In die grüne Tiefe hinab

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Erinnerst du dich an den See?

Was für eine Frage. Wir waren doch erst dort gewesen. Was wollte er bloß mit dem See?

Klar?!

Wir treffen uns dort. Ich will mit dir den Mond ansehen.

Den Mond?

Ich sah nach draußen. Tatsächlich war der Mond beinahe voll. Vor lauter Lichtabfall hatte ich ihn erst gar nicht gesehen.

Warum können wir ihn nicht hier - , doch er unterbrach mich.

Er ist viel schöner am See. Viel heller. Zieh dich an. Wir sehen uns dort.

Was soll das werden?

Die Herberge ist abgeschlossen, und wenn die Lehrerin spitzkriegt - , versuchte ich den Unsinn seiner Bitte zu erklären, trotzdem schüttelte er widerspenstig den Kopf.

Ich habe für alles gesorgt. Ich erwarte dich dann.

Er trat tiefer ins Dunkel.

Florian?

Hatte ich geträumt? Er war verschwunden.

Was sollte ich also tun? Zurück ins Bett? Ihm folgen? Er stand doch wirklich hier, nicht?

Ich schlich mich zurück ins Zimmer. Alles schlief. Schnell zog ich mir meine Jeans über die kurze Schlafanzughose und einen blauen Pullover über das Shirt. Dann folgten noch Anorak und Turnschuhe. Ich musste verrückt geworden sein, um auf eine derartige Verabredung einzugehen.

Vielleicht … wieso sagte er so etwas? Wofür hatte er gesorgt? Was hatte er am See geplant?

Mir ging vieles durch den Kopf. Ein Kuss? Der Kuss eines Jungen, in den man richtig verliebt war, musste etwas Besonderes sein. Heiß und süß dachte ich ihn mir aus und mir wurde schwindlig.

Ach was! Die Haustür wird eh abgeriegelt sein …

Aber sie war es nicht. Sie stand offen. Hatte es geregnet? Auf dem Boden glänzten Wasserpfützen.

Zögerlich verließ ich die Herberge, unsicher auf den Beinen. Mein Herz schlug vor Aufregung. Geradewegs rannte ich zum See. Die Nacht war kühl, der Frost biss mir in die Wangen. Ich hörte die nächtlichen Geräusche der Stadt, die heulenden Sirenen von Polizei und Krankenwagen, das Rufen der umtriebigen Menschen, das Knallen eines Feuerwerkskörpers. Die Laute wurden weniger, je näher ich meinem Ziel kam. Wo wir am Ufer gesessen hatten, war nichts zu sehen. Außer den alten Spuren unzähliger Füße im Sand. Der Mond schien hell und beleuchtete das stille Wasser.

Hey! , vernahm ich wieder Florians Rufen. Es kam vom Wald her. Vom schwarzen, dunklen Wald. Langsam bekam ich Angst. Das Rauschen in den Bäumen war unheimlich. Der Wind blies wirklich kalt. Es war ja noch immer Winter.

Mein Smartphone … lag vergessen im Zimmer. Ich hatte kein Licht.

Hey! , rief es abermals leise aus dem Astwerk der Bäume.

Ich ging einen schmalen Trampelpfad am Ufer entlang. Vorsichtig, denn er war steil. Ich wollte nicht fallen und wie ein begossener Pudel enden. Der Rückweg zur Herberge würde dann noch peinlicher als so schon werden.

Sollte ich ihm wütend sein, dass er mich nach draußen gelockt hatte, obwohl ich jetzt im warmen Bett weiterschlafen könnte? Was hatte er vor? Wenn es eine gute Überraschung war, wollte ich ihm verzeihen können. Eine böse … stand nicht zur Debatte.

Oder war das eine Falle von Chantal? Die hatte mich gestern wütend angesehen. Wollte mir das Miststück etwa eins reinwürgen?

Florian? , wisperte ich in den Wind.

Die dünne Eisschicht auf dem See knisterte.

Hey.

Die Stimme klang mit einmal sehr nah.

