In die grüne Tiefe hinab

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Sein Name ist übrigens Sharik.“

Una ließ die Hände sinken und murmelte: „Das klingt wie ein Hundename.“

„Der Meinung war ich auch mal“, hörte sie Lorin wieder lästern. Diesmal war es Arnold, der nach ihm schnappte.

„Lass dich nicht hängen, Una“, ermunterte Penina sie sanft. „Komm. Lass uns zu Sharik gehen. Er kann dich zwar nicht wieder lebendig machen und dir dein altes Leben zurückgeben, aber er hat genug Kraft, um dir beizustehen.

Er wird dir helfen.

Und er wird diesen Eindringling fassen.“

3

Der Wassermann

Mit langsamen Bewegungen folgte Una ihren drei Wegbereitern durch die grüne Unterwelt. Ab und an schwamm sie ein paar Züge, schließlich war sie ja im Wasser. Ansonsten blieb sie weitestgehend zurückhaltend und überließ den anderen die Führung. Sie hätte sowieso nicht gewusst, wo dieser Herr vom See sich aufhielt.

Sharik.

Klang slawisch. Als Kind hatte sie einen russischen Märchenfilm gesehen, indem es um eine traurige Nixe ging. Die Handlung war ihr aber entfallen …

Wie er wohl war? Wie sollte sie ihm begegnen? Reichte er ihr die schuppige Hand, äh, Flosse? Grüßte er sie höflich, majestätisch? Oder würde er sie angreifen, feindlich verjagen aus seinem Gebiet? Sollte sie fliehen? Wohin hätte sie gehen sollen? Und zurückschlagen? Hatte sie die Kraft, sich einem jahrhundertealten Geist entgegenzustellen?

In ihrem lahmen Zustand hätte sie nicht mal ihre Oma aufhalten können. Selbst ein Wegrennen war aussichtslos, vor einem Wesen, das halb Fisch war. Sie konnte es nur geschehen lassen, wie es geschehen würde. Dennoch hatte sie entschieden, im Falle eines Angriffs, mit aller Kraft zu kämpfen. Sie war bereits tot – was sollte ihr noch passieren?

Jedoch waren das alles Fantasien. Una konnte jetzt überheblich denken, wie und was sie tun würde. Was wirklich wäre, stand auf einem anderen Blatt. Sie hatte keinen Plan von nichts. Nicht einmal die Größe des Sees hatte sie richtig eingeschätzt.

Unter ihren schwebenden Füßen waberten die ausgedehnten Algenfelder. Ab und an nahm sie die Bewegungen einiger Fische und Krebstiere wahr. Auf schwarzen, von Zeit und Strömung abgerundeten Felsen tummelten sich Schnecken und Würmer, die sich wiederum im Hornblatt verbargen, kaum dass sie die Neugier des Mädchens bemerkten.

Auch säumten verfallene Ruinen den Weg der Gruppe. Mehrere Grundmauern ragten aus dem Dickicht hervor und durch die leeren Fenster huschten Bitterlinge und Moderlieschen. Ein Dorf musste überflutet worden sein, als der See sich ausgedehnt hatte. Vor wie vielen Zeiten war das?

Una blickte durch den kahlen Türbogen in das Innere einer Behausung. Spuren von Menschen gab es schon lange nicht mehr. Dafür krabbelten unzählige Kleintiere vor ihr davon, hinein in die schützende Wasserpflanze, die hoch wie ein Baum wuchs. So manches Grün besaß hier unten gigantisch wirkende Ausmaße.

Neben den gewöhnlichen Seebewohnern begegnete die Gemeinschaft weiteren sprechenden Gestalten. Ein Sonnenbarsch grüßte sie salopp, Lorin klatschte sich mit einem Molch ab und eine Elritze beäugte Una überaus interessiert. Penina musste hartnäckig auf sie einreden, um sie davon abzuhalten, der Partie zu folgen. Um gaffendes Publikum hatte auch Una nicht gebeten.

Was für seltsame Viecher, dachte sie und versuchte, das rege Treiben im Unterwasserwald auszublenden.

