gefühlsduselei seine Pflicht als General und Seelenfänger zu vernachlässigen – ganz zu schweigen von dem endgültigen Befehl, sich im Höllenschloss einzufinden – würde ihn Kopf und Kragen kosten, sollte der Morgenstern tatsächlich selbst emporsteigen, um ihn zu holen. Aber er wollte es ja nicht anders. Die Suppe war bereits angebrannt, als die Engel auf den Plan traten.

Sein Bauch sagte ihm, dass das noch schlimm enden wür­de. Doch Wesen der Vernunft ignorierten oft solche Warnun­gen.

Tesla knurrte in ihr Inneres hinein.

Jedes Mal, wenn sie ihn sah, stieß ihr die Galle sauer auf und von dem scheinheiligen Grinsen wurde ihr schlecht. Der Kerl mochte das Gesicht eines Engels haben und damit andere über seine wahren Absichten hinwegtäuschen können. Sie konnte er nicht für dumm verkaufen.

Gefahren zu spüren, war ihr eine nützliche Fähigkeit. Seit Kindestagen wusste sie, welchen Schritt sie wohin setzen musste, um nicht zu stürzen. Oder welche Menschen sie mei­den sollte, weil diese dunkle Gedanken hegten.

Ihre seelische Alarmglocke schellte beim ersten Anblick von diesem Deacon laut los. So hielt sie es für ihre Aufgabe, all die weniger sensiblen Menschen vor ihm zu warnen.

Gerade Frauen, die nur zu empfänglich waren für sein hüb­sches Antlitz. Die sich von diesem Pfau blenden ließen und den süßen Worten seiner Lippen Glauben schenkten.

Ihre größte Sorge galt dabei Nadja. Sie war ständig in un­mittelbarer Nähe dieser trügerischen Kreatur.

„Ich muss mit dir reden“, hielt sie ihre Ziehtochter eines Tages auf, als diese gerade auf dem Weg zur Gemeindeküche war.

Das Mädchen ahnte schon, worum es gehen würde, fragte aber dessen ungeachtet: „Weshalb?“

„Über diesen Burschen, der dir den Kopf verdrehen will.“

Zu einer solchen Anschuldigung fiel Nadja nur hohles Ge­lächter ein. „Mir den Kopf verdrehen? Bitte, Tantchen, das ist doch Unsinn. Wir sind nur Freunde und er -“

Die Alte unterbrach sie: „Er wird dich mit Haut und Haa­ren verschlingen und in die Dunkelheit stürzen! Dieser Mann ist wie ein Dämon, der dir nur Unglück bringt! Er tut dir nicht gut. Besser wäre es, du würdest ihm nicht so leichtgläubig ge­genübertreten. Sei gefälligst vorsichtiger!“

„Ich weiß wirklich nicht, warum du Deacon so verab­scheust.“

„An ihm klebt der Gestank des Todes, Mädchen. Er riecht nach Gewalt und seine Augen kennen den Anblick von Krieg und Leid. Darum wirken sie auch leer wie die schwarzen Au­gen eines Hais. Halte dich fern von ihm, Nadja, oder du wirst es bereuen.“

Sie hatte keine Lust mehr, auf die Worte einer paranoiden Greisin zu hören. Derart wütend war sie auf diese gebeugte Frau nie gewesen, dennoch verbot es ihr der Respekt, ihrer Wut frei Luft zu machen.

Stattdessen wandte sich Nadja von ihr ab und meinte nur beiläufig über die Schulter: „Du solltest ihn besser kennenler­nen, Tante Tess, bevor du ihn verurteilst. Für dich ist er ein Niemand von nirgendwo, doch mir ist er ein Freund.“

„Und was weißt du Wahres über diesen Freund?“, schallte es zurück.

Das musste sie zugeben. Deacon hatte niemals etwas Per­sönliches verraten, außer seinem Namen. Und den noch nicht einmal ganz. Selbst in ihrer Gegenwart war es ausgeschlossen, dass er von sich erzählte. Kein Wort, was vorher gewesen war.

Sie ahnte zwar, dass er ihre Gegenwart genauso genoss, wie sie die seine, bloß vertraute er ihr kein Krümchen seines Lebens an.

Aber da war etwas an ihm. Und es gab ihr Gewissheit. Sie konnte ihm vertrauen und brauchte keine Angst zu haben. Ihr Kopf hätte sie vielleicht gewarnt, jedoch glaubte sie dem Her­zen.

