Mit schwarzen Flügeln

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Aus der Reihe: Mit schwarzen Flügeln #1
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Mit schwarzen Flügeln
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Daimon Legion



Mit schwarzen Flügeln



Fortuna





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Zitat







Intro







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Epilog







Ave atque Vale







Impressum neobooks







Zitat



Sammle meine Gebeine auf.



Von der Müllkippe,



die dem Himmel



am nächsten ist.






Kazuya Minekura








Intro






Mama, wenn ich eines Tages sterben muss,







dann werde ich doch ein Engel







und komme in den Himmel, oder?








Aber ja, natürlich.







Du musst nur immer lieb und brav sein,







jedes Leben achten und den Glauben an Gott,







den Allmächtigen, nicht verlieren.







So werden die Engel gemacht







und du wirst einer von ihnen sein.








Was ist mit den bösen Menschen?








Die schrecklich bösen Menschen kommen







zum Teufel in die Hölle,







um dort für ihre Sünden bestraft zu werden.







Sie leiden dort Qualen







und die hässlichen Dämonen fressen ihre Seelen auf.







Doch keine Angst, du wirst nicht so enden,







wenn du auf Gott vertraust und sein Wort ehrst.








Was ist mit den Engeln, Mama?







Wenn sie gut sind, wohin gehen sie,







wenn sie sterben?







Und die Engel, die schwarze Flügel haben?







Kommen sie auch in die Hölle?







Wenn Engel tot sind,







was wird aus ihnen?








Ach, mein Junge.







Engel sterben nie.








1




„Extrablatt! Extrablatt!“, schrie der schmale Zeitungsjunge lautstark und wedelte dabei eifrig mit dem gelben Papierfetzen in seiner Hand. Ein Exemplar von vielen, die er in einer Um­hängetasche bei sich trug und jedem für wenige Kupferstücke anbot.



Die oberste Schlagzeile war weit bekannt und heiß begehrt. Niemanden interessierte die steigende Armutsrate, der drohen­de Börsenabsturz oder der missglückte Bankraub, bei dem alle Täter auf der Flucht erschossen wurden.



Solche Lappalien waren recht gewöhnlich und eigneten sich schlecht für den Verkauf.



Doch dieser Fall erregte Aufsehen.



Nicht, weil man allgemein von Mord sprach. Auch der Tod schrieb seine täglichen Geschichten. Das, was die Menschen so abscheulich und zugleich bemerkenswert daran fanden, war die Art, wie es passierte.



Als es vor einigen Wochen begann, achtete noch keiner groß auf die Ereignisse. Ein Toter. Ein verstorbener Großma­gnat aus dem Westen. Im Vergleich zu den vielen Menschen, die weltweit jede Sekunde aus den unterschiedlichsten Grün­den starben, ein nicht ins Gewicht fallendes Körnchen Staub. Es gab einen Nachruf, eine Trauerfeier, und ab ging es unter die Erde. Die Angehörigen beklagten den Vater, Onkel, Groß­vater, Freund und Arbeitgeber, gleichwohl konnte man nichts an der Situation ändern. Schließlich gehörte der Tod zum Leben. Er war unausweichlich, und auch wenn das Sterben etwas überraschend kam, war es ja nur natürlich. Man begrub eine Leiche und fertig. Die Welt drehte sich weiter.



Aber irgendwie häuften sich diese Vorfälle in kurzer Zeit. Immer mehr Tote wurden entdeckt, die in ihrer Art und Weise des Dahinscheidens einander verblüffend ähnelten und unwei­gerlich kam der Verdacht auf, dass dem Lauf der Natur unter die Arme gegriffen wurde.



