Mit schwarzen Flügeln

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Aus der Reihe: Mit schwarzen Flügeln #1
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„Ich habe es ihm doch versprochen“, flehte sie. „Ich habe versprochen, Hilfe zu holen!“

Wie geprügelte Hunde sahen sie von ihr weg.

Letztlich schnaufte sie enttäuscht und machte kehrt.

„Gut, dann rette ich ihn halt eben allein!“

Zornig stapfte sie davon. Wenn sie gewusst hätte, dass ihr Anliegen abgelehnt werden würde, wäre sie gleich bei ihm ge­blieben, statt die Strecke hin und her zu rennen. So eine Ent­täuschung, nur weil die Chance gering stand, dass ...

„Hey, Trotzkopf, lass die Nase nicht hängen!“, rief jemand hinter ihr und die Stimme kannte sie zu gut. War er bereits von seiner Runde zurück?

„Teddy!“ Sofort schloss sie ihn in die Arme und drückte ihr Gesicht an seine Brust, wie sie es schon als Kind immer getan hatte, wenn sie Trost suchte.

Ihr Bruder legte seine Arme schützend über sie. „Ist ja gut. Hast du dich wieder mit der alten Hexe gestritten?“

Sie überschüttete ihn mit einem Redeschwall von bösen Worten über ihre Tante und die Jasagenden, und Ted klingelten gleich die Ohren.

„Okay, okay“, wehrte er ab. „Ma’ ganz langsam. Wo brennt’s denn, Schwesterherz?“

6

Alles, was die Augen sahen, war schwarz. Kein Ton, den die Ohren hörten, und kein Gefühl in den Gliedern, um sie zu be­wegen. Die Seele schien gefangen im Körper eines Toten. Ohne Zeitgefühl eine scheinbare Ewigkeit lang.

Mehr nicht.

Nur diese Wunde brannte, als fräße sich eine Säure ihren Weg langsam und ätzend durch das Fleisch.

Gedanken flackerten in einer nicht greifbaren Schnelle auf und waren ebenso schnell aus dem Kopf wieder verschwun­den.

... Da war etwas. Eine warme Hand, die seine Haut berühr­te. Eine sanfte Stimme, ein liebes Wort.

Ein weit entferntes Flüstern, was ihn zurückführte. Zurück ins Leben.

Allmählich begann alles klarer zu werden. Eine sanfte Bri­se wehte über seine Haut, doch obwohl er davongekommen war, fühlte er den Tod so nah an der Seite wachen. Wie lange hatte er in der dunklen Zwischenwelt geschlafen?

Zögerlich öffnete er seine Augen und machte sich schon auf das Schlimmste gefasst. Aber er blickte nur an eine grau betonierte Zimmerdecke. In selber kahler Verfassung war der ganze Raum. Ausnahme war das harte Metallgestellbett, auf dem er unter verwaschenen Laken ruhte. Das kleine, offen ste­hende Doppelfenster, vor dem Stofffetzen als Gardine im Luft­zug wehten, erhellte das Umfeld bloß spärlich und nahm dieser Zelle nichts an Schwermut.

Dennoch hörte er draußen Kinder, die im Tageslicht fröh­lich tobten.

Deacon hatte keine Ahnung, wo er sich befand, wie er hier­herkam und was das für Leute waren, die ihn offensichtlich gerettet hatten. Stark geschwächt konnte er nur daliegen und warten, dass ihn jemand aufklärte.

Schon bald hörte er Schritte, die näher kamen, und die ein­fache Holztür, die in den Raum führte, öffnete sich. Herein kam ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. Größer als er und sportlich gebaut, mit dunkelbraunem Haar, dem ein paar Strähnen mit Perlen geflochten worden waren. Die braune Haut schien er von Natur aus zu haben und nicht von der Son­ne. Zwar trug der Unbekannte normal wirkende Kleidung – eine kurze Hose und ein ärmelloses Hemd – doch er merkte sofort, dass der Kerl zur untersten Schicht gehörte.

Das konnte man riechen.

„Hey, du bist endlich wach!“, begrüßte ihn der Mann im neutralen Ton. „Hat ja gedauert.“

Verwirrt sah Deacon ihn an. „Was?“

„Nun, du hast zwei Tage geschlafen. Dachten schon, du gehst übern Jordan oder so.“

Zwei Tage? Verflucht!