Nach einer Weile ließen sie den lebhaften Teil des Sees hinter sich. Die Landschaft verödete, wurde karg und rau wie ein verwaistes Gebirge. Der Boden wurde immer abschüssiger und führte noch tiefer in das Seeinnere. Nur wenige Stängel und Algen wuchsen und gerade mal ein paar bleiche Krebse krochen vor ihnen her. Das aufkommende Licht des Tages wurde in der Tiefe immer schwächer.

Und unvermutet erschien in der trüben Dunkelheit ein Graben. Gleich einem Schlund tat er sich auf und gähnte breit mit seiner scharfkantigen Kluft. Wie weit musste es hier nach unten gehen, wenn kein Sonnenstrahl den wahren Grund des Sees je erreichte? Von außen hatte das Wasser so friedlich gewirkt. Bestimmt wusste kein Mensch in der Großstadt, dass dieser unscheinbare alte Badesee derart abwärts führte. Hätten sie es gewusst, wäre mit Sicherheit niemand auf den Gedanken gekommen, auch nur den kleinen Zeh ins Wasser zu tauchen.

Vorsichtig lugte Una über den Rand der Erdspalte und verspürte dasselbe Unbehagen wie vor der Begegnung mit dem Wassergeist. „Lasset alle Hoffnung fahren“, beschrieb das Gefühl am besten.

„Dort unten lebt er?“, war sie ungläubig.

„Ja, derzeit“, bestätigte Arnold. „Zumindest solange er im Winter schläft. Dort unten ist das Zentrum des Sees, also die Quelle. Der Herr ist der Einzige, der weiß, wie es da aussieht. Uns ist es verboten, bis in die endgültige Tiefe vorzudringen. Manchmal kommt es aber vor, dass wir ihn wecken müssen.“

„So wie heute“, erinnerte Penina alle und schwamm voraus. „Ich werde gehen. Oder will einer von euch?“

Arnold und Lorin, der vorgab zu pfeifen, wirkten nicht sehr begierig auf das Unternehmen.

„Hasenfüße“, bemerkte die Karausche abfällig.

„Diese Schlucht ist echt gruselig“, sagte Una mit einem zweiten Blick ins Dunkel. „Ich kann verstehen, warum sie keine Lust haben.“

„Der Graben ist nicht das Ding“, verteidigte sich der Frosch erstaunlich ernst, „doch Sharik hat stets schlechte Laune, wenn man ihn so früh im Jahr weckt. Ich würde mir das dreimal überlegen, Nina.“

„Seine Laune wird auch nicht besser sein, wenn wir ihm die Nachricht vorenthalten“, meinte Penina. Mit einem gewitzten Schlenker zischte sie hinab in die Finsternis. Nach wenigen Zügen war ihre Schwanzflosse verschwunden.

„Ha!“, lachte Lorin freudlos auf. „Die sind wir los.“

Una hoffte, dass es bloß sein üblicher Zynismus war. Wenn dieser Wassermann wirklich ein brutales, stumpfsinniges Monster sein sollte, wollte sie lieber freiwillig den See verlassen und ins Unbekannte aufbrechen, als auch nur einen Moment mit ihm zu erleben. Von Peninas so sehnlich gewünschten Intimitäten ganz zu schweigen. Sie könnte niemals ein solches Ungeheuer lieben.

Was soll das hier werden?, dachte sie. Die Schöne und das Biest in Wasserversion?

Bevor der Ekel sie bezwang, versuchte sie ihn zu verspotten.

„Herr?“

Von unten, aus dem Dunkel, hörten die drei Penina rufen.

„Herr? Mein Herr!“

Die Erdspalte musste wirklich sehr tief sein. Ihre Stimme brach sich an nackten Felswänden und nach oben drang bloß ihr von Zeit verzerrtes, blechern klingendes Echo.

Angestrengt lauschte Una auf einer Reaktion. Erneut rief Penina, nannte ihn laut beim Namen – „Sharik!“ – und nach einer scheinbar langen Pause hörte sie ihn endlich sprechen.