Gesunde, aktive Menschen – oft von Wohlstand und ho­hem Ansehen – waren von heute auf morgen einfach kalt und mausetot. Da half alles Geld nichts, sie starben schlicht wie die Fliegen dahin. Die Hinterbliebenen suchten nach logischen Erklärungen, diskutierte mit zig Experten und sämtlichen aner­kannten Ärzten, doch bald hatte das gemeine Volk eine eigene Lösung für diese rätselhaften Fälle: Serienmord. Wie in den al­ten Zeiten. Die Mittel waren erst mal zweitrangig.



Offiziell hieß es, es handle sich um tragische Herzanfälle oder um ein neuartiges Virus, nur war es für den Pöbel in­teressanter, einem Sündenbock die Schuld zu geben. Zwar gab es nicht die geringsten Beweise für das Werk eines Menschen, denn kein fremdes Haar wurde an den Tatorten gefunden, je­doch reizte dies nur die Fantasien der Verschwörungstheoreti­ker.



Die Nachrichten witterten in den Gerüchten eine Goldader und hetzten gegen ein Phantom, das Jagd auf Menschen mach­te. Unsichtbar und lautlos, wie einem Schatten gleich.



Zur ironischen Belustigung der Massen trugen dazu die Versuche bei, diesem Geist auf die Spur zu kommen. Die Poli­zei tappte im Dunkeln und durchleuchtete erfolglos ein paar Untergrundgangs, Drogenbosse und sonstige Verdächtige. Sie ging zahllosen irrsinnigen Hinweisen der Bevölkerung nach und geriet in Konflikt mit privaten Gruppen, die am Rande der Selbstjustiz handelten, aber auch keine Ergebnisse vorbringen konnten. Unterdessen schoben sich Politiker untereinander den Schwarzen Peter zu; ganze Länder lagen im Streit und spra­chen von heimlichen Testungen chemischer oder biologischer Waffen, die gezielte Opfer forderten. Überall kriselte es in den Führungsspitzen, die weniger an einen einzelnen Täter glaub­ten.



Dagegen versuchten selbst alle möglichen Religionsschich­ten, diesen „Teufel“ zu bannen und die Menschen durch Gebe­te und Talismane zu beruhigen und zu beschützen. Als wenn derartiger Humbug hätte nützen können, um ein von den Me­dien geschaffenes Ungeheuer aufzuhalten.



Der Geist des Mörders, der Seuche oder was auch immer, spukte weiter umher, von Stadt zu Stadt, Land zu Land – und jetzt war er in dieser Gegend.



Prompt gerieten der rausgeputzte Adel wie auch das niede­re Volk in wilde, kopflose Panik.



Das Geschäft der kleinen Druckerei hier in den Slums lief gut – jedenfalls besser als sonst – durch dieses urbane Grusel­märchen, denn jeder schien wissen zu wollen, wen es diesmal erwischt hatte. Wie die Aasgeier stürzten die Menschen auf das rohe Fleisch zu, solange es nicht ihr eigenes war. So gese­hen war der wandelnde, gesichtslose Tod ein hervorragender Geldgeber.



Soll der ruhig weitermachen

, dachte sich der Junge und empfand dabei keinerlei Reue für seine Worte. Angst hatte er nicht. Seinen Vater oder ihn würde dieser Unheilbringer nie heimsuchen, davon war er überzeugt. Die Opfer stammten bis­her alle aus den besseren Kreisen – die kleinen Händler und Bettler, die es so schon schwer hatten im Leben, kümmerten ihn wohl wenig. Was hatten sie ihn auch zu fürchten – ihn, der alle gleichmachte? Einen Tod musste jeder sterben, selbst die Reichen.

 



Gerade die zitterten jeden Morgen nach dem Aufstehen, und wenn sie wieder des Nachts in ihre federweichen Betten stiegen, winselten sie bei dem Gedanken, vielleicht nie wieder aufzuwachen und eine weitere starre Leiche zu sein. Ihren ge­liebten Besitz zu verlieren, der sie ja vom schlichten Gewürm der Gassen unterschied, war schlimmer als die Frage, was mit ihren im Tod geschehen würde.



