Mit schwarzen Flügeln

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Aus der Reihe: Mit schwarzen Flügeln #1
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Welche Seele liegt denn auf dem Weg? Aha, ein gewisser Pater Salomon. Na dann ...

Egal, wie viele Seelen er verdammte, irgendwie wurden es nie weniger. In dieser Welt existierten wohl mehr lebensun­würdige Sünder als aufrichtige Menschen. Und man fand sie selbst an den heiligsten Orten, die doch immer damit prahlten, Diener des einzig Wahren zu sein.

Hochmut kommt vor dem Fall.

Wer sollte das besser wissen?

Das Kirchengebäude erstrahlte im hellen Weiß, dass es aus weiter Entfernung schon sichtbar war. Aber er spürte, unter der Fassade waren die Mauern bereits alt und brüchig. Wahr­scheinlich stammte der Rohbau aus früheren Zeiten, als die Menschen sich gegenseitig noch human behandelten und die­ses Gotteshaus Arm und Reich offen stand.

Heute war der vergoldete Beichtstuhl in Besitz der Korrup­tion und die Edelholzbänke reserviert für Kapitalisten. Wäh­rend sie ihre Wohlstandsleiber auf bequemen Samt setzten und die Scheinheiligkeit lobpriesen, blieb dem gemeinen Pöbel al­lerhöchstens ein Platz auf nacktem Steinfußboden in der dun­kelsten Ecke der Kathedrale. Üblicherweise vertrieb man ein­fach jene, die für ihren Segen kein Geld aufbringen konnten.

Durch die stark verzierte, elfenbeinweiße Flügeltür trat er ein in das Schiff „Gottes“ und lief auf roten Stoffbahnen dem Altar entgegen, wo eine kleine Messe abgehalten wurde. Schillernde Farbtupfer spärlichen Lichtes, welches durch die kostbaren Bleiglasfenster fiel, beleuchteten seinen Weg und ließen Protz und Glanz überirdisch erscheinen.

Die Schritte seiner schweren Stiefel hallten von den Mar­morwänden wider.

Das Kreuz war blanker Hohn. Die Leiden Christi in kunst­volles Gold gefasst, war diese Kirche mehr eine Huldigungs­stätte Mammons. Auch die Monstranz und Messgarnitur schimmerten ihm entgegen. Kelch und Hostienschale glitzer­ten in Kristall. Die Heilige Schrift war in feinstes Leder ge­bunden und die Altarschelle aus silbrigem Stahl ruhte auf dem Pergamentpapier.

Am Ambo stand ein glatzköpfiger Priester, der nicht min­der in Erscheinung trat, obwohl er von Bescheidenheit und Nächstenliebe predigte. Festlich geschnürt und geschmückt wie ein Geschenkpaket, als hätte er auf ihn gewartet. Sein wei­ßes Seidengewand umspannte den schwelligen Leib und war bestickt mit Goldfaden, der filigrane Ziermuster bildete. Schweißtropfen perlten von seiner fettigen Haut und er keuch­te, als bekäme er wegen seiner Körperfülle zu wenig Luft.

Sein Herr Jesus wäre enttäuscht von ihm gewesen.

Scheinheiliger Betrüger.

Wer wirklich Gott in diesem Gemäuer suchte, war auf dem Holzweg. Dieses Haus aus Steinen und Beton war nichts wei­ter als das Mahnmal einer weltbeherrschenden Sekte, die ver­lorene Schafe zum Schlachter führte, um sie ausbluten zu las­sen. Ein geldgieriger Haufen Größenwahnsinniger, die das Seelenheil wie eine Ware verkauften und mit betörendem Weihrauch und falschen Versprechen den schlichten Verstand umnebelten. Schon seit Jahrhunderten betrieben sie ihre Bau­ernfängerei und unterjochten Andersgläubige in unsinnigen Kriegen mit so vielen Opfern, dass die seinen nur ein Quan­tum waren.

Er war nicht unbedingt wegen seiner Distanz zu Gott gegen die Kirche. Gott und die Seinen konnte er aus persönlichen Gründen nicht leiden. Jedoch waren sich sowohl Himmel als auch Hölle in Hinsicht auf Religionen, die für ihre Zwecke das Wahre mit Zuckerbrot und Peitsche verdrehten, ausnahmsweise einig: man konnte ruhig auf sie verzichten.