Als hätte mir jemand ins Ohr geflüstert!

Ich schreckte auf. Wirbelte herum. Niemand war zu sehen.

Mein Atem ging rasch. Mein Herz bebte. Gehetzt blickte ich mich um, Rücken zum Wasser. Versuchte im Dunkeln zu sehen. Ein Gesicht zwischen den Bäumen zu erkennen. War das wirklich Florian? Warum wollte er mir solche Angst machen?

Mir war kalt. Und ich war müde. Ich musste umkehren. Ich sollte dringend -

Ein Knacken. Ein Glucksen. Im Wasser. Aber dort konnte er sich nicht verstecken! Es war viel zu kalt!

Im Wasser war es zu kalt für -

Komm zu mir.

Jemand umfasste mich von hinten. Zog mich tief unter Eis und Wasser.

Mit aller Kraft drängte ich die glitschigen Arme von mir fort. Der Griff löste sich.

Ich wollte nach oben, Luft schnappen, raus, an Land!

Eine starke Hand packte mich am Bein. Zog mich hinab in die Dunkelheit. Ließ mich nicht aufsteigen.

Ich trat aus. Die Hand ließ los.

Doch die Kälte nicht.

2

Erwachen im grünen See

„…!“

„…an. Wi…“

„Sieh… … Wass…“

„Das gibt’s nicht.“

„Wieso noch eine?“

„Die arme Kleine …“

„Selber schuld.“

„Ich tippe auf unerwiderte Liebe.“

„Kommt häufig vor.“

„Dabei ist sie so jung.“

„Danach fragt keiner.“

„Ist nicht mein Problem.“

„Du Ignorant.“

Una hörte die Stimmen sprechen. Erst undeutlich, dann klarer. Es waren drei verschiedene. Die einer Frau und zwei Männer, ein älterer, ein jüngerer. Sie konnte sie verstehen. Demnach konnte sie nicht tot sein. Tote können nicht hören. Tote können nicht denken.

Gerettet, kam es ihr sofort hoffnungsvoll in den getrübten Sinn. Sie war gerettet worden vor dem Ertrinken. Sie war nicht gestorben. Jemand hatte sie aus dem See gefischt und in ein Krankenhaus gebracht, wo man sich um sie kümmerte. Sie hatte überlebt. War der Kälte entkommen. Sie lebte.

Sind diese drei meine Ärzte?

„Ah, sie kommt zu sich!“

„Das ist ihr gutes Recht.“

„Ist es nicht. Ihm wird das gar nicht passen. Sie sollte besser gehen.“

„Wohin denn?“

„Keine Ahnung. Woanders hin halt.“

„Er muss sich doch an die Regeln von Mutter Natur halten. Sie ist jetzt nun mal hier.“

„Trotzdem. Wir kennen ihn doch. Er wird niemanden neben sich akzeptieren.“

„Stimmt, er teilt nicht.“

„So, wie es aussieht, muss er das fürs Erste aber.“

Was reden die da? Una verstand den Sinn ihrer Worte nicht. Ärzte redeten anders.

Schwer bekam sie ein Gefühl für ihren Körper. Er fühlte sich so steif an, fast wie fremd. Als wäre sie in einem Kokon eingesponnen, gleich einem Schmetterling kurz vor der fertigen Metamorphose, der nicht begreifen konnte, warum er keine Raupe mehr war und wozu Flügel gut sein sollten. Es war ein seltsam verlorenes, hilfloses Gefühl. Doch immerhin ein Gefühl. Denn Gefühle sagten, dass sie tatsächlich lebte.

Noch war sie müde vom langen Schlaf. Ihre Augen wollten die Lider nicht heben.

„Was für ein hübsches junges Ding. Genau das richtige Alter.“

„Wovon sprichst du?“

„Na, meint ihr nicht, dass sie ihm vielleicht gefallen wird?“

„Ha! Wenn sich das derart entwickelt, lass ich mich freiwillig fressen!“

„Überschätze ihn nicht. Du bist eine Traumtänzerin.“

„Ich denke, das könnte passen.“

„Nie und nimmer.“

Sie reden von mir. Und wem noch?