„Ich weiß, dass er ein guter Mensch ist. Und das zählt.“

Ihre Tante schwieg einige Zeit lang. Als sie wieder sprach, war ihre sonst so boshafte Stimme erstaunlich ruhig und um­sorgend: „Nadja. Du bist wie eine Tochter für mich. Versteh meine Bedenken. Ich will dich nicht an diesen Unhold verlieren. Ich will nicht, dass er deine Gutmütigkeit ausnutzt und dir das Herz bricht.“

Diese Art Gefühle irritierten das Mädchen, hatte Tesla es ja oft vermieden, ihrer Mutterrolle gerecht zu werden. Fast wäre sie weich geworden, trotzdem sagte sie schließlich trocken: „Ich habe ihm mein Herz nicht gegeben. Wie soll er es da bre­chen? Auch ein Hai ist kein Monster, Tante. Es gibt keinen Grund, dass ich ihn meiden sollte.“

Deacon war überrascht, als Nadja den Raum betrat, in dem er von Madeleine zurückgelassen worden war – zusammen mit unzähligen Tellern und Tassen, die gespült werden wollten. Bis zum Abendessen war noch genug Zeit, also sprach nichts gegen einen kleinen Plausch unter Freunden.

Eben nur unter Freunden.

Auch wenn er zugeben musste, dass er sie mochte, war er froh darüber, wie sie ihn mit derselben neutralen Herzlichkeit behandelte, gleich allen anderen. Musste er dann gehen, würde sie ihm nicht nachtrauern. Ihr weinendes Gesicht könnte er wohl nicht ertragen.

Sie erzählte ihm Seltsames. Die alte Tesla nannte ihn einen Dämon des Unglücks. Erstaunlich, wie nah das kam. Vielleicht hatte die Hexe wirklich die Veranlagung einer Seherin?

Überraschend kam diese Unterstellung ohnehin nicht.

Es reizte ihn, zu wissen, was sie davon hielt.

„Denkst du auch, ich bin der Teufel?“

„Unsinn“, lachte sie, „du hast einfach nur eine andere Art an dir. Das finden die mit alten Werten halt komisch.“

Schelmisch grinste er sie an. „Also bin ich?“

„Vielleicht ein richtig süßer Engel.“

Er konnte es kaum glauben, doch sie beugte sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen. Es war nur eine kleine Geste der Verbundenheit, gleichwohl schoss ihm das Blut in den Kopf vor Verlegenheit.

Seine kleine Freundin fand das witzig.

Es ist nichts, versuchte sein Verstand ihm weiszumachen. Warum also fühlte er sich dann so ... beflügelt? Eine komische Wortwahl für einen Engel, aber er konnte keinen besseren Ausdruck finden.

Auch Madeleine fiel auf, dass Deacon geistig abwesend wie ein Träumer wirkte und fragte, was los sei. Ob ihm schlecht wäre oder seine Wunde ihm zu schaffen machte.

Ihm ginge es blendend, versicherte er ihr und stolperte mehr als einmal noch über seine eigenen Füße, bis die Köchin ihn schließlich entließ. Er sollte seine Verletzung ausruhen, war ihr Befehl.

Nun gut.

Am Himmel dämmerte der Sonnenuntergang in Flammen­tönen. Nicht wie am Morgen in Rosa und Weiß, sondern hei­ßes Rot und Orange mit kräftigem Gelb. Wenn er so in den Himmel aufsah, wurde er melancholisch.

Ein durchaus romantisches, nichtsdestoweniger unmögli­ches Empfinden war da, wenn er an dieses Mädchen dachte. Illusion. Ein Trugbild, was er für die Zukunft wünschte. Ein Dasein als Mensch mit ihr. Falls auch sie das wollte. Was für ein Unsinn. Jemand wie er konnte nicht normal leben.

Noch nicht einmal naiv hoffen.

Wenn Menschen ihre Blicke auf das Firmament richteten, sahen sie Wolken und bestenfalls Sterne. Dachten an eine große, überirdische Macht und wussten doch, wie sie nur auf einem Staubkörnchen in den Weiten des Universums herum­flogen. Dass die Sonne nicht Gott war, sondern lediglich eine Feuer spuckende Gaskugel. Planeten, Meteoriten, Äonendunst. Sie wussten, unter ihren Füßen war Erde und kein Inferno für die Verdammten. Und wenn sie eines Tages vergingen, war da keine Seele, die in den Urstrom einfloss.