Er versuchte sich im Bett aufzusetzen, doch spürte sofort die Stichwunde in seinem Bauch brennen. Im Krampf fasste er auf den verschlissenen Verband, dem man um ihn gewickelt hatte, und stöhnte auf. Funken tanzten in den Augen und ihm wurde heiß und kalt, während ein innerer Pfeifton ihn kurz­zeitig taub machte.

Sofort sprang der Fremde stützend an seine Seite und rief: „Vorsicht, Kleiner! Du solltest dich nicht bewegen! Du hast ’ne Menge Blut verloren und deine Verletzung heilt schlecht aus! Leg dich wieder hin und bleib unten!“

Umsichtig wurde er von diesem Mann zurück auf die dün­ne Matratze gedrückt und Deacon war ihm äußerst dankbar für seine Fürsorge. Ein Schwindelanfall ließ ihn in Schweiß ausbrechen und er konnte kaum noch sehen, wo oben und unten war. Das Zimmer begann sich mehr und mehr im Kreis zu drehen und sein Magen reagierte mit einer unerträglichen Übelkeit. Er würgte und schmeckte Blut auf der Zunge.

Sein Pfleger schnippte mit den Fingern ein paar Mal vor seinen Augen und gab ihm so einen Punkt vor, sich zu konzen­trieren und aus dieser Wirbelspirale auszutreten. Langsam wurde es wieder. Die Symptome schwanden und er atmete schwer, aber ruhiger.

„Geht’s besser? Mach mir hier keine Panik, Junge. Ich nehm’s dir übel, wenn du abkratzt. Soll ja nicht alles umsonst gewesen sein, klar?“ Dann legte er ihm die große Hand auf die blasse Stirn und fluchte: „Mist. Dein Fieber ist immer noch verdammt hoch. Das ist echt gefährlich. Du bleibst im Bett, verstanden? Keine Anstrengung, bis du wieder gesund bist!“

Nichts da. Deacon biss die Zähne gegen den Schmerz zu­sammen und beugte sich abermals hoch. Als das Bettlaken von ihm abglitt, stutzte er verlegen. Man hatte ihm alles abgenom­men und ausgezogen, um die Wunde im Bauch, wie auch die anderen Kratzer von seinem Sturz, zu behandeln. So nackt und offen bloßgestellt, lief er rot an vor Scham.

Der Mann wurde schlecht gelaunt und verpasste ihm eine leichte Kopfnuss, dass sein Schädel dröhnte wie ein vom Schläger getroffener Gong.

„Hör mal! Entweder legst du dich schnell hin oder du stirbst! Ob nun durch die Wunde, oder weil ich dich erwürgt habe! Hast du das kapiert?“

Deacon nickte still. Gegen diesen Typen kam er in seiner jetzigen Verfassung nicht an.

Seine sitzende Position nutzte er, um seinen Körper zu be­gutachten. Mit den alten Bandagen war er großzügig einge­deckt worden und bei dem Loch im Leib war das ziemlich nö­tig. Noch immer spürte er leidvoll, wie die Verletzung schwer verheilte und aufriss, wenn er sich zu sehr beanspruchte. Ge­brochen schien aber nichts. Bis auf einige heftige Prellungen war er heil geblieben und die Schnitte und blaugrünen Bluter­güsse unter der Haut waren nur halb so schlimm.

Da konnte er wirklich von Glück reden.

„Wer bist du?“, fragte er schließlich seinen Retter.

„Nenn mich Ted“, stellte der sich vor. „Und falls du wissen willst, wo du bist: bei mir zu Hause, in einer Armensiedlung im Außenbezirk der Stadt. Meine Schwester hat dich im Müll gefunden und wir haben unser Bestmögliches getan, um dich wieder hinzukriegen. Obwohl wir dich gar nicht kennen.“

„Oh“, meinte er dazu leise und neigte leicht den Kopf, „mein Name ist Deacon.“

Ted ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Hi. Cool, dass du deinen Namen kennst. Hätte ja sein können, dass du nicht mehr weißt, wer du bist.

Und, von wo aus wurdest du an diesen Strand gespült, Deac?“

Von wo? Ja ...

„Von überall her“, redete er sich schüchtern raus.