„Wer stört?“

Eine kalte Stimme.

Nun, zumindest nicht die eines morschen Opas, musste sie zugeben. Im Gegensatz zu ihrer eigenen, klang diese klar verständlich, nur leise, fast heiser, und wirkte äußerst verschlafen. Dazu gereizt. Una lauschte einem langen, knurrenden Gähnen und Luftblasen stiegen etwas später auf.

„Ich bin es, Penina.“

Er ließ abermals mit einer Antwort auf sich warten.

„Ach ja … Die blöde Schickse, die meinte, in meinen See zu pissen …“

Diesmal zeigte er sich deutlich verärgert. Noch mehr aber wunderte Una das Gesagte. Es schien beinahe so, als sei die Fischfrau ein Mensch gewesen. War das möglich?

„Ich kann nicht oft genug sagen, wie leid mir das tut“, sagte Penina halblaut. Sie schämte sich.

Sharik streckte sich vermutlich. Jedenfalls hörte Una so eine Art Stöhnen von ihm, bevor er redete: „Das macht es auch nicht besser. Du solltest dich glücklich schätzen, dass ich dich nicht zum Strudelwurm degradiert habe.

Warum weckst du mich? Es ist noch Winter. Ich bin müde, lass mich schlafen.“

„Ich bedaure, doch es ist dringend!“, erklärte sie gewissenhaft. „Es geschah in der Nacht, am nordwestlichen Ufer. Ich war dort mit Lorin und Arnold, als plötzlich, wie aus dem Nichts -“

„Spar dir langes Umschweifen“, unterbrach der Wassermann sie barsch.

„Ein Mädchen ist im See ertrunken, Herr! Erst dachten wir, sie wäre von selbst durch das Eis ins Wasser gegangen, aber dann sagte sie uns -“

Scharf fuhr er ihr ins Wort: „Sie sagte? Sie ist zurückgekommen?“ Er wirkte mit einem Schlag hellwach.

„Aber ja. Oder habt Ihr sie ertränkt? Das Mädchen ist jedenfalls überzeugt -“

Penina kam nochmals nicht zum Ausreden.

Ein Rauschen drang von unten herauf.

Lorin brüllte ein hastiges: „Weg hier!“, auch wenn Una nicht wie gewollt wegkam. Sie trudelte im Gehen abseits, das Wasser verlangsamte ihre Bewegungen, bevor sie sich wieder auf das Schwimmen besann und so mit einem etwas unkoordinierten Paddeln rascher fortkam von dem Graben, aus dem, versetzt mit unzähligen Luftblasen, ein starker Strom schoss. Ein fremdartiges Geschöpf wurde mit dem Katarakt aus dem Spalt gespien, das sie prompt mit grimmigen Augen erfasste. So schnell, wie es erschienen war, schwamm es gleich einem Torpedo auf das Mädchen zu.

Vor Schreck fiel Una rücklings auf den Boden.

Dieses Wesen bewegte sich ruckartig und flach über den schroffen Felsgrund, ähnlich einer jagenden Spinne. Langgliedrige Hände mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern griffen fest in Stein und Schlamm. Der Wassermann drückte sie nieder, über sie gebeugt, weiter zurückdrängend, auch wenn Una nicht mehr weichen konnte. Und bei allem, was ihr heilig war – wenn sie hätte flüchten können, hätte sie es getan.

 

Was hatte sie sich vorgestellt? Erwartete sie einen echten König Triton? Einen väterlichen Greis, einen alten Krieger, halb Mensch, halb mit Fischschwanzflosse? Eine Kreatur, die ihr aus den Märchenbüchern und Filmen vertraut wäre?