Wie schön es war, unwissend zu sein.

Um die schlichte Freiheit zu glauben, was man wollte, konnten Wesen wie er die Menschen wirklich beneiden.

Deacon hing seinen Gedanken nach. Gefangen in tiefer Versunkenheit registrierte er kaum seinen Weg und die Füße trugen ihn wie von allein auf die Strecke, welche ab von der Siedlung führte, statt zu Teds Haus zu laufen. Als er aufsah, befand er sich schon weit ab vom Platz. Vielleicht war das gar nicht übel. Er sollte gehen, bevor seine Romantik ihm die Schlinge um den Hals enger zog. Nur wollte er nicht.

„Ja, verschwinde endlich von hier, Dämon!“

Dieses Geschrei machte ihn hellwach.

In seinem Schatten stand Tesla, grau und gebeugt in ihren verfilzten Lumpen. Das Abendlicht ließ ihre Falten tiefer wir­ken als gewöhnlich und sie erinnerte wieder an die grimmige Bulldogge, die jeden unerwünschten Gast in die Waden biss. Ihr Auftauchen verhieß nichts Gutes und ihre Beschimpfungen sagten: „Geh weg und komm nie wieder! Ich werde nicht zu­lassen, dass du auch nur ein Herz rauben kannst! Also hau ab! Kein weiteres Mal sollst du willkommen sein!“

 

Sie hustete stark und spuckte ihren Auswurf vor seine Füße, dass er angeekelt noch einen Schritt nach draußen tat.

Deacon hatte ihr laufendes Gekreische aber satt.

„Was habe ich dir getan, alte Ziege?“, fragte er mit Unver­ständnis in der Stimme. „Warum greifst du mich an und me­ckerst, ich sei ein Dämon? Kennst du keinen anderen, den du hassen kannst?“

Wenn Blicke töten könnten ...

Wieder keuchte die Greisin schwer, bevor sie wetterte: „Du bist ein Monster! Streite es nicht ab! Ich spüre es doch! Die Verdorbenheit umhüllt dich. Der Tod und die Not. Du bist ein schändliches Wesen, das nicht auf der Erde wandeln sollte. Bevor du hier unschuldige Seelen verdirbst, sollte man dich bannen und zurück in die Feuer werfen, aus denen du kamst.“

„Es ist völlig idiotisch, was du redest, Alte ...“

„Nadja überlasse ich dir nicht! Ich werde sie von dir fern­zuhalten wissen! Nie wieder soll sie dir zu nahe kommen und du wirst sie niemals wiedersehen! Verschwinde und bleib dort, wo der Pfeffer wächst!“

In Deacon kochte Wut hoch. Was wollte diese alte Vettel eigentlich von ihm? Warum konnte sie ihn nicht in Ruhe las­sen? Er hatte nicht vor, diesen Leuten hier Ärger zu machen und die Seelen zu stehlen. Erst recht nicht die von Nadja oder ihrem Bruder. Woher also diese Missachtung?

Statt zu gehen, stellte sich Deacon kampfbereit ihr entge­gen. Seine gefasste Haltung ließ Tesla etwas zurückweichen. Seine kalten Augen jagten ihr ein ungutes Frösteln über den krummen Rücken.

Seine schwarze Gestalt überragte sie und schien immer be­drohlicher zu werden.

„Bösartiges Weib!“, fuhr er sie an. Im gleichen harten Ton, den er sonst mit Soldaten sprach, drehte er den Spieß um. Jetzt lag es an der Alten, vor ihm zu erzittern. „Dummes Menschen­kind, wie kannst du es wagen? Dein Gekeife ertrage ich nicht mehr! Was bildest du dir ein? Du sprichst hier nicht mit dei­nesgleichen! Und du wagst es, mir zu drohen? Mich zu ver­bannen? Wir beugen uns nicht simplem Menschenwort!“

Tesla war wie zu Eis gefroren. Ihre weit aufgerissenen Au­gen starrten ihn an und sie hielt sich die Ohren zu von seinem Gebrüll. Eine verbotene Stimme, die kein Erdenbürger je hö­ren durfte. Durch ihre Finger sickerte bereits dünnes Blut. Trotz allem drang kein Laut über ihre Lippen.