Sein neuer Freund wollte das nicht ganz glauben. Misstrau­isch verschränkte er die Arme und bohrte weiter, um mehr zu erfahren: „Im Schlaf hast du manchmal in ’ner ziemlich ko­mischen Sprache gesprochen, die noch nie wer gehört hat. Und hier gibt es viele Nationen, Mann.“

Aber es gab Sprachen, die auf der Erde nicht gesprochen wurden. Die Sprache der Engel gehörte dazu. Deacon schämte sich für diesen unkontrollierten Fehltritt.

Als er sah, dass sein Gast nicht antworten würde, zuckte Ted die Schultern. „Na, wie auch immer.

Erzähl mir lieber mal, wie du dir so was eingefangen hast“, und er wies auf den Verband. „Warst du in ’ner Straßengang Mitglied, wo der Ausstieg tödlich ist, oder was?“

„Nein, ich ... bin allein unterwegs.“

„Hey, Kleiner, ich bin nicht blöd. Das sind nicht die ersten Narben, die du davonträgst! Also raus mit der Sprache, ich werd dich deswegen nicht gleich davonjagen.“

Du würdest es nicht glauben, wenn ich es dir sage, dachte sich der schwarze Engel und überlegte, welche Lüge er diesem Kerl erzählen konnte. Dummerweise schien sein Verstand ge­litten zu haben, denn es wollte ihm absolut keine Ausrede ein­fallen.

„Ähm“, begann er schwerfällig, da hörte er eine andere Stimme rufen.

„Ted!“, rief eine Frau. „Ted, ist er aufgewacht?“

Der Gerufene antwortete leiser: „Ja, ist er. Komm rein.“

Was nun durch die Tür in das Zimmer trat, ließ Deacon den Atem stocken. Ihm war aufgrund der Ähnlichkeit zu Ted klar, dass es sich hierbei um seine erwähnte Schwester handelte, je­doch hätte er nicht mit so einer Frau gerechnet.

Es war nicht, weil sie besonders aussah, denn das tat sie keineswegs. Sie war sogar ein recht gewöhnliches Mädchen. Ohne Glanz und Glamour, Make-up, Marke oder was sonst ei­nem Menschen bei Schönheit ins Auge fiel. Da Engel von Haus aus mit Anmut und Pracht zu tun hatten, waren sie im­mun gegen optische Reize.

Obgleich sie wahre Erhabenheit spürten. Und diese hier er­schien ihm wie das Licht des Himmels selbst. Deacon war grenzenlos von ihrer Reinheit berauscht. Es grenzte schon an dummes Gaffen. Er kam erst zurück in die Wirklichkeit, als Ted ihm eine weitere Kopfnuss verpasste und meinte: „Wenn du meine Schwester weiter besabberst, klatscht es, aber keinen Beifall!“

Was du nicht sagst, dachte Deacon, wandte jedoch den Blick ab. „Entschuldigung“, murmelte er betroffen und zog verlegen seine Zudecke etwas höher.

 

Lustigerweise bekam Ted von seiner Schwester einen Klaps verpasst und sie schimpfte: „Du sollst andere nicht im­mer gleich hauen! Vor allem niemanden, der eh schon verletzt ist!“

Ihr Bruder grummelte etwas in sich hinein, während sie Deacon die Hand reichte. „Hallo, ich bin Nadja. Schön, dass du wieder da bist.“

Zögerlich nahm er ihre Begrüßung entgegen. „Wie ich höre, habe ich das dir zu verdanken. Ich stehe in deiner Schuld. Ich bin Deacon.“

„Ein hübscher Name“, grinste sie.

Ted mischte mit rein: „Tja, und mehr verrät er ja nicht, eh? Bist schon ’n seltsamer Vogel ... Wer weiß, was du ausgefres­sen hast.“

Darüber lachte Nadja nur hohl. „Zumindest erkennt er eine Lady, wenn sie vor ihm steht.“

Ihr Bruder neckte sie kurz spielerisch, bevor er zu Deacon sagte: „Nun, Kleiner, du weißt erst mal das Wichtigste. Wir haben uns einander vorgestellt, jetzt solltest du dich weiter ausruhen und wir lassen dich schlafen. Ich werde dir noch et­was zu Essen bringen, damit du zu Kräften kommst. Wir ha­ben nicht viel zu bieten, doch es ist besser als nichts. Mehr Tage Fastenkur hast du echt nicht nötig.“