Von den Bankreihen, an denen er vorbeilief, drangen ge­murmelte Gebete an sein Ohr. Bitten an den Heiland für Macht, Erfolg und den großen Gewinn. Selbstsüchtiges Ver­langen. Diese „Gläubigen“ dachten nur an ihr eigenes Wohl. Niemand sprach ein Wort für die, die Hilfe nötig hatten. Dabei sahen diese hier so aus, als hätten sie die Mittel, etwas zu ver­ändern. Der eine konnte allein mit seinem Goldring eine drei­köpfige Familie einen Monat lang ernähren. Wenn er denn den Großmut besäße, ihn zu verkaufen.

Ihm lag es fern, den Moralapostel zu spielen, aber anhand dieses schlechten Beispiels konnte er bloß den Kopf schütteln.

Ein Haus voller Habgier. Ein jeder dieser Sünder wäre – seiner Meinung nach – gutes Futter für das Fegefeuer, und wenn es nach ihm ginge, würde er diesen ganzen Schuppen mit allen Insassen abreißen. Wenngleich sein Boss dafür kein (volles) Verständnis hätte. Er war hier schließlich in verdeckter Mission unterwegs und sollte keinesfalls ganze Razzien veran­stalten. Das gäbe bloß unnötig Stress.

Geduld. Alle bekommen, was sie verdienen.

Leise seufzend richtete er seinen kalten Blick auf das Hauptziel.

Dieser rot markierte Schweinepriester.

Die Schuldlast seiner Seele wog so schwer, dass sie förm­lich wie klebriger Schleim von ihm tropfte. Unter dem Speck floss die Verdorbenheit schwarz und schmierig gleich ranzi­gem Öl, das lauthals forderte, von Feuer entzündet zu werden.

Diesem Wunsch kam er zu gern nach.

Wieder einmal bewies die Existenz dieses Bastards, wie falsch es im Rechtssystem der Menschen zuging. Freiwillig schickten sie ihre Kinder als Messdiener in die Klauen eines Scheusals und verdarben damit die Unschuld. Zerstörten klei­ne Herzen. Wer würde es schon wagen, einen Prediger von Gottes Wort einen Knabenliebhaber zu schimpfen?

Er setzte sich im Gestühl auf einen freien Platz und über­legte, wie er es anstellen konnte, diesen Schmutzfleck von der Oberfläche zu tilgen. Vor so vielen Zeugen wäre das idiotisch. Zu seinem eigenen Erstaunen kam eine Lösung von allein.

Dem Priester fiel er sofort ins Auge. Witternd erschnupper­te die dicke Nase seinen Geruch, der jeden Menschen betörte. Dazu war Schönheit seiner Art gegeben und auf diesen Mann wirkte er wohl äußerst anziehend. Dennoch wurde ihm schlecht, als die Schweinefratze ihn wässrig ansah.

Oh nein, bitte nicht, schoss es ihm flehend durch den Kopf. Er war definitiv nicht hier, um für perverse Fantasien herzu­halten.

Mit geöffnetem Mund und Speichel benetzten Lippen stoppte der Geistliche die Predigt einen Moment, um seinen lechzenden Geist zu fangen. Schließlich setzte er übereilt fort.

Die letzten Zeilen eines Psalms wurden im Schnellverfah­ren heruntergerattert und die Messe kurzerhand beendet. Flugs gab er allen, die es bevorzugten, den Segen und schickte sie nach Hause. Jetzt konnte der Glatzkopf seinem Richter gegen­übertreten, ohne zu ahnen, dass das Urteil bereits feststand.

Seine fetten Wurstfinger rieben einander zittrig um den Rosenkranz und nervös sah er sich noch einmal um, sicherge­hend, dass niemand mehr hier war außer diesem fremden, jun­gen Mann und ihm. Dünner und höher klang Salomons Stim­me, als er ihn ansprach: „Sei gegrüßt, mein Sohn. Ich habe dich noch nie gesehen. Bist du neu in dieser Stadt?“

„Ich bin nur ein Reisender“, gab er ihm gleichmütig Ant­wort. Das „Pater“ setzte er mit leichtem Hohn nach und fixier­te ihn dabei wie ein Raubvogel die Schlange.