Deacon dagegen wäre in einen wahren Redeschwall ausge­brochen, wenn es etwas gebracht hätte. Anstatt weiter zu schreien, fuhr er seinen Zorn hinunter und sprach leiser, je­doch nicht weniger ernst: „Ich wollte keinem was tun. Nicht einmal dir, obwohl du alle gegen mich aufhetzt. Ich bin euch dankbar gewesen, weil ihr mich gerettet und aufgenommen habt. Ich wollte doch nur noch etwas normal leben.

Kannst du nicht verstehen?“

Tesla gaffte ihn hohl an, die Hände weiterhin auf die Ohren gedrückt. Zögerlich begann ihr Mund leise Worte zu formen, die Deacon zu spät verstand: „... Ich sehe deine Flügel ...“

Wie das? Erschrocken sah er über die eigene Schulter, nur war dort nichts.

„Ein Engel ...“, hauchte die Großmutter. Da kippte ihr Kör­per auch schon zur Seite. Mit verdrehten Gliedern blieb der Mensch am Boden liegen.

Für eine kurze Zeit war alles still.

„Tesla?“, versuchte Deacon es vorsichtig. Keine Reaktion.

„Tantchen?“ Das Wort allein hätte sie wütend gemacht, aber sie lag weiter reglos zu seinen Füßen. So langsam wurde er nervös. Scheu trat er näher an den Leib heran und hockte sich hinunter. Kein Puls und auch das Herz hörte er nicht schlagen. Die Ohren verrieten ein gerissenes Trommelfell, weil sie seine überirdische Stimmlage nicht ertragen hatte. Doch das tötete niemanden ... Oder?

„So ein Mist!“, fluchte er derb und schlug sich selbst gegen die Stirn.

Ein echter Infarkt. In ihrem Alter von Methusalem war das durchaus denkbar und sein Zutun hatte ihr einen guten Schock versetzt. Seine Flügel sah sie an der Schwelle des Todes und erkannte seine wahre Form.

Sie nannte ihn Dämon und fand einen Engel. Wie witzig.

In anderer Situation hätte er gelacht.

Jetzt war er wieder der Mörder. An einem Ort, den er ei­gentlich lieb gewonnen hatte. Und selbst wenn man den In­farkt als bedauerlichen Unfall abtäte – Teslas Wille würde er­füllt sein. Einige würden sicher ihn als Täter in Betracht zie­hen und ihn davonjagen.

Zwar gab es keine Zeugen, so weit ab in den Müllbergen, aber Deacon rechnete damit, dass jemand verfolgt hatte, wie die Alte den Platz verließ, um ihm nachzugehen.

Und was war mit dem Totenreich? Registrierte man dort bereits ihren Lebensabbruch?

So eine dreimal verfluchte ... Nein, das bringt auch nichts.

Die Leiche wegzutragen, war zu gefährlich. Sie liegen zu lassen nicht weniger verdächtig. Hin- und hergerissen ent­schied er sich trotzdem für Letzteres. Bei den Menschen hoffte Deacon auf die Unfalltheorie, um Hades machte er sich später Gedanken ...

Er brauchte rasch für beide Fälle ein Alibi, sonst würde es bald sehr brenzlig werden. Warum ritt er sich nur immer in verzwickte Situationen?

Positiv sehen. Es war der beste Grund zu gehen, sollten diese Bauern ihm auf die Schliche kommen.

Als wäre nichts vorgefallen, ließ er die Tote im Dreck zu­rück und hastete schnell einen Umweg, dass er sicher nach Hause kam.

Ted und Nadja begrüßten ihn herzlich wie eh und je. Von sei­ner inneren Anspannung merkten die Geschwister keine Spur und gemeinsam verbrachten sie den Abend, als sei alles wie gehabt. Woher sollten sie wissen, dass sie einen Gesuchten be­herbergten, der gerade ihre Ziehmutter ermordet hatte?

Die Nacht ließ ihn kaum schlafen. Noch nie hatte er wegen seiner Arbeit Schuld verspürt.

Deacon richtete die Sünder und befreite gequälte Seelen von ihrem Leid. In seiner ganzen Zeit als Häscher hatte er kei­nen Unbeteiligten aus Versehen getötet. Mit Tesla als Erster, die diesen Kodex brach, hätte er niemals gerechnet.

Es graute ihm davor, sich beim Morgenstern erklären müs­sen.