Somit wollten die Geschwister den Raum verlassen, da fiel es Deacon ein zu fragen: „Wo habt ihr meine Sachen?“

Ted legte eine Hand auf die Schulter seiner kleinen Schwester. „Nadja hat die Risse gestopft. Das kann sie sehr gut und deine Klamotten waren ziemlich hinüber. Die kann ich dir aber später bringen. Nicht, dass du vorhast, uns voreilig zu verlassen, Wanderer.“

Deacon neigte demütig den Kopf. „Ich danke euch zutiefst für eure Freundlichkeit einem Fremden gegenüber.“

Nadja lächelte. „Das ist selbstverständlich.“

Auch Ted grinste, wenn zugleich etwas schräger. „Dank uns nicht zu früh. Wenn du wieder stehen kannst, ohne umzu­fallen, will dich noch die Älteste unserer Siedlung kennenler­nen. Erwarte aber nicht, dass sie dich mit offenen Armen emp­fängt. Für sie warst du schon abgeschrieben und bist jetzt nicht mehr als ein nichtsnutziger Fresser.“

Das klang sehr nett. Die Großherzigkeit dieser jungen Menschen traf wohl nicht auf alle zu, die sie kannten.

„Jetzt schlaf dich aus, Deac.“

„Das werde ich. Danke.“

Mit einem zustimmenden Nicken fiel die Tür hinter den Menschen ins Schloss.

Matt legte Deacon sich wieder lang in die Kissen und zog das Laken bis über die Schultern. Er war wirklich noch müde und ausgelaugt. Vielleicht hätte er gar nicht länger den Ge­schwistern Rede und Antwort stehen können. Gähnend schloss er die Augen und lauschte den Geräuschen, die vom Fenster her zu ihm hinübergeweht kamen.

Ein Hund bellte. Kinderlachen. Das Geräusch eines Ham­mers, der wahrscheinlich einen Nagel ins Holz trieb. Stimmen­gewirr. Der pfeifende Wind, der durch die Hausritzen drang.

Er war jetzt mitten unter diesen Leuten, die seinen Namen kannten. Die Anonymität war vorbei. Ein Engel unter vielen kleinen Lichtern verschollen. Der Morgenstern tobte bestimmt schon, keine Nachricht von seinem General zu haben. Sicher wussten seine Kameraden nicht, wo er war. Auch die Weiße Garde nicht. Virel glaubte wohl, er sei tot. Somit war er nicht existent, wie alle hier vor Ort. Wie dieses seltsam anmutende Mädchen ...

Er drehte sich zur Seite. Die Wunde pochte.

Im nächsten Moment war Deacon eingeschlafen.

Ted stellte einen Teller mit ein paar Scheiben Brot, einen Ap­fel, eine Schüssel heißer Grießsuppe und eine Tasse voller Wasser auf den Boden neben das Metallbett. Kurz schaute er auf den Rücken, welchen ihn der friedliche Schläfer zuge­wandt hatte. Hässliche rote Narben zogen sich lang über die Schulterblätter. Dazwischen war die Haut rau, als hätte ihn eine Ladung Schrot getroffen.

n hartes Leben.

Dass der Kerl etwas verbarg, war ihm so klar wie das Amen in der Kirche. Doch wollte er geduldig sein und warten. Vielleicht erzählte der Junge ja eines Tages seine wahre Ge­schichte.

Wer weiß, was dabei herauskommt.

7

Noch zwei weitere Tage verbrachte Deacon im Bett und pfleg­te seine Wunde. Als er sich besser damit fühlte, versuchte er, das Bettlaken wie eine Tunika tragend, in Abständen aufzuste­hen und einige Meter zu gehen, auch wenn es ihm mitunter noch schwerfiel. Oft hatte er Kopfschmerzen, aber zumindest brach die Verletzung nicht mehr auf.

Ted gab ihm wie versprochen seine Uniform zurück. Ein­drücklich nahm er Nadjas Nähkünste unter die Lupe. Bei sei­nem Shirt und der Drillichhose waren die Risse sauber verar­beitet worden und er zollte ihrem Können großen Respekt. Es tat gut, wieder bekleidet zu sein.