„Es ist gefährlich in dieser Zeit, allein unterwegs zu sein. Ich werde für dich beten, dass deine Reise gut verläuft und dich sicher an dein Ziel bringt.“

Der Mann lächelte schief. „Das wird sie, auch ohne Kir­chengebet.“

Sogar der Priester schmunzelte und platzierte ungemein vertrauensselig seinen Schwellleib neben ihn. Langsam hob er seine hässliche Pranke und strich dem Fremden fast zärtlich durch das schwarze Haar.

Wie kann es dieser grapschende Fettwanst wagen!?

Der Unwürdige berührte die Haut an seinem Kinn.

„Du bist schön wie ein Engel, mein Sohn. Gott hat ein Wunder an dir getan.“

Seine Kiefer pressten sich stark zusammen und durch die Zähne knurrte der Mann frostig: „Du hast doch keine Ahnung, wovon und mit wem du hier sprichst, Pseudopfaffe!“

Der Kleriker wich erschrocken zurück. Zu langsam.

Für den Moment eines Lidschlags schnellte der Henker nach vorn und schlug seine Hand flach auf die schwabbelige Brust.

Das Opfer spürte eine Energie, die von seiner Berührung ausging. Sein Inneres fühlte sich plötzlich seltsam an. Erst juckte, dann brannte es wie Säure im Körper und etwas schnürte ihm die Kehle zu, bis er nicht mehr atmen konnte. Auf der Zunge schmeckte der falsche Heilige bittere Galle und die Augen taten ihm drückend weh. Das Herz schlug ihm laut in den Ohren, der Takt wurde schneller und schneller, bis ein grässlicher, heller Pfeifton, wie von einem Wasserkocher, in seinem Schädel dröhnte!

Unter seiner Hand spürte der Mann, wie ein Schock das menschliche Herz in Stillstand versetzte und schon erloschen alle Regungen in dem Gesicht des jetzt toten Paters Salomon. Die Augäpfel des Priesters quollen starr aus ihren Höhlen her­vor. Die Seele dieses Ungeheuers floss ein in den Strom der Verdammten und wanderte direkt ins Jenseits.

Angewidert riss er seine Hand von diesem Ding los, das er nicht als eine menschliche Leiche bezeichnen wollte.

Der Tote rutschte von der Kirchenbank und blieb wie ein nasser Sack am Boden liegen.

Augenscheinlich unversehrt. Aufgrund seiner Fettleibigkeit hatte der Alte nur einen plötzlichen Herzstillstand erlitten. Sein Pech.

Er machte einen weiten Schritt darüber.

Als wäre nichts passiert, ließ er diesen unheiligen Ort ohne Beachtung zurück. Die Hände wusch er stoisch noch in der Weihwasserschale, um den übertriebenen Kirchengestank los­zuwerden, und benetzte erfrischend sein Gesicht.

„Vergebt mir, Vater, ich habe gesündigt. Was will der Papst dagegen tun?“, verlachte er offen die erschaffene Religion und sah auf das Kreuz. „Billig, mit was man diese Menschen belü­gen kann. In ihrer Verzweiflung glauben sie alles. Es fällt ih­nen leichter, eine Ikone anzubeten, als auf die eigene Kraft zu vertrauen.

 

Doch wenn diese schwachen Geschöpfe schon jemanden brauchen, der sie leitet, wieso wenden sie sich dann an so ein Ekel?“

Jesus antwortete nicht.

Es gab auch nichts zu sagen.

Trotz gründlicher Waschung fühlten sich seine Hände be­schmutzt an.

Widerlich, wozu ihn die Arbeit trieb.

Arbeit, die seinesgleichen zu verschulden hatte – war es ja die dunkle Seite, die einst die Grenzen der irdischen Schöp­fung brach und die Sünden freisetzte. Doch das stand auf ei­nem anderen Blatt. Der Boss hatte seine Gründe und Assia einen bestimmten Platz darin.