Er fürchtete den neuen Tag.

Wieso eigentlich?

Wollten einfache Menschen ihn erschlagen?

Teslas kalter Leichnam wurde mit der aufgehenden Sonne ge­funden. Ted und Nadja waren sofort losgerannt. Deacon folgte ihnen langsamer.

Keiner in der Siedlung warf einen Verdacht auf ihn. Nie­mand tuschelte verschwörerisch, als sie sich alle am Zielort versammelten. Die Menschen waren zu traurig. Zu erschüttert. Überall um die Tote herum standen weinende Gesichter.

Deacon verstand nicht ganz, warum sie so beliebt gewesen war.

Nadja weinte und hielt sich an ihrem Bruder fest. Dessen Gesicht war hart, wie in Stein gemeißelt. Ted war so wutent­brannt, dass Deacon es nicht wagte, auch nur ein Wort an ihn zu richten, aus Sorge, er könnte vor Zorn explodieren.

„Oh, mein Gott“, schluchzte das Mädchen und rieb über die roten Augen. „Wie ist das passiert? Gestern war sie doch noch in Ordnung und jetzt?“

Er betrachtete sie mit Sorge. Den Tod der alten Frau ver­schuldet zu haben und den damit verbundenen Kummer ... Sein Gewissen schlug Alarm. Trauer überfiel ihn wie ein nächtlicher Räuber. Nicht um Tesla, aber darum, mit Tränen Nadjas Augen zu füllen. Ihre Schmerzen fühlte er, als wären es die seinen.

Diese elende Empfindsamkeit. Für einen Geflügelten war er wirklich viel zu nah am Wasser gebaut. Er sollte sich wirk­lich mehr ein Beispiel an seinen älteren Kollegen nehmen. Die hätte dieses kleine Missgeschick kalt gelassen.

„So ist halt das Leben. Es entsteht und vergeht. Der Tod gehört dazu, Nadja“, sagte er leise.

„Nicht dieser Tod“, kam es von Ted. Er wusste es. Das angsterfüllte Gesicht Teslas konnte er lesen wie ein offenes Buch. „Ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist, dass ich denjenigen, der das hier zu verantworten hat, finden werde. Ich werde ihn dafür bezahlen lassen.“

Deacon zweifelte nicht an seinen Worten.

9

„Seht euch den an!“, sagte ein greiser Mann mit graubraunem Schnauzbart. Mit seiner dünnen Hand wies er auf Deacon, der in einer Kindergruppe hockte und mit einem Stock im Erdbo­den Linien zog. Die Kinder lachten über die fantasievollen Bilder und hörten aufgeregt von den utopischen Abenteuern, die er dazudichtete.

„Findet ihr es nicht seltsam“, redete der Schnauzbart wei­ter, „dass dieser Galgenvogel schon wieder lacht? Tesla ist tot und er vertrödelt seine freie Zeit mit Albernheiten. Madeleine ist viel zu mild mit ihm. Elender Nichtstuer. Er ist wieder ge­sund. Warum sucht er nicht endlich das Weite? Seit er hier ist, geht alles drunter und drüber. Ich hoffe, dass er bald ver­schwindet.“

Die anderen beiden Alten neben ihm nickten und schimpf­ten auf Deacon, der das Unglück zu ihnen gebracht hatte. Gleich einem Vorboten des Verlustes.

„Tesla tat schon recht, als sie sagte, dieser dürre Hans führt uns an der Nase herum. Der verbirgt etwas, bei meinem Bart. Oft ging er Tesla und ihrem Urteil aus dem Weg und druckste faul herum. Sie hat ihm immer misstraut, bestimmt aus gutem Grund. Verdächtig, dass sie gestorben ist, solange er bei uns war.“

„Du meinst, er hat sie umgebracht, Lund?“, fragte der eine Jasager.