Der Mantel jedoch stellte beide Geschwister vor ein Rätsel. Nachdem der von Blut reingewaschen war, sah man keinerlei Rückstände, geschweige denn Schäden am Gewebe. Nicht ein­mal Nahtstellen, als wäre er aus einem Schnitt gemacht.

Das war halt weiße Engelskleidung. Flügeltransparenter Stoff, der weder Schaden noch Schmutz an sich haften ließ, und gleich einer gepanzerten Rüstung vor allen irdischen Ge­fahren schützte. Feuer und extreme Kälte hielt er sicher ab. Und einen Sturz aus dem obersten Stock eines Hochhauses konnte er abfangen und seinem Träger die Knochen retten. Ohne diesen Wundermantel wäre sein kleiner Unfall wohl ganz anders verlaufen.

Schade nur, dass die Fasern keine heiligen Klingen abhiel­ten. Ähnlich der Flügeldurchlässigkeit bot der sonst so robuste Faden gegenüber Engelsschwertern keinen Widerstand.

Eigentlich war es nicht einmal sein Mantel. Vor ein paar Jahrzehnten hatte er ihn einem feindlichen Krieger abgenom­men und aufgrund seiner Nützlichkeit behalten.

Nicht dass die Höllenuniform dagegen wertloser war. Doch in den schwarzen Stoff ließen sich keine weißen Zauber ein­weben, was auch die nötigen Schutzfunktionen minderte. Im­merhin war das Dunkelgespinst weich, gut passend und at­mungsaktiv. Darin wurde ihm nie zu heiß oder frostig kalt.

Überirdische Waffengewalt hielt das freilich nicht auf.

Die Dienstkleidung und sein durchtrainierter Körperbau warfen die Frage auf, ob er Deserteur einer Armee sei. Deacon verneinte und schwieg beharrlich. Wer hätte ihm die schräge Geschichte vom Obergeneral eines Dämonenheeres geglaubt?

Es war gegen Mittag, da Deacon aus dem Fenster seines Zimmers sah und vom ersten Stock weithin die Siedlung über­blickte.

Viele Gebäude wirkten dem Zustand von Teds Haus recht ähnlich. Nichts als verfallene Ruinen, die rund um den Haupt­platz aneinandergereiht waren. Ein Zugangsweg führte Men­schen und eventuelles Fuhrwerk auf freigeräumte Straßen. Sonst lag alles in Schutt und Dreck versunken.

Auf dem Platz herrschte buntes Treiben. Ein fahrender Händler bot auf seinem Karren allerlei Müllware zum Tausch an. Schrauben, Nägel, Draht, Holz – manches, das man brauchte, um aus dem Mangel etwas zu schaffen. Weiter ab spielten die Kinder, wie jeden Tag, mit ihrem alten Fußball oder Lumpenpuppen. An einer Wasserpumpe wuschen Frauen ihre Wäsche in einer verbeulten Zinkwanne und schnatterten über dies und das.

Einige ältere Leute saßen in einer Runde und steckten die Köpfe zusammen. Deacon konnte sich das bestimmt nur ein­bilden, doch glaubte er zu sehen, wie verstohlene Blicke in seine Richtung geworfen wurden. Zu dem Fremden, von dem niemand was wusste und der halb tot hier angeschleppt wor­den war. Der sich bei ihnen wie ein Kuckuck einnistet hatte und vom Gemeindewohl zehrte.

Während eines der Kinder fröhlich zu ihm hinaufwinkte, schienen die Alten ihn am liebsten sofort loswerden zu wollen. Wenn nicht auf friedliche Art, dann anders.

Deacon seufzte. Womit hatte er nur diese Abneigung ver­dient?

Da ging hinter ihm die Tür auf und Nadja trat ein. Sie leis­tete ihm ohne Scheu Gesellschaft, obwohl er merkte, dass sie vorsichtig war. So hielt sie es immer. Zwar war sie freundlich, redete locker über alles und machte Scherze – trotzdem war er ihr nicht ganz geheuer.

Natürlich. Sie kannten ja einander nicht und waren sich fremd. Menschen bauten ihr Vertrauen nur langsam auf und je­mandem zwanglos zu begegnen, der nichts von seiner Person preisgab, konnte in diesen Zeiten fahrlässig sein. Dabei wollte er schon von ihr mehr beachtet werden, statt nur der Unbe­kannte zu sein.