Endlich mal ein Fall von höherer Gerechtigkeit

, sann der Junge trotzig über die konfuse Geschichte nach und verkaufte eine Zeitung an eine unbekannte Frau. Aus der Tasche zog er eine neue Ausgabe, mit der er von vorn anfing, auf sich auf­merksam zu machen, und schrie: „Extrablatt! Erfahren Sie al­les zu den neuesten Todesfällen! Renommierter Anwalt aus der Glasstadt wurde tot aufgefunden! Mord, Epidemie oder Aberglaube – was steckt dahinter?“



Schon sah er sie rennen.



Es geschah selten, dass sich die Bewohner der noblen Oberschicht aus den sauberen Glasvierteln in die schmutzigen Straßen der verfallenen Unterstadt wagten. Meist schickten sie spießige Laufburschen, um sich über die aktuellsten Nachrich­ten zu informieren, doch seit die Bedrohung quasi vor der Haustür stattfand, hielten es einige nicht mehr aus zu warten, und wollten direkt vor Ort alles erfahren.



So auch diese fein gekleideten Herrschaften. Männer und Frauen mit zu viel Puder im Gesicht, um die Falten zu glätten, damit sie nicht wirkten wie ein schrumpeliger Apfel (aller­dings glichen sie damit eher einer Wand, bei der langsam der Putz einriss).



Der Junge verkaufte an ein Ehepaar und bedankte sich höf­lich. Diese Leute erwiderten nie etwas. Blickten ihn nur mit verbissenen Mienen an, weil er für sie mindestens genauso stank wie aller Abfall an diesem Ort. Schnell wandten sie ihre bleichen Fratzen von ihm ab und staksten davon, mit spitzen Fingern Rock und Hosenbeine hochziehend, damit der Saum nicht vom Unrat beschmutzt wurde, der alle zwei Schritte auf den holprigen Gehwegen zu finden war.



Kopfschüttelnd schaute er ihnen nach. Wer in dieser Welt das Geld besaß, konnte sich benehmen, als sei er ein König, der über allem erhaben schien. Prunk oder Leben, es kostete die Reichen bloß Papier, das sie dennoch nicht mit den Armen tei­len wollten. Geld tötete das Mitleid bereits vor Jahrzehnten.





Eitle, geizige Halsabschneider. Die haben es nicht anders verdient, als dass ihnen mal jemand tüchtig Angst einjagt. Tun so, als ob sie besser sind als wir ...





Vielleicht waren sie die Nächsten, die starben. Er würde ih­nen nicht nachtrauern. Für ihn hatten sie schließlich auch nichts übrig. Für den Wurm, der in dieser von Dreck überfüll­ten Gegend geboren und aufgewachsen war. Wie auch sein Va­ter und dessen Vater.



Jemals diesem Elend entkommen zu können, war unmög­lich. Es fehlte dazu schlicht an Geld. Da konnte er irgendwie noch froh sein, überhaupt ein paar Münzen nach Hause in die Familiendruckerei zu bringen. Anderen ging es da wesentlich schlechter ohne einen solchen Verdienst. Die stahlen und ga­ben sich dem Alkohol hin, wenn nicht noch schlimmeren Din­gen.



Wenn die Druckerpresse aufgrund von Verschleiß mal wie­der streikte, musste der Junge oft hören, wie erbärmlich diese Welt zugrunde ging. „Der Mittelstand ist längst Geschichte“, schimpfte der Vater dabei und fluchte auf all die Menschen, die nicht wussten, wohin mit ihrem Vermögen und es dann für unnützes Zeug ausgaben. „Eines Tages sind wir wieder Bauern und Leibeigene der Herren und Fürsten. Dann sind wir in ei­nem neuen finsteren Mittelalter angekommen! Und da nennen wir uns Menschen, bei so viel dummer Rückständigkeit?“



Die Worte schallten in seinem Kopf wider, als er einem Adelsmann im Anzug die Zeitung reichte.