Doch er, Sharik, war gerade mal vom Körperbau einem Menschen halbwegs ähnlich. Ein Kopf, Schultern, seitlich zwei sehnige Arme, ein männlicher, drahtiger Oberkörper … aber er besaß keine rosafarbene Haut, er war mit Schuppen bedeckt. Feine weiße Fischschuppen zierten das hagere, haarlose Gesicht, seinen Hals, Brust, Bauch und die Arminnenseiten. Sie gingen in gröbere, grün schimmernde Schuppen über. Muster zeichneten sich dunkler ab. Sein Haupthaar war lang und grünlich. Wie Algen schwang es wild mit dem Wassersog. Flach war die reptilienähnliche Nase mit den schmalen Nüstern. Winzige Bläschen drangen mit jedem Atemzug aus den roten Kiemen, die sich unter Schuppenplatten auf beiden Seiten des Halses befanden, nah hinter seinen Ohren.

Una blickte direkt in die goldgelben Augen. Erst erschienen sie ihr lidlos und unbeweglich, fest auf die Beute fixiert. Doch endlich blinzelte er und sie funkelten lebendig. Allein seine Augen waren wirklich alt. Sie hatten viel gesehen. Viel erlebt. Und getötet. In seinem bohrenden Blick erkannte das Mädchen, was er war.

Ein Jäger. Ein großer, starker, gefährlicher Raubfisch.

Ein Ungeheuer, gegen das ein schwacher Mensch nie eine Chance hätte. Sie fühlte sich verloren. Ihm ausgeliefert. Er würde sie fressen oder gar Schlimmeres mit ihr anstellen und würde dabei noch nicht einmal Skrupel verspüren. Typisch für einen Dämon.

Ein Grollen entwich seiner Kehle und Una sah hinter den schmalen, blutleeren Lippen nadelspitze Zähne blitzen. Fischzähne. Ein Mann gewordener Fisch.

„Was machst du in meinem See?“, fauchte er sie wütend an. Das „meinem“ betonte er extrem deutlich.

Sie schlotterte, doch nicht vor Kälte. Sein Körper lag auf ihrem und Una fühlte sein Gewicht. Fühlte den glatten, glitschigen, muskulösen Fischleib, in den sein humanoides Selbst nahtlos überging. Ein kryptozoologisches Wunder, der wirren Fantasie eines Kindes entsprungen.

„Mach dein Maul auf!“, brauste er lauter auf und Una zuckte zusammen.

„I-i-ich“, bekam sie schwer vor Angst die Worte heraus, „wollte nicht. J-jemand hat mich nach unten gezogen und ich bin er-ertrunken. Ich wollte nicht sterben!“ Ihre Stimme wurde recht weinerlich, an der Furcht erstickend, und Una begann sich zu schämen, dass sie es nicht verhindern konnte. „Ich wollte leben!“

„Das sagen sie alle“, knurrte Sharik herzlos. „Jeder Wurm, den ich ertränkt habe, hat mir die Ohren vollgejammert, wie sehr er doch am Leben hing. Doch das kümmert mich nicht.

In meinem See dulde ich niemanden neben mir.

Du erzählst mir keine Lügen. Wenn du dich schon töten musstest, warum konntest du dir keine Kugel durch den Schädel jagen und an Land verrecken? Dann wärst du kein Problem für mich geworden!“

„Ich lüge nicht! Ehrlich, ich bin nicht schuld daran!“, lag es jetzt an Una mit aller Kraft zu schreien, nur wesentlich verzweifelter und noch immer gedämpft vom Wasser. „Jemand hat mich nachts mit falschen Versprechen weggelockt! Zu deinem See! Und noch mal, er hat mich gepackt, hinuntergezerrt und erst wieder losgelassen, als ich am Ertrinken war! Ich hatte nicht vor, dir deinen Platz wegzunehmen! Und ich will auch gar nicht bleiben! Ich will wieder leben! Ich will zurück nach Hause!“

„Leider ist das jetzt unmöglich“, sagte Sharik ungerührt und seine blauen Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln, „auch wenn es sehr in meinem Interesse läge, dich zurückzuschicken, glaub mir …“

Er nahm eine nachdenkliche Haltung ihr gegenüber ein.

Verlegen war er nicht. Seine Arme lagen verschränkt auf Unas Brust, sodass sie sich noch immer nicht erheben konnte.

Hat der Kerl nie etwas von Abstand gehört?, dachte sie ärgerlich.