Wenn sie das genauso sah, zeigte sie es nicht. Die Hilfe für ihn war für sie sicher ganz logisch. Sie hätte jeden gerettet, der in Not war, und würde auch in Zukunft versuchen, die Welt besser zu machen. Irgendwie erinnerte sie ihn an ein träumeri­sches Kind, das Hoffnung witterte, selbst wenn alle anderen schon verzweifelten. Ihre Güte und Anteilnahme galt nicht ihm allein, was er leicht bedauerte. Vielleicht wünschte er sich einfach nur etwas Aufmerksamkeit nach seiner identitätslosen Reise unter den Menschen.

„Hey“, begrüßte sie ihn mit sanftem Lächeln, „wie geht es dir?“

„Ganz gut, denke ich. Jedenfalls nicht mehr so durchbohrt“, versuchte er, das Gespräch entspannt zu sehen.

Nadja lehnte ihren Oberkörper aus dem Fenster und ver­folgte kurz den lebhaften Trubel der anderen, wie auch er ihn gesehen hatte, bevor sie fortfuhr: „Meine Tante will dich unbe­dingt sprechen. Sie sagt, dass du simulierst, um ihr aus dem Weg zu gehen und wir sollen dich nicht verhätscheln.“

„Scheint ja eine reizende Person zu sein“, feixte er iro­nisch.

Sie nahm ihm den Spruch scheinbar nicht übel, dennoch blickte sie ihn merkwürdig an. Betrachtete sein Gesicht, als wollte sie in seinen Augen lesen, ob er Wahrheit oder Lüge sprach.

Das beschämte ihn und er wandte sein Gesicht ab. „Ent­schuldige, ich wollte nicht unhöflich gegenüber deiner Tante sein.“

„Ich werde aus dir nicht ganz schlau, Deacon“, gab sie zu.

„Wie meinst du das?“

Sie streckte beide Arme aus und legt ihre Zeigefinger auf seine Lippen. Diesen Kontakt hatte er nicht erwartet, aber er zuckte auch nicht davor zurück. Ihre Fingerkuppen fühlten sich glatt an, wie sie zu seinen Mundwinkeln hinauffuhren, und Nadja kannte fürwahr diesbezüglich keine Berührungs­ängste.

Wirklich sorglos und ungehemmt, wie ein neugieriges Kind.

Nur ihre Stimme klang ernst: „Irgendwie bist du seltsam. Du hast stets dieses Lächeln auf deiner Miene, egal, wie du dich gerade fühlst. Ob du dich entschuldigst oder dir etwas peinlich ist. Oder traurig, nervös oder ängstlich bist – du lä­chelst immer.“

„Ist das falsch?“, fragte er.

Sie zog ihre Hände zurück. „Es ist unecht, find ich. Du magst ein hübsches Aussehen haben, aber das ist hässlich. Du ziehst die Mundwinkel hoch und schon sieht es aus, als ob du grinst. Ich denke, man sollte erst dann lächeln, wenn man sei­ne Fröhlichkeit auch so meint.“

Das haute ihn um. Dieses Mädchen hatte ihn schnell durchschaut. Im Grunde dachte Deacon, nach all den Jahren und Erfahrungen als Seelenfänger unter Menschen, habe er seine Maske unter Kontrolle und wirkte bereits menschlich. Sie gehörte wohl zu denen, die er nicht täuschen konnte.

Gut, ließ er das Versteckspiel eben. Das Grinsen ver­schwand und seine Mimik wurde völlig ausdruckslos.

„Wenn du es ehrlich willst, wirst du mich nie wieder la­chen sehen.“

Nadja bereute ihre harten Worte. „Nein, so hab ich das nicht gemeint ... Ich dachte ja nur ... Ich habe dich, seit du hier bist, noch nie glücklich gesehen. Oh, Mist. Ich rede ein Blech zusammen!“

Sie reagierte sich kurz über ein paar gestikulierte Zornes­ausbrüche ab und stapfte dabei durch den Raum. Deacon be­obachtete sie verwundert.

„Wo bist du schon alles gewesen, Deac?“, wirbelte sie mit einem flotten Themenwechsel zu ihm herum. „Hast du viel von der Welt gesehen?“

Ein kleines Schmunzeln konnte er nicht verbergen. Was für ein quirliges Ding.