Immerhin, den Dreck hatte er ordnungsgemäß beseitigt. Eine Pause konnte er sich leisten. Morgen erst ginge es weiter zum nächsten Delinquenten.

3

Die Nachricht über das unerwartete Dahinscheiden eines Priesters verbreitete sich in Windeseile.

Der Schuldige war schnell gefunden in dem Phantom, welches in der Stadt umhergeistern sollte, wie es die Zeitungen berichteten. An einen tragischen Zufall aus gesundheitlichen Gründen wollte niemand glauben. Bald war Pater Salomon nicht bloß tot, sondern ermordet.

Wenn nicht einmal die heilige Kirche sicher war, wie sollte man diesen „Dämon“ sonst aufhalten?

Ob die Menschen panisch die Flucht vor ihm ergreifen würden, wenn sie wüssten, dass ihr schlimmster Albtraum nur knapp an ihnen vorbeizog?

Tags darauf plauschte er mit einem bärtigen Herrn in einer schmutzigen Bar in der Unterstadt über diese Angelegenheit. Sein Gesprächspartner spottete über die Unfähigkeit der Poli­zei.

Wofür bezahlte man diese? Für alberne Schnitzeljagden und zusätzliches Gassigehen mit ihren Hunden? Wütend stieß der Rüstige stinkenden Zigarrenrauch aus und stürzte den Inhalt des vollen Whiskyglases den Rachen hinunter.

Der junge Mann lachte verhalten.

„Das Einzige, was heute noch denselben Nutzen bringt, wie schon Jahre zuvor, ist und bleibt der Alkohol, Kleiner“, er­klärte der Rauschebart ihm feierlich und ließ sich vom Wirt nachschenken. „Unser ganzes Dasein kann man nur damit ertragen! Wenn uns der Schnaps ausgehen würde, dann geht es auch mit dieser Welt zu Ende. Dann interessiert es niemanden, ob diese Pfeifen durch Mord oder ein Unglück starben. Kein Schwein fragt dann noch nach einem Killer!

Die Leute spinnen alle! Selbst schuld, wenn die den Tod verpersino- ... personi- ... Na, weißt schon! Vermenschlichen!“

Die Philosophie der Trunkenheit.

Grinsend hob der junge Mann sein Glas. „Dann auf das Ende der Welt, mein Freund.“

„Skål!“, brummte der Alte, den Toast erwidernd. „Auf das wir alle besoffen zur Hölle fahren!“

Nicht so voreilig, du stehst doch gar nicht auf der Liste.

Saurer Regen fiel aus dem dichten, grauen Wolkenmeer, wel­ches sich am Himmel zusammengebraut hatte, und er schlug den Kragen seines Mantels hoch. Die Nässe drang zwar nicht durch den weißen Stoff, dennoch hatte er keine große Lust, weiter durch dieses Wetter zu waten und suchte nach einem stillen Unterschlupf.

Irgendein leer stehendes Gebäude in einer von Menschen verlassenen Gegend würde schon zu finden sein, wo er kurz verweilen konnte. Wenn man keine Mittel besaß, sich auszu­weisen, und auch unerkannt bleiben wollte, war das die letzte Möglichkeit.

Wenn dieses Mistwetter ihm nicht in die Quere gekommen wäre, hätte er jetzt schon zum anderen Stadtende hin unter­wegs sein können, um dort mit der Arbeit fortzufahren. Ein dummer Zufall, um weiter in dieser Gegend festzusitzen und ein Glück für den Tölpel, der etwas länger leben durfte.

Er sprang über breite Pfützen voll braunen Schlammwas­sers, über abgenagte, bleiche Knochen von vor Hunger veren­deten Tieren, vorbei an groben, mit grauem Putz verzierten Hütten.

In dieser Zone lebten diejenigen, die nicht mal Geld besa­ßen, um in der Unterstadt zu hausen. Menschen, von deren Existenz niemand wusste. Wenn sie starben, bemerkte es nie­mand. Ihr Fehlen hinterließ keine Lücke, weil sie keinen Platz ausfüllten.

Ein Ort, an dem es nach Tod roch, war billig und identitäts­los. Ein gutes Versteck für einen wie ihn.