Er zwirbelte seine Bartspitzen. „Ich könnte es mir gut vor­stellen. Tesla war alt, aber stark. Dass ihr Herz einfach ausge­setzt haben soll, halte ich für unwahrscheinlich. Ihr kennt doch die Gerüchte? Was glaubt ihr, wie groß der Zufall ist, dass der Tod aus der Stadt zu uns kommt?“

Den beiden Männern war der Schrecken anzusehen. „Lund, du willst doch nicht sagen, er ist dieser Geist?“

„Bevor er herkam, habe ich aus der Stadt gehört, dass Tote gefunden wurden. Eben solche Tote, die überraschend und ohne Anzeichen von Krankheit plötzlich verstarben. Sogar ein Priester war unter ihnen!“ Lund ballte die Fäuste. „Und dann schleppte Nadja auf einmal diesen halb toten Bastard an. Kei­ner hat ihn zuvor gesehen und mehr als einen Namen hat er nicht preisgegeben. Jetzt passiert diese Tragödie. Findet ihr das nicht komisch?“

Wieder nickten und bejahten sie.

Schallendes Gelächter drang von der Kindergruppe zu ih­nen herüber. In dem bunten Lügenmärchen Deacons schien es hoch herzugehen.

Lund jedoch war mehr als ungehalten über den Spaß. Ziel­strebig ging er auf die kleine Versammlung zu und verfolgte dabei die Spuren im Sand. Fremdartige Erscheinungen. Tier­zeichnungen, die er noch nie gesehen hatte. Unbrauchbares Zeug. Gebilde eines wirren Verstandes, wie er fand. Dieser Junge vergiftete mit seinen albernen Tagträumereien den Ver­stand der Kinder. Füllte ihre Köpfe mit Holzwolle und Stroh.

Dem setzte er ein Ende. Mit starkem Griff packte er Dea­con am Arm und zog ihn von der Hocke auf die Beine. Ein merkwürdiger Geruch ging von dem Burschen aus und stieg in Lunds Nase, wo er längst vergessen geglaubte Erinnerungen wachrief. Wie an den Tagen zu Weihnachten duftete es auf ein­mal nach Karamell, Äpfeln und Nüssen. Dinge, die er als Kind geliebt hatte. Sofort schüttelte Lund diese Gedanken ab und befasste sich wieder mit der Realität.

Der junge Mann starrte erstaunt auf den Älteren zurück. Die Kinder riefen auf, weil man ihnen den Geschichtenerzäh­ler entzog, wo sie doch alle das Finale hören wollten.

„Was glaubst du eigentlich, was du hier tust?“, fragte Lund mit harter Stimme.

„Ähm ... Nichts?“ Deacon zuckte schüchtern mit den Schultern. „Wir spielen, die Kinder und ich. Mehr nicht. Ist das schlimm?“

„Bist du ein Waschweib oder ein Mann?“

Darauf antwortete er nicht und ließ Lund in seinen Gedan­ken eine eigene Antwort wählen.

Lund stieß ihn weg. „Geh zu Madeleine. Sie soll dir etwas zu tun geben, sonst kommst du nur auf dumme Gedanken. Ar­beite für dein Essen! Wir füttern keine Faulpelze und Träumer durch!“

Deacon entschuldigte sich reumütig und ging davon. Die Kinder trauerten mit einem enttäuschten „Oooch“-Gestöhn seinen Schritten nach. Da half jedoch kein Betteln.

Madeleine war verdutzt, ihn an einem freien Tag zu beschäfti­gen und hatte nur wenige Töpfe parat, die er aufwaschen konnte.

Während er gerade den vierten Pott sauber wegstellte, hör­te er hinter sich am offenen Fenster Flügel schlagen. Ein Krächzen verkündete ihm die Ankunft eines Vogels. Wie be­fremdlich, wo der Himmel in dieser Gegend wegen der starken Luftverschmutzung seit Jahren ohne Federvieh auskam.

 

Das schwarze Biest war weit größer als eine gewöhnliche Saatkrähe und besaß nur ein blutrotes Auge auf der Stirn. Vor seinem General neigte es das Haupt als Geste des Respekts und überbrachte ihm eine Rolle Pergament in seinen gefähr­lich scharfen Krallen.

„Ihr habt mich gefunden? Na super“, seufzte Deacon und entrollte die Nachricht. Die Schrift, die zum Vorschein kam, war geschwungen, filigran und weit verzweigt. Magie umhüll­te jeden einzelnen Buchstaben und ließ ihn leuchten und glit­zern, als sei er mit flüssigem Licht geschrieben.

Es war Enoch. Schrift und Sprache der Geflügelten.