„Ich habe allerhand gesehen. Und noch vieles mehr, was ich nicht sehen wollte.“

„Und wie sieht es da draußen aus?“

Mit einem Ächzen warf er einen Blick über den Platz. „Dort, wo ich war, ist es nicht anders gewesen als hier. Dersel­be Sand, die gleiche Armut und Städte aus Glas und Überheb­lichkeit, die bis zum Hals im Müll versinken. Wenn ich mal weiterziehe, werde ich auch wieder nur das finden. Selten ist es besser, oftmals schlechter.“

„Und von dort, von wo aus du losgegangen bist ... Hast du Familie zurückgelassen? Deine Eltern oder Geschwister? Oder eine Freundin?“ Die letzte Frage deutete sie leicht schelmisch an.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Da war niemand. Wenn du nur unterwegs bist, willst du keinem das Herz brechen. Und bevor es so weit ist, dass dich jemand vermissen könnte, soll­test du gehen.“

 

„Klingt einsam ... Du wirst also auch wieder fortgehen?“

„Eines Tages bestimmt. Und vielleicht schon heute, wenn eure Tante mich verjagt.“

Sie trat näher an ihn heran und fasste seine Hand. „Ach, du kannst gern noch bleiben. Zumindest, bis du wieder gesund bist. Und eher lasse ich dich auch nicht weg.“

„Ich mag dich nicht, Junge.“ Tesla schaute ihn grimmig aus zusammengekniffenen Augen an. All ihre Falten verwandelten sie in das menschliche Abbild einer fleischfarbenen Bulldog­ge.

Deacon lächelte etwas gequält und zuckte die Schultern. „Na ja, kann man nicht viel machen.“

Die alte Frau umkreiste ihn. Um sie beide herum standen Ted, Nadja und weitere Bewohner der Siedlung und warteten die Betrachtung des Fremden ab. Viele nickten bei Teslas Ur­teil und stimmten ihr zu, während sie Deacon von oben bis un­ten musterte. Mit ihren Gichtfingern zupfte sie an seiner Klei­dung, seinen Haaren, tastete nach seinem Gesicht und den Händen. Ihre Laune besserte sich kein Stück.

„Nein, du bist ein absonderlicher Kerl. Ich sehe es in dei­nen Augen.“ Sie starrte ihn erbarmungslos an, als wollte sie ihn einschüchtern. „Deine Augen sagen mir, dass du etwas im Schilde führst. Mehr als deinen Namen nennst du nicht. Kommst von nirgendwo, gehst nach nirgendwo. Du verbirgst etwas vor uns. Ich sehe in dir Dunkelheit und Leere. Du bist ein böser Mensch.“

Erstaunt hob er die Augenbrauen. Sagte sie das nur, weil sie ihn nicht leiden konnte? Oder sah diese Hexe wirklich mehr als andere? Gut, das Böse war Ansichtssache ...

„Schau nicht so!“, bellte die Alte daraufhin. „Hast du kei­nen Respekt?

Ich habe schon genug solche Männer wie dich kennenge­lernt. Ihr streift durch die Welt und drückt euch vor ehrlicher Arbeit und Verantwortung. Erst macht ihr euch in einer Grup­pe breit, lebt dort wie die Made im Speck, und wenn es euch zu bunt wird, haut ihr ab und sucht euch die nächsten armen Trottel, die euch aushalten. Männer wie du sind Faulpelze, die das Mitgefühl der anderen ausnutzen. Deine Hände haben noch nie für das Wohl deiner Mitmenschen geschuftet. Du hast noch nie etwas Sinnvolles zustande gebracht. Du bist nur weg­gelaufen!“

Okay, sie hasste ihn. Hielt ihn für einen Taugenichts und Vagabunden. Zum Glück reichte nichts an die Wahrheit heran. Gegen die Anschuldigungen sagte er nichts. Besser so. Bevor ein Streit vom Zaun brach, indem er sich schönredete, gab er lieber schweigsam alle Lüge zu und ließ diese Xanthippe wei­ter in ihrer Wahnvorstellung.