Scharf schnitt er die Kurve an einer Ruine und wollte wei­terhasten, da bemerkte er sie im Schatten.

Erst dachte er, es sei bereits zu spät. So abgemagert, wie der Körper dalag.

Diese Frau war keine dreißig, doch durch ihre eingefalle­nen Wangen und die braune, welke Haut wirkte sie wie ein verbrauchter Hungergeist. Das dunkle Haar fiel lang und sprö­de über die Schultern und den Leib bedeckten nur ein paar zer­schlissene Lumpen. Mit ihren dürren Armen hielt sie fest ein gewickeltes Bündel an die Brust gedrückt.

Als sie merkte, dass er sie ansah, schaute sie schwach auf, die Augen stumpf und müde.

Er trat näher und seine Nase erfasste den starken Fäulnis­geruch. Das Baby war schon einige Tage tot, vielleicht sogar tot geboren, trotzdem hatte sie es nicht wahrhaben wollen. Trug es weiter mit sich herum und hoffte, es schliefe bloß fest. Wem wollte sie hier etwas vormachen? Jetzt wartete sie nur noch darauf, dass der Tod sie wieder mit ihrem Kind vereinte. Ihre Seele erlöste.

Oder so ähnlich ...

Wenn sie nun starb, würde sie ein erdgebundener Geist werden. Verloren in der Zwischenwelt, hin- und hergerissen zwischen Leben und Tod. Sollte er sie in das Totenreich füh­ren? Für eine wie sie gab es auch noch einen anderen Weg.

„Ich kann dir helfen“, sprach er sie sanft an. „Zwar kann ich dir nicht das Tor zum Himmel öffnen, aber wenn du es wünschst, bürge ich für dein Leben in einer besseren Welt.“

Ihre trockenen Lippen öffneten sich und er hörte ihre hei­sere Stimme langsam sprechen: „Wer bist du, dass du mir so was versprichst?“

„Jemand, dem dein Schicksal nicht egal ist.“

„Wenn es nicht der Himmel ist, wohin sollte ich sonst ge­hen?“ Sie klang verbittert.

Kein Wunder. Wer nicht von Gott oder dem Himmelreich sprach, arbeitete für die andere Seite.

„An einen Ort, wo du als du selbst neu beginnen kannst. Es ist nicht schlimm. Dort hast du nicht zu leiden und du kannst leben, wie du immer leben wolltest.“

Kraftlos sackte sie etwas zusammen. „Das wäre schön. Ist an diesem Ort auch meine Tochter?“ Ihr trauriger Blick fiel auf das verwesende Fleisch in ihren Armen.

Schwierig. Zischend atmete er durch die Zähne aus, bevor er zögerlich fragte: „Starb dein Kind vor der Geburt?“

„... Sie schrie nicht.“

Also ja. „Dann gibt es eine kleine Chance, sie wiederzuse­hen. Und wenn ich ein Wort für dich einlege, kannst du dich dann noch an sie erinnern. Ihr könnt euch wiederfindet und in die Arme schließen.“

Ihre sterbenden Augen begann sehnsüchtig zu funkeln. „Danke. Ich danke dir“, wimmerte sie. Es war der winzige Schluck einer spärlichen Hoffnung, den er ihr zu trinken gab, doch dieser würde sie für die Reise kräftigen.

„Willst du meine Hilfe?“

Sie atmete tief ein. Tränen kullerten ihr über die Wangen, als sie nickte. „Bitte hilf mir, Engel.“

Na ja, fast.

Er beugte sich vor und flüsterte: „Schließe die Augen, dann wirst du sehen.“ Seine Hände, die schon so vielen Sündern das Leben geraubt hatten, zogen sie sanft in eine liebevolle Umar­mung. Er spürte, wie ihr Körper zitterte und die Seele allmäh­lich vom Diesseits gelöst wurde.

„Mir ist so warm ...“, hörte er ihre letzten Worte, dann er­schlafften ihre Glieder.

Entschlafen lag sie in seinen Armen und war im Tod so friedlich anzuschauen. Vielleicht war dieser Moment der erste in ihrem Sein als Mensch, in dem sie wirklich glücklich gewe­sen war.