Langsam streckte Una ihre Glieder. Zäh kämpfte sie gegen die Müdigkeit an. Sie sog Luft in ihre Lungen – doch hereinströmte nur etwas Kaltes, Sumpfiges … Sie atmete rasch aus, würgte es heraus, um einen neuen Atemzug zu tun. Aber wieder atmete sie bloß brackig schmeckendes Wasser.

„Angewohnheit von oben“, feixte jemand hämisch.

„Verliert sich mit der Zeit.“

Schlagartig öffnete sie ihre Augen. Hier war kein weißes Krankenzimmer. Sie lag in keinem weichen Bett. Nichts schien ihr vertraut. Nur Dunkelheit.

Nein, Düsterkeit. Trübe, grünschwarze Düsterkeit.

Sie blickte hinab auf einen schlammigen, nach Torf riechenden schwarzen Boden, auf unzählige, mit glitschigem Moos bewachsene Steine. Verlaufene Spuren von hellem Sand. Feine Gräser, die wie Haare im Wind wogen. Jedoch spürte sie keinen Wind auf ihrer Haut. Hörte ihn nicht. Alles schien komplett lautlos zu sein.

Sie selbst lag nicht. Stand nicht. Schwebte schwerelos über dem fremdartigen Boden.

Schwebte im Wasser. Unter Wasser.

Una bekam Angst. Furchtbare Angst. So groß, dass ihr Herz laut in der Brust schlagen, sich gar zerreißen musste. Doch in ihr war es still. Ihr Herz schlug nicht. Es stand still.

 

Ihr Körper drehte sich im Wasser. Sie sah grünbraune Algen wuchern. Eine Wiese aus treibender Wasserpest, einen ganzen Wasserpflanzenwald! Die Blätter schwangen in einer unterirdischen Strömung. Manches Grün war dicht wie Gebüsch, anderes weitverzweigt zu Netzen. Undurchdringliche Mauern aus braunen Laichkräutern, abgestorbenen Stielen und schwarzen Wurzeln von Seerosen.

Kleine Schwärme von schillernden Fischen flogen wie Vögel über die Vegetation hinweg. Überall schwammen winzige wie große Krebstierchen und Insektenlarven umher. Eine Fülle von Leben. Unterwasserleben.

Obwohl ihr Herz weiterhin schmerzte vor Panik, hörte sie keinen Ton. Immer noch war alles still. Eine triste, kalte, unwirkliche Welt ohne Geräusche.

Flehend hob Una ihre Hände vor das Gesicht. Ihre Bewegungen waren durch das Wasser verzerrt langsam wie die eines Astronauten im Weltall. Bleich waren ihre Finger, die Nägel blau gefroren. Blutleer wie die Hände eines Toten.

Ich bin im Wasser.

Ihr Blick wanderte nach oben. Weit nach oben. Dort glänzte etwas hell. Durchbrach die Düsternis mit einem grünen Schein. Ein mattes Licht. Der fahle Mond, welcher sich auf der Oberfläche des Sees spiegelte.

Der Himmel. Fern von ihr.

Das träge Morgengrauen kroch herauf.

Lag sie die ganze Nacht im Wasser?

Unter Wasser.

Ich bin unter Wasser.

Sie wollte schreien, dass einem Hörer das Trommelfell geplatzt wäre, doch ihre Stimme wurde vom Wasser verschluckt. Nur dumpf klang der Laut durch den See.

Una fasste sich an die Brust, suchte ihr Herz, das eigentlich klopfen müsste – und fand doch nichts. In ihrer Angst ruderte sie unkontrolliert durch die Schwerelosigkeit, bis ihre Beine, die weiterhin in Jeans und Turnschuhen stecken, sich in den Schlingpflanzen verhedderten. Sie musste alle Kraft aufbringen, ihre tauben Glieder loszureißen. Sich befreien, wie von der Hand, die sie gepackt hatte.

Jemand hatte sie gepackt.