Dieser entriss sie ihm barsch und warf die Kupferstücke zur Bezahlung in den Straßendreck. Auch beschwerte er sich, dass der Preis viel zu hoch angesetzt war für einen derart stin­kenden Fetzen vergilbten Altpapiers.



Der Junge schwieg und las die Pennys auf. In der nächsten Pfütze würde er sie abwaschen.

Geld stinkt also nicht? Dieses schon.



„In die Gosse gehört so eine Ratte wie du“, hörte er den hässlichen Alten spotten, bevor der von dannen zog. Seinen ei­genen Zorn musste er hinunterschlucken.



Es wird irgendwann besser werden. Eines Tages wird Gott vom Himmel herabsteigen, die gierigen Menschen strafen, zum Teufel jagen, und ihn, seinen Vater und alle anderen an­ständigen Leute in das Paradies führen. Dort wird es keinen Hunger und keine Not geben und niemand wäre höhergestellt als sein Gegenüber. Seine Mutter hatte fest an dieses Wunder geglaubt, noch auf dem Sterbebett. Sie betete zu Gott und er­klärte ihrem Sohn, wie wichtig es sei, rechtschaffen und gut zu leben, um in den Himmel zu gelangen. Ob sie ihn jetzt hinter den gelben Wolken sehen konnte?



Er wollte wie sie hoffen. Wenn es nur nicht so schwer wäre. Mit jedem neuen Tag fragte er sich, wieso er eigentlich noch rechtschaffen und gut sein sollte, wenn es den Betrügern und Bösen in der Welt so viel besser ging als ihm. Aber wo­möglich war dieser sogenannte Spuk ja von ihrem Gott ge­schickt worden, weil er selbst nicht eingreifen konnte. Viel­leicht war der Tod das Werk eines rächenden Engels.



Ein Aufschrei ließ ihn zusammenfahren.



Es war der alte Geldsack von eben, der sich mit hochrotem Kopf vor Zorn lauthals echauffierte. Offenbar hatte ihn jemand angerempelt oder gar gestoßen, dass er lang auf den Bürger­steig landete und sein teurer Anzug dabei arg in Mitleiden­schaft gezogen wurde. Somit roch er nicht besser als das Geld in der Hand des Jungen.



Ein kurzes Lachen konnte er nicht unterdrücken. Erfreut schaute er zu demjenigen hinüber, der (dem Geizhals nach) Schuld an der peinlichen Situation hatte.



Auch ohne diesen lautstarken Tumult wäre ihm der Fremde aufgefallen. Obwohl der junge Mann scheinbar kein Adliger war, strahlte er eine kühle Gelassenheit und Eleganz aus. Sein schulterlanges schwarzes Haar wehte seidig im fauligen Gas­senwind, ebenso die Schöße des schneeweißen Mantels, den er über einer Art schwarzen Uniform trug. War er ein Soldat oder ein Krieger?



Frei von jeglicher Emotion blickte er den Alten an, als kümmerte es ihn herzlich wenig, wie dieser ihn beschimpfte. Die blassblauen Augen glichen einem starren Eisblock.



Allmählich verstummte der Geldsack durch diese stoische Ruhe. Erschöpft schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und stotterte schließlich ein paar wirre Worte zu­recht. Im Groben klang es, als verlangte er eine Entschuldi­gung von dem Fremden.



Stolz hielt der den Kopf erhoben und sah vernichtend auf den Mann hinab, bevor er mit fester Stimme sprach: „Ich frage mich, wer die Ratte ist? Denn ich sehe auf dem ganzen Platz nur ein Ungeziefer, das hier am Boden kriecht. Sie,

Sir

, sind so überflüssig wie Ihre Worte.“



Alle klägliche Farbe wich durch diese Herablassung aus dem faltigen Gesicht. Die dünnen Glieder begannen wie Spin­nenbeine zu zittern und mit den Zähnen klapperte der Adels­mann wie vor Frostkälte. Gegen diesen großen Mann erschien er hilflos wie ein Kind.