„Doch nehme ich mal an“, begann er für sich laut nachzudenken, „du sagst die Wahrheit … Wer hätte dich töten sollen und wieso?

Es ist zu früh im Jahr, die meisten Wassergeister schlafen noch. Die wenigen, die jetzt schon wach sind, leben weit ab von meinem See, außerhalb der Stadt. Und was hätten sie für einen Grund, mir eine jammernde, nutzlose Göre wie dich aufzuhalsen? Das ergibt keinen Sinn und ist den Aufwand nicht wert.

Kann dich wirklich kein Mensch getötet haben?“

„Er hätte einen Neoprenanzug tragen müssen. Und eine Sauerstoffflasche. Außerdem, welcher Mensch würde unter Wasser warten, bis ich vorbeikomme? Das ist Blödsinn!“, sprach Una überzeugend.

Sharik schnalzte mit einer schwarzen Zunge und hob die nicht vorhandenen Brauen. „Das stimmt. Darauf hat keiner Lust. Noch dazu habe ich zig Taucher ertränkt. Genauso wie andere Schwimmer, Kinder wie Greise. Die Menschen der Stadt müssten eigentlich kapiert haben, dass besser niemand meinen See betreten sollte. Es sei denn, dieser Mensch will sterben.

Und dann kommst du und wagst es, mein Territorium zu beschmutzen.“

„Weil ich gelockt wurde – wie oft denn noch?!“, verlor Una die Geduld.

„Wie wurdest du denn gelockt?“, fragte er, wenn auch nicht ehrlich an einer Antwort interessiert. An der Krallenhand stützte der Herr vom See sein Kinn auf.

„Er hat mich in der Nacht gerufen. Und die Gestalt eines Freundes angenommen. Es war dunkel, ich konnte ihn nicht richtig sehen. Er sagte, ich sollte zum See kommen, er würde mich dort erwarten. Sein Rufen lockte mich näher ans Ufer. Dort griff er mich vom Wasser aus an.“

Schweigend betrachtete er ihr Gesicht, als ob er nach einem Anzeichen der Lüge suchte. Ein Muskel im blassen Kiefer zuckte.

Penina schwamm beiden zur Seite und richtete ihr Wort vorsichtig an Sharik: „Herr, bei allem Respekt. Ihre Schilderung klingt für mich überzeugend danach, dass es ein echter Wassergeist gewesen ist. Ich vermute fast, ein Fremder hat sich hier aufgehalten, während Ihr geschlafen habt.“

„Ein Wilderer“, verstand der Herr es ebenso. Seine Augen funkelten gefährlich. Obwohl er innerlich zornig sein musste, blieb er nach außen ganz ruhig. „In dieser Gegend bin ich der mächtigste meiner Art. Mir gebührt Respekt. Wer sollte sich also eine solche Dreistigkeit erlauben? Und warum sollte er sie ertränken, wenn er sie nicht fängt?“

„Vielleicht als Entschuldigung?“, war Peninas bescheidene Vermutung. „Möglich, dass es nur ein Unfall war? Vielleicht dachte er auch, Ihr würdet Euch einsam fühlen und sucht eine Partnerin -“

Ein entschiedenes Fauchen ließ die Karausche eilig die Flucht ergreifen.

Dann wandte Sharik sich wieder Una zu.

„Solltest du das Opfer eines anderen geworden sein“, zischte er bissig, „werde ich diesen Wassergeist zerreißen. Ich werde meinen See nicht mit einer Nymphe teilen. Du kannst dann gern sein Gewässer übernehmen, aber du bleibst auf keinen Fall für immer hier!“

Mit einem starken Ruck, der ihr glatt die Rippen hätte brechen können, stieß er sich von ihr fort und ließ sie aufstehen.

Keuchend setzte sich die junge Frau auf und rieb sich das Brustbein. Ob sie das als Erfolg verbuchen konnte? Es klang für sie jedenfalls so, als wollte Sharik ihr helfen, ihren Mörder ausfindig zu machen. Und sei es nur aus Rache für eine unwillkommene Störung seines Friedens.