Jemand hatte sie unters Wasser gezogen.

Jemand hatte sie ertränkt.

Die Erinnerung kam gleißend wie ein Blitz über sie herein. Sie griff sich ins Haar, welches wirr von ihrem Kopf abstand und waberte wie diese fasrigen, einem Schlangenknäul ähnlichen Algen.

Die Stimme in der Nacht. Florian, der mich zum See gelockt hat.

Florian?

Er kann es nicht gewesen sein. Er hätte nie so etwas getan! Wer ist es gewesen? Wer war dieser Mann?

Er hat mich getötet!

Ich bin tot! Ich bin tot? Warum bin ich tot? Und warum bin ich eben nicht so tot?

„Na, wunderbar. Sie dreht durch!“, war da wieder die hämische, junge Männerstimme.

„Ach was, sie hat nur Angst“, sagte die Frauenstimme beschwichtigend. „Jeder hat am Anfang Angst.“

„Ich kann gut nachvollziehen, was sie gerade durchmacht. Sie ist halt gedanklich noch beim Menschsein, auch wenn sie jetzt tot ist“, sprach die Altmännerstimme gelassen.

Tot! Ich bin tot!

Una wurde schwindlig. Alles Wangenkneifen und Schlagen brachte ihr nichts. Es war schreckliche Gewissheit und kein Traum.

Es ist ein Albtraum!

„Tut mir ja leid für dich, Kleines“, sprach die mitfühlende Frauenstimme sie direkt an, „aber so sieht es nun mal aus.“

„Wer ist da?“, fragte Una, doch ihre Stimme war durch das Wasser kaum zu hören.

„Wir sind hier.“

„Wo?“

Una verstand nicht, wer im Wasser mit ihr sprechen konnte. Mit Sicherheit keine Ärzte.

„Ist die blind?“, spottete der junge Mann.

Sie versuchte, genauer durch die Dunkelheit zu sehen, aber was sie erkannte, waren nur Algen. Algen. Algen. Noch mehr Algen. Steine.

„Du solltest vielleicht nicht nach Menschen suchen“, gab ihr der ältere Mann den klugen Rat, „denn die wirst du hier unten nicht finden.“

Bestürzt musste Una dem zustimmen. Denn Tatsache hatte sie nach etwas Menschenähnlichem Ausschau gehalten. Wahrscheinlich, weil es ihr ein vertrauter Anblick gewesen wäre. Doch was für Menschen lebten schon am Grunde eines Sees? Hier unten gab es für gewöhnlich …

Auf einem Felsen im Algenmeer erkannte sie drei zierliche Figuren. Es waren eine schwarz-graue Karausche, eine braune Teichmuschel und ein grüner Wasserfrosch. Sofern sie Augen hatten, wurde Una von ihnen neugierig betrachtet.

Welche Tiere können reden wie Menschen?

„Na also!“, jubilierte der Fisch mit heiterer Frauenstimme und schwamm aufgeregt ein paar Kreise um sich selbst. Bläschen sprudelten.

„Herzlichen Glückwunsch!“, gratulierte die Muschel mit der gelassenen Stimme des Alten, auch wenn sie keinen Mund im üblichen Sinne besaß. Stattdessen klapperte sie – besser er – mit den Kalkdeckeln.

„Übertreibt’s mal nicht, Leute!“, höhnte schließlich der Frosch in jung. „Bei der steht sicher keine Feier an. Immerhin ist sie abgekratzt.“

„Nun, das gibt sich“, war die Karausche zuversichtlich, „sie brauch nur eine greifbare Erklärung.“

Durchaus. Una war sehr gespannt, wie die aussehen sollte.

Der kleine karpfenähnliche Fisch zischte mit raschem Flossenschlag auf sie zu und begann aus dem blubbernden Fischmaul zu palavern: „Guten Morgen, meine Liebe. Bestimmt bist du ziemlich verwirrt und schockiert von alldem hier, doch du brauchst keine Angst zu haben, alles wird gut.