„Verschwinden Sie von hier!“, befahl der Soldat schroff. „Das sind nicht Ihre Straßen.“



Gleich einem geprügelten Hund rappelte sich der Alte rasch aus dem Schmutz auf und verschwand schnellstmöglich, ohne sich nach dem Fremden noch einmal umzusehen. Als wäre der Satan persönlich hinter ihm her.



Der Herr Soldat atmete tief durch und seine standhafte Haltung sackte leicht in sich zusammen. Seine kühle Art hatte er sich scheinbar bloß für diesen Geizkragen zurechtgelegt. Jetzt ließ er diese Maske fallen und kam langsam auf den Jun­gen zu.



Der begaffte ihn für seine Kühnheit fasziniert. Ein norma­ler Bewohner der Unterstadt hätte es niemals gewagt, einen Reichen so zu beleidigen. Beinahe kam ihm der Mann wie ein Held vor. Als der Soldat sich ihm zuwandte, roch der Junge einen zarten, ja himmlischen Duft, der wohl von diesem Fremden ausging. Für einen Moment verschwand selbst der Kloakengestank.



„Eine Zeitung bitte“, forderte ihn der Unbekannte ruhig auf, wobei ein sanftes Lächeln seine feinen Lippen umspielte. Er sah sehr schön aus.



Gern kam der Junge seinem Wunsch nach.



„Bitte, mein Herr.“



„Ich danke dir“, sagte er mild und betrachtete die Titelseite mit eindringlichem Blick. Dann griff er in seine Mantelinnen­tasche und holte ein braunes Ledersäckchen hervor, welches er dem Jungen in die Hand legte. Der war sprachlos, fühlte er doch bereits am Gewicht, dass es keine Aluminiumchips beinhaltete.



„Passt so“, erklärte ihm der Mann. „Den Rest darfst du be­halten.“



Bestürzt wollte der Junge die Spende nicht haben und drängte ihn, sie zurückzunehmen. „Mein Herr, das geht nicht. Das ist viel zu viel, das kann ich nicht -“, aber der Mann woll­te nichts davon hören.



„Mich kümmert kein Geld. Wenn du es gebrauchen kannst, nutze es. Ich sehe am Druck, dass eure Presse schwächelt. Lasst sie reparieren.“



Der Junge überlegte und löste sich von der Bescheidenheit. Neugierig lugte er in das Innere des Geldbeutels. Es verschlug ihm abermals die Sprache, so viel Gold zu sehen. Mit großen Augen schaute er zu dem Soldaten auf. „Ich danke Ihnen, mein Herr. Das werde ich Ihnen nicht vergessen.“



Mit vor Verlegenheit gesenktem Blick trat der Mann von ihm zurück und lächelte. „Doch, das wirst du. Das Beste wäre, du vergisst mich sofort.“



„Warum?“



„Darum.“



Der Soldat drehte dem Jungen den Rücken zu und ging sei­ner Wege.



„Werde ich Sie nie mehr wiedersehen?“, rief der Junge ihm bestürzt nach, jedoch ohne Antwort zu erhalten.



Stattdessen gab der Mann ihm über die Schulter einen kurzen Abschiedsgruß, bevor sein langer weißer Mantel, dem kein Unrat dieser Gasse anhaften konnte, hinter der nächsten brüchigen Hausecke verschwand. Mit seinem Verschwinden verpuffte auch der Duft und um den Jungen herum roch es wieder nach Dreck.



Irgendwie hatte er gehofft, dass der Soldat zurückkäme. Dass sie Freunde werden und er wie ein großer Bruder mit in der Druckerei arbeiten könnte. Es war eine vergebliche Hoff­nung.



Das Gold im Lederbeutel klimperte.



Sein Vater würde Augen machen, wenn er es ihm zeigte.