Trotz dieser Schönschreibe stand Folgendes notiert:

„Hochverehrter Herr General,

wo zum Henker treibst du dich eigentlich rum? Seit Tagen hört man kein Wort von dir. Ich hoffe wirklich, dass dich der Vogel findet. Hier unten ist die Hölle los. Ja, im wahrsten Sin­ne. Einige Truppen proben den Aufstand und wollen den Fluss Lethe überqueren. Charon ist etwas überfordert – er hatte einen Nervenzusammenbruch und meinte, wenn sich die Si­tuation nicht bessert, tritt er in den Arbeitsstreik. Hades kocht über vor Wut, weil die Dämonen sich am Tor stauen. Alle wol­len Krieg mit den Weißen führen. Aber keiner macht wirklich den ersten Schritt. Ich hab die Schnauze echt voll, mir von die­sen Rotkappen was erzählen zu lassen! Also, wenn es dir nicht so viel ausmacht, schieb deinen Arsch zu uns runter! Lou geht schon an die Decke. So schlechte Laune hatte der seit dem letzten Großen Krieg nicht mehr.

Ich und alle anderen erwarten eine POSITIVE Antwort von dir, klar?

Hochachtungsvoll

Archon Frozener

Postskriptum: Viel Spaß mit den Konsequenzen.“

Deacon musste ein lautes Loslachen zurückhalten, sonst wun­derte sich die Köchin im Nebenraum noch, was er beim Spü­len so witzig fand.

Heilige Seekuh, es war nun mal zu komisch. Die tiefste Hölle hatte viele fähige Generäle in ihren Reihen – weit furchtbarere Kreaturen als ihn. Und dennoch war außer ihm wohl niemand in der Lage, die Truppen in Schach zu halten. Nicht einmal die Archonen, und die waren des Morgensterns engste Vertraute.

Der Vogel zupfte in seinem Gefieder herum und riss sich eine Feder aus. Sie war mit Blut wie Tinte gefüllt. Er reichte sie seinem Heerführer, damit dieser eine Antwort auf der Rückseite des Pergaments verfassen konnte.

Allein beim Schreiben grinste Deacon schon breit.

„Hi Frozy,

ja, mir geht es gut. Hatte hier nur ein paar Probleme mit der Weißen Garde und musste untertauchen.

Diese Typen haben einen neuen Anführer und sind mit dem noch lästiger geworden als Beelzes Schmeißfliegenschwadron. Die Info ist mir bis kürzlich nicht bekannt gewesen, der Chef hätte mal was sagen können!

Ich will wirklich versuchen, schnellstmöglich bei euch zu sein, um den strahlenden Retter in der Not zu spielen. Haltet noch aus und sagt Hades, alles wird gut. Schließlich hat jeder von uns so seine Sorgen und da ist ein volles Haus die gerings­te. Ich werde später mit ihr reden.

Was den Morgenstern betrifft, dem bringe ich ein paar See­len zum Ausgleich für meine Fehlzeit mit (keine Listeneinträge, nehm die Erstbesten). Sein begehrtes Kleinod habe ich nicht gefunden. Muss er selbst mal suchen.

Ist dies positiv genug? Nein? Pech.

Dir auf die Finger tretend

D.

P. S.: Ich liebe es, wenn du mir drohst.J“

Diese Ansage passte keinem, und ganz sicher nicht dem Höl­lenfürsten. Deacon blieb erstaunlich unbesorgt und gab Perga­ment und Schreibfeder dem Dämonenvogel zurück. Sanft streichelte er noch den strubbligen Kopf, was der Kreatur sehr gefiel und freudig krächzend kuschelte sie ihre Federn in sei­nen Handteller.

„Na, mach schon los“, sprach Deacon schmunzelnd. „Die warten auf dich.“

Und kaum, dass das Flügeltier sich aufgeschwungen hatte, kam Madeleine durch die Tür gehastet.

„Deac? Habe ich hier einen Vogel gehört?“

Elender Lügner, der er war, verzog er unwissend das Ge­sicht. „Nein. In dem Himmel gibt es doch keine Vögel mehr.“

„So? Nun ...“ Sie blickte sich etwas verwirrt um, „... ach, ich bin wohl einfach noch zu sehr durch den Wind. Die letzten Tage waren anstrengend, seit Tesla ...“

Madeleine atmete aus. Auch sie litt unter dem Tod der al­ten Frau, hatte die sie doch zur Chefköchin ihrer Gemeinde er­nannt.