Zunächst mal sollte dir aber klar sein, dass du ertrunken bist. Ich weiß nicht, was dich dazu bewegt hat -“

Bewegt?

„- aber das musst du mir nicht erklären.

Du bist hier am Grund des Sees. Ich bin Penina. Der Frosch dort ist Lorin, die Muschel heißt Arnold. Wie du dir vielleicht denken kannst, sind wir keine gewöhnlichen Tiere. Doch das soll dich fürs Erste nicht kümmern. Sieh uns als dein Empfangskomitee. Wir haben gesehen, wie du ertrunken bist und haben ordnungsgemäß den Morgen deines Erwachens abgewartet. Die Rückentwicklung dauert schließlich seine Zeit.

Normalerweise werden Körper und Seele eines Ertrunkenen beim Tod getrennt. Die Seele gilt als Gefangene dieses Reiches, der Körper ist vergänglich und nur Fleisch und Nahrung. Jedoch bist du ein weit anderer Fall. Das werden wir auch dem Herrn vom See berichten. Menschen, die freundlicherweise von selbst kommen, verdienen eine Sonderbehandlung.“

„Menschen, die von selbst kommen?“, wiederholte Una die Worte. Sie verstand nicht.

Penina drehte eine Runde interessiert um Unas Kopf, bevor sie sich erklärte: „Nun ja, natürlich. Du hast dich doch selbst ertränkt, oder?“

„Was?“

Una war fassungslos. Ein irrwitziger Fisch nannte sie eine Selbstmörderin? Sie sollte ihr irdisches Dasein selbst in dieser Nacht beendet haben? Gut, sie war davongeschlichen, ja. Allein zum See gelaufen, ja. Aber sie hatte sich nicht freiwillig in diesen eiskalten See gestürzt!

Nein, völlig ausgeschlossen! Nie im Leben und erst recht nicht im Tod!

Offenbar fiel Penina auf, dass die Sache doch nicht derart leicht abgetan werden konnte. Die Reaktion des Mädchens verlief ganz anders als erwartet. Unsicher fragte sie daher: „Willst du uns etwa sagen, dass du dich gar nicht selbst getötet hast? Unser Herr kann es aber nicht gewesen sein. Und wie ein Gewaltopfer siehst du auch nicht aus. Keine blauen Flecken, keine Wunden … Du bist sogar noch unberührt.“

Wie geschlagen wich Una zurück. Es war ihr mehr als peinlich, dieses doch sehr private Thema anzusprechen. Erst recht mit einem fremden Fischwesen. Freilich hatte auch sie schon an etwas Derartiges gedacht – die Zeitungen waren ja immer voll von solchen bedrückenden Geschichten. Irgendwie wollte sie zwar behaupten, zum Glück, dass sie kein solches Gewaltopfer geworden war, dennoch schien ihr Schicksal nicht wirklich besser zu sein. Tot war nun mal tot.

„M-mich hat jemand ins Wasser gezogen!“, beteuerte sie den dreien aufgelöst. „Ich hatte vor, mich mit jemandem treffen, da wurde ich plötzlich hinuntergezogen! Er hat mich am Bein gepackt!“ Sie wies auf ihren Knöchel. An besagter Stelle war die Jeans aufgerissen.

Frosch, Fisch und Muschel schauten sich fragend an.

Una versuchte, sich an mehr Details zu erinnern und verhaspelte sich in aller Hektik mehrmals mit der Zunge. „Er hat mich zum See gelockt. Mit der Stimme meines … eines Freundes. Aber er war es nicht! Das war … die Haut … Seine Haut war ganz glitschig … Er hat mich gepackt … ganz kalt … Was war das für ein Wesen? Das war doch kein Mensch!“

„Das klingt schon nach …“, beendete Penina ihren Satz nicht. Ihre Freunde verstanden trotzdem.

„Erzähl keinen Mist!“, blieb Frosch Lorin ungläubig.