Zärtlich küsste er sie auf die Stirn. „Willkommen zu Hau­se, Lea.“

„Oh, bitte nicht doch!“, ertönte eine Stimme aus dem Nichts. Sie war rau und kratzig wie die einer Krähe, noch dazu schleimig wie ein Aal. Ungehalten von dem Geschehen läs­ternd: „Nicht noch eine von diesen eingebildeten Nymphen! Seit Euch der Herr auf diese Mission geschickt hat, haben die­se Waschweiber rapide zugenommen. Eure Gefühle für das Menschengewürm sind viel zu weich.“

Der Mann lachte verzeihend, ohne sich dem Redner zuzu­wenden. „Du bist doch nur sauer, weil sie dich immer abblit­zen lassen. Aber sie stehen nun mal nicht auf Dämonen, Si­rus.“

Ein giftiges Fauchen ertönte im Schatten und aus dem Halbdunkel einer Sackgasse krabbelte eine schuppige Kreatur. Die Augen leuchteten blutrot und reflektierten das spärliche Licht wie die Iris einer Katze. Schwarz war der übergroße, teilweise human wirkende Echsenkörper. Lang der Drachen­schwanz und lederartig die Fledermausflügel auf dem gepan­zerten Rücken.

Erneut zischte das Wesen und entblößte dabei eine lange, spitze und vergilbte Zahnfront, die es zu einer Fratze des Hohns verzerrte. „Es liegt uns nun mal im Blute, für Schre­cken zu sorgen, wie es in Eurer Natur liegt, zu glänzen. Verär­gert mich nicht für etwas, das sich seit Äonen nicht geändert hat.“

„Ich habe es nicht so gemeint, Si. Verzeih.“ Er stand vom Boden auf und klopfte dem Dämon kameradschaftlich auf die verhornte Schulter. „Erzähl, was führt dich zu mir?“

Sirus blickte ihn an, als traue er dem Frieden nicht, wenn­gleich er kurz aufstöhnte, und mit seiner violetten Zunge über den lippenlosen Mund glitt. „Nun denn, ich bin hier, um Euch eine Nachricht zu überbringen.

Wie Euch selbst am besten bekannt sein sollte, erregt Eure Anwesenheit einiges an Aufmerksamkeit in dieser Saison. Die Menschen munkeln überall, dass ein Abtrünniger der Ihren tö­tend durch das Land zieht. Albern, so einen Verrückten mit Euch zu vergleichen ... Wobei es schön ist, zu sehen, dass Ihr Eure Aufgabe ernst nehmt, aber es gibt einige, die Euch Fahr­lässigkeit vorwerfen. Oder zu viel Demut ...“ Abschätzig sah er dabei auf die Leiche der Frau.

„Nun, wie auch immer“, fuhr Sirus fort, „wenn es nur diese Affen wären, denen Euer Tun ein Dorn im Fleisch ist, würde sich der Herr keine großen Sorgen machen. Doch es heißt, die himmlische Garde habe seit Kurzem einen neuen Anführer, der Euch nur zu gern wegen unerlaubter Seelenfängerei an den Kragen will. Ein verbissener Kerl. Mir scheint, dem liegt ein alter Groll zugrunde ...“

Jetzt horchte der Mann auf. „Die Weiße Garde? Woher will die Bescheid wissen? Nicht einmal Hades hat mir bisher was nachweisen können.

Außerdem sollten die da oben lieber froh sein, dass ich hier unten ausmiste.“

Der Drache zuckte die Schultern. „Euch ist ebenso be­kannt, wie paranoid der Hohe Rat ist.