„Einen Strauchdieb füttern wir hier nicht durch!“, verdeut­lichte Tesla ihm erneut. „Du stehst wieder auf eigenen Beinen, also kannst du entweder deiner Wege weiterziehen oder du ar­beitest hier, solange du in unserer Gemeinschaft lebst. Hast du verstanden?“

Deacon nickte. „Ja, das habe ich. Ich werde versuchen, mich einzubringen.“

„Versuchen reicht nicht! Du bist ein junger, kräftiger Bur­sche, also stell dich nicht so an!“

Oh, mit der hatte er seine Not.

Zu ihren Ziehkindern sprach die Älteste im selben rauen Ton: „Ihr zwei habt diesen Herumtreiber aufgelesen! Kümmert euch darum, dass er sich nützlich macht! Und ich will kein Wort davon hören, dass der weiter auf der faulen Haut liegt!“

Die Geschwister konnten nichts erwidern, denn mit einem schlimmen Keuchhustenanfall kehrte Tesla zu ihrer Hütte zu­rück und verschwand hinter der Tür. Für sie und die restlichen Versammelten war das Gespräch vorbei und die Menschen­traube löste sich unter Gemurmel auf.

Wieder fühlte Deacon schlechte Blicke im Genick und er zog den Kopf zwischen die Schultern.

Ted klopfte ihm auf den Rücken. „Mach dich nicht rund deswegen. Die runzlige Gewitterziege lässt an niemandem ein gutes Haar. Du bist neu, also ein gefundenes Fressen.“

Nadja sprach ihm gut zu: „Wenn du bewiesen hast, was du kannst, wird sie dich nicht mehr so scharf angehen. Das wird noch.“

„Na ja, wenn ihr meint ...“ Deacon war da nicht so sicher.

„Besorgen wir dir ma’ ’nen Arbeitsplatz“, war Ted opti­mistisch. „Bloß nichts Anstrengendes. Die Trude glaubt zwar, dass du Bäume ausreißen kannst, aber deine Verletzung ist nach den paar Tagen sicher nicht so weit.“

Deacon nickte dankend.

Schlussendlich, nachdem die Bauern, Putzer, Bauarbeiter, Wä­scher, Müllhändler, Feuermacher und selbst die Lumpen­sammler ihn abgeschrieben hatten, weil sie Deacon wie Tesla nicht über den Weg trauten und der sich auch zu zögerlich an­gestellte, fanden sie eine Funktion als Aushilfe in der Gemein­schaftsküche.

Madeleine, die stark korpulente Köchin mit der tiefen Stimme und dem Armeebefehlston, scheuchte „das lange Elend“, wie sie Deacon nannte, gleich zu einem rostigen Spül­becken, neben dem die angeschlagenen Teller zu Türmen auf­stapelt standen. Danach sollte er die Kessel schrubben, die vie­len Tische im Essbereich abwischen, den Boden kehren und Rattenfallen aufstellen.

Arbeiten, als wäre er ein Mensch, war ihm irgendwie un­angenehm. Leider war gute Tarnung alles. Vor allem, wenn er in Wirklichkeit ein Wesen war, welches allgemein als Mythos abgestempelt wurde. Ohne zu nörgeln, nahm er Madeleines Anordnungen entgegen und hoffte jedes Mal, mit seiner über­menschlichen Kraft nichts dabei zu zerstören. Wenn dieser Panzer von Frau ungehalten aufbrauste, wollte er nicht in der Nähe sein.

Als an seinem ersten Arbeitstag die Abenddämmerung ein­setzte, entließ ihn seine neue Herrin mit der Warnung, dass, wenn er morgen nicht vor Sonnenaufgang vor ihrer Tür stän­de, es gewaltigen Ärger geben würde.

Selbstverständlich verpflichtete er sich.

Die Geschwister warteten geduldig auf ihn. Ihre Beschäfti­gungen als Jäger und Sammler schienen ihm zwar weniger an­strengend als der Küchenjob, jedoch wollte er nicht schimp­fen.

„Nun, Sklave? Wie war’s?“, nahm Ted ihn auf den Arm.

Deacon kratzte leicht die eigene Wange. „Meine Gesund­heit scheint es zu verkraften.“

„Maddie meint es nicht böse mit dir“, sagte Nadja freund­lich. „Sie hat zwar eine sehr dicke Schale, aber ein butterwei­ches Herz. Außerdem mag sie dich.“

„So? Komische Art, das zu zeigen.“

„Jedenfalls mehr als die meisten, glaube ich.“

Super.