„Ein Menschenopfer, also ein von Menschen Ertränkter“, dachte Muschel Arnold für alle laut nach, „wird eigentlich wie jedes Opfer des Sees behandelt. Der Körper vergeht und der Herr erhält die Seele als Gewinn, ohne etwas dafür getan zu haben. Je mehr Seelen ein Herr vom See besitzt, umso stärker ist seine eigene Lebenskraft. Und dem See kommt das auch zugute.

Wenn diese Dame aber sagt, sie wurde vom Herrn ertränkt … Obwohl wir wissen, dass das nicht sein kann … dann liegt hier irgendwo der Hund begraben.“

„Was du nicht sagst, großer Lehrer!“ Lorin rollte die Glupschaugen. „Der Herr wird kaum in einem Anflug von Schlafwandel auf die Jagd nach Mädchen gegangen sein, oder?“

„Das ist noch nie passiert“, meinte die Muschel entschlossen, „und wenn doch, wäre sie in dem Fall gewiss nicht in diesem Zustand.“

„Es ist ja auch ein völlig absurder Gedanke!“, ereiferte sich Lorin. „Möglicherweise ist ihre Erinnerung durch das Sterben verwischt. Sie schützt sich selbst durch diese Ich-wurde-ertränkt-Theorie, um nicht mit ihren Schuldgefühlen konfrontiert zu werden. Sie hat sich ertränkt und nun hat der Herr sie als Mitesser an der Backe.“

„Oh, hier spricht unser großer Psychologe!“, ironisierte Penina seinen strengen Verdacht. „Lorin, für Unterstellungen ist jetzt nicht die Zeit! Wir haben nur gesehen, wie das Mädchen gestorben ist, über weitere Umstände können wir nicht urteilen. Vielleicht ist es ein Trauma, vielleicht hat sie aber auch recht und wurde von einem ertränkt, wir wissen es nicht. Wenn wir sie eher gefunden hätte, ja, dann …“

„Aber der Herr kann nicht -“, wollte Arnold diskutieren, jedoch schnitt ihm Penina das Wort ab.

„Ich weiß, dass er es nicht gewesen sein kann! Ich verurteile ihn nicht. Doch was auch immer in dieser Nacht im See geschehen ist, er sollte so schnell wie möglich davon erfahren. Wenn jemand in seinem Gebiet wildert, wird er das nicht durchgehen lassen. Meint ihr nicht?“

Arnold seufzte nachgiebig. „Schon. Doch das wird ein böser Start ins neue Jahr.“

„Egal, es ist wichtig!“, sagte Penina ernst. Sie schwamm wieder vor Unas Gesicht. Das Mädchen war kreidebleich vor Verwirrung und Tod. Sie hielt sich selbst mit den Armen fest umschlungen und wäre sie nicht bereits vom Wasser umgeben, hätte sie Tränen geweint, groß wie Kastanien.

„Oh, du Arme“, sprach Penina tröstend. „Ich kann durchaus verstehen, wie dir zumute ist. Das erscheint dir bestimmt alles wie ein böser Scherz. Doch du träumst nicht. Bitte hör mir zu.“

Una schniefte und biss sich auf die Unterlippe. Wie sollte ein Fisch schon ihre Gefühle und das Chaos in ihr verstehen? Dennoch versuchte sie zaghaft, sich zusammenzureißen. Nach ein paar Versuchen schaffte sie es, sich etwas zu beruhigen und die Dinge sachlich zu sehen. Sie war tot, doch nicht verschwunden. Sie war ermordet worden, aber würde unter Umständen bald Hilfe bekommen. Es war mit ihr noch nicht ganz vorbei.

Gefasst blickte sie den Fisch aufmerksam an.

Penina lächelte, so weit sie das konnte, und sagte unter laufendem Nicken: „Gut so. Es ist alles gar nicht so schlimm. Zunächst einmal, wie ist dein Name?“

„I-ich bin Una.“

„Das ist ein sehr schöner Name“, gab Arnold dazu sanft ein Kommentar. Lorin schnaufte nur.