Mit einem Grinsen im Gesicht fasste der Junge seine Um­hängetasche fester und rannte nach Hause.



Dem schwarz gekleideten Mann in weißem Mantel sollte er nie wieder begegnen.






Was wolltest du mit den Menschen eigentlich erreichen?





Die Zeitung unter den Arm geklemmt, hechtete er im Lauf­schritt durch die Unterstadt und rempelte dabei den einen oder anderen Passanten an. Wenngleich diese Leute ihn nicht auf­hielten, so wie dieser alte Knochen vorhin. Wie tote Fische, die mit dem Strom abwärts gleiten, liefen sie stumm und ohne den Kopf zu heben die Wege entlang, die sie schon immer ge­gangen waren und auch weiter gehen würden. Wie in einer Herde von Schafen. Wahrscheinlich bezeichneten sie deshalb ihren Gott als Hirten.





Menschen.







 Das ist doch alles eine Farce.







 Wozu hast du ihnen den freien Willen gegeben, wenn sie keinesfalls davon Gebrauch machen? Warum können sie frei wählen und ihr Schicksal selber bestimmen? Dabei stehen sie nur dumm da und glotzen stumpfsinnig aus der Wäsche. Du hast sie uns einst vorgezogen, doch jetzt kümmert dich dein feines Spielzeug nicht mehr.







 Der Mensch ist eine in Monotonie verfallene Puppe. Feige gegenüber Veränderungen.







 Du magst deine Gründe gehabt haben, einen Adam zu er­schaffen, bloß fehlt dieser Kreatur zeitlebens das Rückgrat. Ich kenne die wahre Geschichte zu gut von Ihm. Er sagt auch, dass du Fehler schlecht verkraftest. Dein ganzes Allmachtsge­laber ist nur Fassade und besitzt keinen Wert ...





Nach diesem Spott fühlte er ein Ziehen und Stechen in sei­ner Brust und sein Magen begann zu rebellieren. Er blieb ste­hen und schüttelte dieses widerliche Gefühl ab.





Ach, wie konnte ich es nur wagen, dein Urteil infrage zu stellen?





Sein Sarkasmus wurde mit einem weiteren Anflug von Übelkeit belohnt. Wenn er in dieser Welt war, spürte er noch immer die Anwesenheit Gottes. War der großen Macht also doch noch was an der Erde gelegen? Vielleicht nur ein flüchti­ger Blick aus mäßigem Interesse auf das Treiben Assias und da hatte das Alpha und Omega ihn dummerweise gehört. Wie die Geschicke heute dort oben gelenkt wurden, konnte er freilich nicht wissen ...

 



Aber ich weiß, Gott hasst Kritiker.

 Im Gehen grinste er frech zum Firmament hinauf.



So unaufmerksam stieß er wieder mit der Schulter gegen einen entgegenkommenden Mann, der aber taub weiterging, als hätte er nichts gemerkt.



Wieder ein Fall von Trägheit – was für eine Verschwen­dung

, gestand er sich ein. Von all den begriffsstutzigen Men­schen dieser Stadt konnte er gerade mal die Seele des Zei­tungsjungen als gut aufführen. Er mochte Kinder. Ihre Lebens­lichter glänzten zumindest noch etwas in diesem elenden Sün­denpfuhl.



Die Reichen in ihren verspiegelten Glasstädten waren ver­dorben bis ins Mark und den armseligen Pennern in den Slums war offenbar alles egal. Auch wenn sie noch lebten, hatte er öfters das Gefühl, unter Zombies zu gehen. Kein Wunder, dass es immer schwerer wurde, zwischen ihren Reihen zu ver­schwinden. Ob er besser eine andere Ebene aufsuchen sollte? Doch würde ein Zauber nur andere auf ihn aufmerksam machen.