Seltsam, was sie für eine große Lücke in den Herzen hin­terließ. Der keuchenden Schabracke hätte er diesen Einfluss gar nicht zugetraut. Irgendwie wäre er gern mit ihrer besseren Hälfte mehr vertraut gewesen. Dann würde Tesla jetzt noch le­ben.

„Deacon, lass die Arbeit gut sein“, sagte die Köchin schwermütig. „Das bisschen schaffe ich allein und ich brauche die Arbeit, um auf andere Gedanken zu kommen. Du aber soll­test nach Nadja sehen. Ich mache mir Sorgen. Bestimmt braucht sie jetzt Trost. Sei ihr ein guter Freund.“

Das würde er ganz sicher sein. Das sonst so fröhliche Mädchen war sehr still geworden und auch ihn belastete ihr Kummer. Nadja hatte kaum darüber geredet und versteckte sich vor unbequemen Fragen, weshalb er sie eigentlich in Ruhe lassen wollte. Wenn er aber nicht zusehen möchte, wie sie weiterhin ihr Selbst im Trübsinn verlor, musste er handeln.

Dankend neigte er den Kopf vor Madeleine und machte sich auf.

Nadja lag auf ihrem Bett zu einer Kugel zusammengerollt und hatte die Decke über den Kopf gezogen, als könnte die alles aussperren, was ihr das Herz zu verletzen drohte. Ihr Gesicht war ganz nass vor Tränen und die Augen rot und geschwollen. Der Bauch tat ihr aus lauter Gram weh und der ganze Appetit schien verloren, obwohl ihr Ted noch die besten Stücke der Küche überlassen hatte, bevor er gegangen war.

In ihrem Kopf hallten die Streitgespräche wider, die sie mit ihrer Ziehmutter gehabt hatte. All die Male, in denen sie sich uneins gewesen waren und angeschrien hatten. Und dann tauchte das Bild ihrer Leiche auf, die wie vor Angst erstarrt aus toten Augen blickte. Einer Anklage gleich.

Sie zog die Knie näher unter das Kinn und schluchzte leise.

Da hörte sie die Tür ihres Zimmers aufgehen und das Ge­räusch von Schritten, die dem Bett näher kamen. Jemand setz­te sich auf die Matratze, die unter dem fremden Gewicht ein­sank.

„Hey“, sprach Deacons ruhige Stimme, „versteckst du dich?“

Seine Hand hob einen Zipfel der Decke an und das hüb­sche Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf. Das falsche Grin­sen hatte er sein lassen, dennoch lächelte er sie jetzt offen an.

„Ich weiß, du hast deinen Stolz und das respektiere ich“, fing er an, „aber du schadest dir nur selbst, wenn du weiter al­lein trauerst. Der Tod ist nicht deine Schuld.“

Nadja warf ihren Kopf in das Kissen, als neue Tränen lie­fen. Vor ihm wollte sie aber nicht mehr weinen. Als sie sprach, klangen ihre Worte gedämpft durch den Stoff: „Warum verlas­sen mich nur immer die Menschen, die ich liebe? Mutter wie Vater habe ich schon verloren und jetzt ist auch Tante Tess ge­storben! Das ist unfair! Selbst mein Bruder ist nicht mehr da! Der sucht überall nach einem Mörder, von dem keiner weiß, ob er überhaupt existiert! Ich fühle mich so allein, Deacon ... Weißt du, wie schlimm das ist?“

Er zog langsam die Decke etwas zurück und meinte dabei: „Ich kenne die Einsamkeit sehr gut. Ich bin in dieser Welt im­mer allein gewesen. Und ich habe so viel verloren, dass es je­dem die Seele zerreißen würde. Doch es hilft nichts, wenn man nur der Vergangenheit nachweint. Das löscht den Schmerz nicht aus. Du musst die Toten nicht beweinen. Vor al­lem nicht, wenn sie so ein langes Leben des Leides hinter sich haben. Lass Teslas Seele von der Welt gehen. So wird sie frei für ein neues Leben und ich wünsche ihr für dieses alles Gute.“

Sie schluchze erneut und er legte eine Hand auf ihre Schul­ter.

„Nadja, bist du wirklich allein ohne deine Tante? Ted wird zu dir zurückkommen und ich bin auch da. So wie ihr mich aus meiner Einsamkeit geholt habt, werde ich bei euch sein. Mit mir all die anderen dort draußen, die dich mögen. Made­leine und die Kinder ... Wir sind hier und lassen dich nicht al­lein.“

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