„Una“, setzte Penina ihre Rede fort, „du bist tot, aber nicht so, wie du dir das vielleicht denken magst. Du bist in einem zweiten Leben, bloß nicht als Mensch. Derzeit magst du noch so aussehen, doch mit der Zeit wird aus dir ein Wassergeist werden. Du bist lebendig, keine Gefangene dieses Sees, aus Gründen, die wir nicht ganz verstehen.

 

Darum halte ich es für das Klügste, wenn wir dich zum Herrn des Sees bringen. Er ist ein vollwertiger Wassergeist, sehr alt und mächtig. Er wird wissen, was zu tun ist. Und er kann dir sicherlich helfen.“

Una nickte ebenfalls, lediglich zögerlicher. Da war jemand, der hier das Sagen hatte. Ein …

„W-was genau meinst … du mit Wassergeist?“

Lorin lachte hohl auf. „Das weißt du nicht? Noch nie etwas vom Nöck gehört? Oder dem Nicchus? Dem Hakemann oder Ichthyozentauren?“

„Nein, nein“, verbesserte ihn Arnold rasch, „ich sage, er gehört zu den Vodyanoy. Unterart Utoplec.“

„Ihr erzählt beide Stuss, und das wisst ihr!“, rügte Penina ihre Kameraden und wandte sich dann erneut Una zu, um langsam zu erklären: „Ein Wassergeist ist ein Naturwesen. Dichter und Romantiker haben viele Namen für Nixen, Undinen und Wassernymphen gefunden. Kann ja sein, dass du mal ein paar Geschichten gehört hast. Zum Beispiel Andersens kleine Meerjungfrau oder die Lorelei. Und es gibt sie nicht nur in weiblicher, sondern auch in männlicher Form.

Ich kannte die Wassergeister einst aus der griechischen Mythologie als Najaden. Stell dir vor, alles in der Natur besäße eine Seele, dann wäre die Seele eines Baumes eine Dryade. Die Seele eines Berges hieße Oreade. Und die Seele eines Weihers, eines Flusses oder eben eines Sees hieße dann Najade.“

Una überlegte kurz und schlussfolgerte daraus: „Ich bin jetzt also auch … eine Wasserseele – äh, ein Geist?“

Penina schüttelte den Kopf.

„Nein, noch nicht ganz jedenfalls. Bei dir gibt es da ein Problem.

Normalerweise entspringt der Wassergeist einer neu erschlossenen Quelle. Oder eine Quelle entspringt aus einem Geist, beides ist möglich. Jedenfalls wird dieser Geist dann Herr seines Gewässers, hegt und pflegt es, sammelt Seelen für seine Kraft. Aber wie ein Baum nur eine Dryade beherbergt, so hat ein stilles Gewässer bloß eine Najade. Eine zweite im gleichen See wird nur auf Wohlwollen des Herrschers toleriert.

Wenn also unser Herr damit einverstanden ist, dass du in seinem See leben kannst, dann wirst du nach und nach eine Najade werden.“

„Und wenn nicht?“, bekam Una wieder aufsteigende Panik.

„Dann wirst du dir wohl oder übel eine neue Heimat suchen müssen“, ulkte Lorin gemein. „Vielleicht eine Pfütze, einen Tümpel oder die Rohre einer Wasserleitung. Wir sind hier mitten in der Stadt – klare Quellen sind Mangelware. Sieh zu, wo du bleibst.“

Penina zog ihm eins mit der Flosse über.

„Gib nichts auf diesen Schwätzer, Una!“, zürnte ihm die Karausche. „Der Herr mag ja seine Ecken und Kanten haben, dennoch ist er weitaus intelligenter und charmanter als ein dummer Frosch.“

„Charmant? Er? Pah! Gib nichts auf diese Träumerin!“, argumentierte Lorin gegen. „Wenn es denn nach ihr ginge, würdest du bald die Hochzeitsglocken läuten hören. Ich jedoch sage, der Herr wird keinesfalls begeistert sein, dass du zu ihm kommst, hübsches Mädchen hin oder her. Das ist kein Märchen hier!“

„Realistisch betrachtet geht der Punkt an ihn“, schlug sich Arnold auf Lorins Seite.