In den Geschäftsmeilen der Kaufleute angekommen, setzte er sich auf eine der Straßenbänke. Die Unterstadt lagen hinter ihm, dennoch roch die Luft nach fauligen Abgasen, die nicht einmal seine Aura neutralisieren konnte, und auch der gelb­lich-trübe Wolkenhimmel wollte nicht einen Sonnenstrahl zu ihm hinunterlassen. Natürlich waren hier dieselben toten Ge­sichter zu finden.



Um sie nicht mehr sehen zu müssen, faltete er die Papier­zeitung auseinander und begann zu lesen – neugierig zu erfah­ren, wie sie ihn diesmal darstellten.



Hartnäckig waren diese Menschen, das musste er ihnen lassen. Sie setzten ganze Legionen auf ihn an, obwohl es völ­lig sinnlos war. Mit Netzen, Schusswaffen und Staatsgewalt konnte man ihn nicht fangen. Schon gar nicht mit einem verzweifelten Götzendiener, der nutzlose Gebete faselte.



Eine Liste der bisherigen Todesopfer war abgedruckt.



Mhm

, dachte er nach,

in deren Berechnungen fehlen ein paar Namen. Haben sie wohl noch nicht gefunden ...



Etwas mehr als zwei Dutzend waren es bisher. Und schein­heilig wurde die Frage nach dem „Warum?“ gestellt.





Was gibt es da zu überlegen?





Wie ignorant waren die Leute, um nicht zu erkennen, dass er ihnen eigentlich sogar einen Gefallen tat, indem er diese Personen getötet hatte. War es nicht offensichtlich genug? Die Sünde hatte den Menschen erfolgreich vergiftet, besonders in Machtpositionen. Die höheren Kreise quollen über vor Ge­stank, Dreck und Schande, als dass sie mit Gold und Glanz zu kaschieren waren.



Wenn er nur an die letzten verdorbenen Seelen dachte, die er gesammelt hatte, drehte sich ihm erneut der Magen um. Kinderschänder, Vergewaltiger, Sadisten, Zuhälter und Folte­rer. Wahrhaftige Mörder, kaltschnäuzige Tyrannen und Klin­gen schwingende Raubtiere. Betrüger, Schwindler und Leug­ner, die am Leid anderer ihre Gier befriedigten.



Er machte hier nur seine Arbeit. Schickte diesen Abschaum an den Ort, wo ihre Energien noch hilfreich sein konnten, statt dass sie in dieser Welt weiter ungestraft davonkamen, nur weil sie den nötigen Einfluss besaßen. Kanonenfutter, Kohle und Schmiedestahl waren gern bei seinem Herrn gesehen.



Das einzige Problem war die Auffälligkeit. Da konnte er noch so lautlos wie ein Geist umherwandern und von Tatorten ungesehen verschwinden – aber wer ihn einmal sah, spürte das Übermenschliche von ihm ausgehen. Bislang lief ja alles gut, doch er sollte vorsichtiger sein. Vielleicht eher die Menschen meiden, statt die Masse als Deckung zu benutzen. Nicht nur Gott warf ab und an ein Auge auf Assia.



Und Er wäre wütend, wenn Er seinetwegen Ärger bekäme.



Kurz durchstöberte er noch die anderen Tagesmeldungen und entdeckte sogar einen Bekannten, dessen Seele er in der kommenden Zeit stehlen wollte. Der übrige Tand war ihm tri­vial. Mit der Zeitung fertig, stopfte er sie in den bereitste­henden Mülleimer, selbst wenn dieser nicht danach ausschau­te, als ob man ihn regelmäßig leerte.



Er beugte seinen drahtigen Körper vor und fuhr sich seuf­zend durch das dichte schwarze Haar.



Sobald sein Auftrag erledigt war, würde er ein paar Tage Urlaub einreichen und sich von diesem Mief in der Luft erho­len. Da roch es selbst auf der Schädelhöhe angenehmer ...



Durch das Schaufenster einer Boutique erblickte