Mit dem Erfüllen Eurer Aufgabe stärkt Ihr heimlich die Kraft unseres Landes, und da auf Euer Glück bisweilen sehr viel Verlass war und Ihr erfolgreicher richtet als der Todesen­gel, sehen die Weißen bestimmt ihre eigene Macht bedroht. Die glauben sicher, wir planen einen weiteren Großen Krieg mit all dem Kanonenfutter, und darum wollen die Euch aus dem Weg haben – mit oder ohne Beweise für einen Regel­bruch. Lasst Euch schon mal eine passende Ausrede ein­fallen.“

„Die sind noch viel dümmer als zu meiner Zeit, wenn sie glauben, dass der Morgenstern eine Rebellion plant. Als wenn der nicht genug beschäftigt wäre.“

„Das hat der Herr auch gesagt“, kicherte der Dämon, „aber auch wenn es nur Reibereien sind, er will Euch für das Erste in Sicherheit wissen. Er beordert Euch zurück in den Palast und beurlaubt Euch zusätzlich auf unbestimmte Zeit.“

„Was du nicht sagst“, seufzte er. Während Sirus geredet hatte, war er ein paar wenige Schritte auf und ab gegangen, um nachzudenken. Selbst wenn es ihn beunruhigte, die Weiße Garde in dieser Sphäre herumschleichen zu wissen und die Aussicht auf Urlaub in seinem Interesse lag, musste er zuge­ben, so ein vorschneller Abzug passte ihm nicht in den Kram.

Das lässt sich doch sicher noch etwas hinziehen.

Sirus stupste ihn mit der Kralle an, um seinen Kopf zurück in die Wirklichkeit zu holen. „Was ist denn nun? Was gibt es so lang für Euch zu überlegen? Wollt Ihr nicht gleich mit mir kommen?“

„Ähm, nein.“

„Wie bitte?“

Er legte seinen Arm über die teuflischen Schultern und führte den Untergebenen einige Fuß mit sich. Durch die Zähne sog er tief Luft ein und begann seine Entscheidung zu erklä­ren: „Sirus, mein Guter, richte doch bitte dem Morgenstern aus, ich komme nach.“

 

„Euer Humor ist erschreckend. Und bedenkt, der Herr ver­steht keinen Humor.“

Wie wahr, wie wahr ...

Den Einwand ignorierte er trotzdem. „Es dauert ja nicht lange, vielleicht aber noch einen kleinen Tag.“

Sirus knurrte leise. „Versteht Ihr den Ernst Eurer Lage nicht?“, setzte er an, obgleich er ausgebremst wurde.

„Schon! Aber du weißt, wer ich bin. Unterschätze mich also nicht. Ich kann auf mich aufpassen und hatte nie Proble­me hier in Assia.

Kumpel, diese Stadt hinter uns ist gleich Sodom und Go­morrha zusammen. Ich kenn da noch ein paar Namen, auf die diese Welt gut verzichten kann, die würde ich mir gern holen. Noch zwei oder drei Seelen und dann komme ich zurück.

Mein Ehrenwort. Klar?“

„Kristallklar wie der Elfenstein, aber der König -“, und wieder wurde Sirus unterbrochen.

„Dann soll der gute Chef selber hier vor mir erscheinen und mir einen Tritt in die Hölle verpassen. Einen weiteren Tag kann der ja noch auf mich verzichten, oder?“

Der Dämon zuckte mit dem Kopf und murmelte etwas, was verstohlen klang wie „Schaufle dir dein Grab“, und sagte schließlich deutlich: „Wenn es Euer Wunsch ist, werde ich es Ihm ausrichten.“

„Danke.“ Der Mann grinste falsch und war fertig mit dem Gespräch. Jetzt wollte er nur seiner Nase folgen, bevor der verseuchte Regen ihm Schwimmhäute wachsen ließ.

Über die Schulter rief er dem Dämon mit einem Winken noch ein kurzes „Jetzt geh besser, bevor dich einer sieht!“ zu, und wollte schon die Straße abwärts verschwinden, als ein schwefeliger Gestank seine Sinne streifte.

Schwarze Zauber, welche nur höhere Höllenbruten be­herrschten, lösten Sirus in Luft auf. Dem ungeachtet hallte sei­ne Stimme wie ein vergangenes Echo durch die Gassen.

„Gebt auf Euch acht, Obergeneral des Höllenheers. Gefal­lener Engel Deacon Heat.“

Die Stille, die dem sterbenden Flüstern des Windes folgte, war bedrückend und jagte einen Schauer über seinen Rücken.

Es war keine Angst, die Deacon verspürte. Nur das ungute Gefühl, nicht mehr Herr seines Schicksals zu sein. Vielleicht lag da wirklich etwas in der Luft.