Una betrachte ihn, wie er einige Schritte von ihr entfernt schwamm, abfällig über die grüne Schulter blickend. Ihm gefiel seine Nachgiebigkeit wohl wenig. Gutherzig wollte sie ihn nicht nennen, dazu erschien er ihr zu selbstgefällig.

Sein langer Fischleib wand sich geschmeidig im Wasser. Schwarz geschuppte Streifen gingen von seinem Rückgrat aus, verliefen mit dem Dunkelgrün an seinen Seiten, bis sie heller wurden und im Weiß der Unterseite verschwanden. Fast blaugrüne Seiten- und Schwanzflossen machten ihn überaus wendig. Sein Körper war der eines Hechts. Ein gut zwei Meter langer Hecht.

„Gaffe nicht!“, knurrte er sie mürrisch an und drehte sich von ihr weg.

„Darf ich nicht?“, zickte das Mädchen zurück. „Ich habe hier unten so viele schräge Dinge gesehen. Da ist es doch mal erlaubt, dreimal hinzusehen.“

Abfällig schnaufte Sharik über ihre Äußerung und zeigte ihr den gemusterten Rücken.

„Du lässt mich also bleiben, bis wir meinen Mörder gefunden haben?“, wollte Una ihren Deal sicherheitshalber noch mal bestätigt wissen.

„Muss ich ja“, grollte er ihr. „Du solltest mir besser dankbar sein, dass ich mich deiner erbarme. Andere hätten einen Schmarotzer wie dich davongejagt.“

Über diese abwertende Beleidigung rümpfte sie die Nase, hatte allerdings auch keine Lust, sich mit ihm über das Verhältnis Mensch und Monster zu streiten.

„Heißt das, ich werde jetzt wie du?“, fragte Una, auch wenn sie so wenig wie möglich mit diesem störrischen Fischmann in Kontakt treten wollte. Aber wer sollte ihr sonst Antworten geben?

Sharik verschränkte die Arme vor der Brust und wich weiterhin ihrem neugierigen Blick aus.

„Vielleicht. Mehr oder weniger“, war seine ungenaue Schilderung.

„Geht es auch deutlicher?“

Seine Raubfischaugen erfasste sie endlich und er zeigte seine spitzen Zähne beim Sprechen: „Vielleicht wirst du eine Plötze. Oder eine Rotfeder. Irgendetwas, das ich zum Spaß durch den See jagen kann. Keine Ahnung, wann das passiert. Liegt ganz an dir.“

„Wieso an mir?“

„Je nachdem, ob und wann du bereit bist, dein Menschsein hinter dir zu lassen. Zurzeit aber siehst du aus wie ein Mensch und stinkst für mich auch so. Doch du bist kein Mensch mehr, also vergiss es!

Lass dein altes Leben los und beeil dich damit! Denn solange du noch unerfahren und unvollkommen bist, kannst du keine Herrin eines Gewässers werden! Stattdessen wirst du mich nerven!“

Nicht nur er war gereizt. Seine autoritäre Art ging Una gleichermaßen an die Substanz. Hätte sie eine andere Wahl, würde sie ihn links liegen lassen und einen anderen um Rat fragen, als diesen verbohrten, übellaunigen, feindseligen -

„Ach, was soll’s“, seufzte er schwer, „ich werde dich sicherlich nicht vor Sommeranfang los sein. Die Frösche müssen erst mal wach werden, und wenn die Libellen fliegen, kann ich mich besser bei der Nachbarschaft umhören.

Bis dahin wirst du bleiben müssen. Mach dich also nützlich und lerne.“

Una stutzte.

„Frösche und Libellen?“

„Schlangen tun es auch. Am besten sind flinke Tiere, die im Wasser und an Land gleichermaßen zurechtkommen. Ich begebe mich nicht für eventuelle Wahrscheinlichkeiten nach oben. Dafür habe ich diese Boten.“

Sie verstand es so, wie andere Brieftauben aussendeten. Offenbar wollte er auf diesem amphibischen Weg Informationen zum Verbleib oder Verdacht ihres Mörders finden. Doch …

„Wieso so lange warten?“, wollte sie wissen. „Lorin ist ein Frosch. Ihn kannst du bereits jetzt losschicken und wir verlieren keine unnötige Zeit! Ich will auch, dass wir Fremde bleiben.“

Una bemerkte, wie Lorin bekümmert den Kopf einzog. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

„Das Ganze ist nicht dermaßen einfach“, belehrte sie der Wassergeist stolz. „Lorin kann das Wasser nicht verlassen. Er ist kein normaler Frosch. Die schlafen noch im Schlamm des Sees, warten darauf, dass das Wasser wärmer wird.

Ist es dir nicht seltsam vorgekommen, dass er schon wach ist? Er ist nicht nur vorschnell. Lorin, Penina und diese Muschel da … Es sind Seelen, die ich gefangen habe und an diesen See binde, um mir zu dienen. Seelen von Menschen, die ich getötet und gefressen habe. Darum sind sie jetzt hier, in einer Gestalt, die ich als angenehmer empfinde als die der Menschen.

Und sie bleiben hier. Sie werden meine Grenzen nie wieder verlassen.“

„Du hältst sie gefangen“, verstand Una mit Schrecken. „All die sprechenden Seebewohner waren Menschen und du lässt sie nicht gehen?“

„Ich bin der Herr vom See.“

Ein grausamer Herr, dachte sie. Und sie sollte auch eine so grausame Kreatur werden. Resigniert verlor sich Unas Starrsinn. Sie saß mit den anderen Seelen in diesem Gewässer fest.

„Wie du siehst, müssen wir beide warten“, war er genauso wenig erfreut.

Sharik schwamm ein paar kräftige Züge in Richtung Graben.

Ob er sich wieder schlafen legen will?

Doch sie lag anscheinend falsch, denn er erteilte den drei verlorenen Seelen direkte Befehle: „Sucht ihr einen Platz, wo sie mir nicht in die Quere kommt. Ich sehe noch kurz nach der Quelle, dann werde ich oben bleiben. Fangt schon mal mit den Arbeiten an. Trommelt alle zusammen. Es gibt immer viel zu tun.

 

Die Göre soll mitmachen, solange sie hier gastiert. Vielleicht verliert sie dadurch ihre hässliche Menschengestalt.“

„Wird gemacht, Herr“, sagte die Muschel.

„Wer warst du gleich noch mal?“

„Ich bin Arnold.“

„Ah ja“, meinte Sharik gedehnt, „hatte dich vorhin vergessen.“

„Hab ich gemerkt, Herr.“

Eine Entschuldigung kam dem Wassermann nicht in den absolutistischen Sinn. Jählings verschwand er wieder in der Tiefe seines Lochs.

Una atmete erleichtert durch.

„Bist du in Ordnung?“, fragte Penina, die mit ihren Freunden auf sie zu schwamm.

Es war seltsam, die drei Geschöpfe anzusehen und sich vorzustellen, dass sie eigentlich einmal menschlich gewesen waren. Sie und alle anderen sprechenden Tiere. Männer und Frauen. Er machte auch vor Kindern nicht Halt. Sie alle waren Sharik zum Opfer gefallen und musste ihm nun dienen. Als Blutegel und Wasserfloh.

„Ich sagte ja, das wird keine große Romanze“, stichelte Lorin den Fisch. „Er ist nicht der Typ für solche Gefühlsgeschichten.“

Da gab Una ihm voll und ganz recht. Sharik war keineswegs ein normal fühlendes Wesen. Natürlich nicht. Wie sollte etwas, das kein Mensch war, jemals wie einer fühlen? Sein Herz musste kalt und tot sein, wie das jeder Leiche in diesem verfluchten See.

Er war eine Bestie.

Seine Krallen strichen über den Schädel. Schwarz war dieser, von Torf gefärbt. Wie der Rest des Skelettes. Trotz der Finsternis fasste er zielsicher jede Rippe. Jeden Wirbel. Jeden gewaltsam gebrochenen Knochen.

„Menschen“, knurrte Sharik hasserfüllt.