„Was soll das heißen?“, wollte Una wissen und sah auffordernd Penina an.

Diese atmete durch und berichtete: „Es ist nur eine Legende, eigentlich. Ob sie sich bewahrheitet, wird sich zeigen.

Es heißt in vielen Geschichten und Sagen, dass eine Jungfrau, die den Tod freiwillig im Wasser sucht, zur Braut des Wassermannes wird. Und vielleicht ist es ja so, dass der Herr dich leiden kann oder könnte. Es wäre wirklich zu schön! Dann müsstest du dir keine Sorgen mehr machen, ob er dich aus reiner Gnade im See duldet, oder weil er dich mag.

Ich weiß, dass für die Liebe immer zwei dazugehören, doch warum nicht?“

„Weil es romantisches Gewäsch ist“, winkte Lorin strikt ab. „Der Herr hat sich noch nie nach einer Menschenfrau umgesehen. Vor hundert Jahren schon nicht und heute auch nicht.“

Una griff sich an die Stirn, als wollte sie Fieber prüfen, doch ihr fiel gleich wieder ein, dass sie tot und kalt war. Das waren eindeutig zu viele schlechte Neuheiten für ihren Geschmack. An ihrem ungewollten Sterben hatte sie genug zu knabbern. Nun hieß es, sie könnte die Frau eines Geisterwesens werden. Eines König Tritons wahrscheinlich, greis und mit Fischschwanz, der ihr, seiner jungen Braut, gierig nachstellen konnte. Bis zu dem Tag, an dem ihr selbst Schuppen und Flossen wuchsen.

Der Tag, an dem sie kein Mensch mehr sein würde.

Ihr wurde schlecht. Dieses zweite Leben schien sich zu keinem besseren zu entwickeln. Sie vermisste ihr altes Selbst, ihr altes Dasein. Sie vermisste ihre Eltern, sie vermisste Kieran. Und Florian. Ja, vermisste gar die Schule und die zickigen Weiber aus ihrer Klasse.

Wann sie wohl als vermisst gelten würde? Waren die Mitschüler schon auf und hatten ihr Fehlen bemerkt? Wer würde sie suchen? Würde sie jemand in diesem See vermuten? Würde die Polizei Taucher aussenden, um sie zu finden? Würden sie den Grund des Sees nach ihr absuchen und sie vielleicht mit diesen drei Tieren antreffen, sprechend und untot? Am Ende fänden sie möglicherweise diesen Wassermann …

Es schmerzte sie, wenn sie an ihre Eltern dachte. Die würden einen Anruf bekommen, ihre Tochter sei verschwunden, vermutlich tot. Wie sie weinen würden. Es würde sehr still werden im Haus und Kierans Vergehen wären bedingungslos vergessen, jetzt, da er ihr einziges Kind war.

Unas Zimmer würde eine Zeit lang bestehen … Irgendwann aber würden ihre Sachen in Kartons verschwinden, in den Keller gebracht werden. Und eines Tages würde man sie vergessen haben. Nur noch ein Foto, ohne Stimme und Charakter. Eine klägliche Erinnerung.

Während sie im See lebte.

„Wer hat mich umgebracht?“, flüsterte sie leise und ihre Worte drangen kaum durch das Wasser. „Wer hat mich getötet und mich meiner Familie, meinen Freunden weggenommen?

Ich hatte mein Leben doch noch vor mir …“

Kalte, glitschige Finger hatten sie davongerissen. Hatten sie ins Grab gezogen.

„Wer ist es gewesen?“ Langsam stieg die Wut in ihr auf. Ihre Angst rückte mehr und mehr in den Hintergrund und Una kochte vor Zorn auf dieses falsche Locken, welches ihr zum Verhängnis geworden war. Zauber, ja. Sie war von einem mystischen Wesen verzaubert worden! Einem trügerischen Geschöpf, fern vom Angesicht eines Menschen.

„Hat er mich ertränkt? Euer Herr vom See?“, rief sie laut, dass die drei Tiere zurückschreckten. „Ist er es gewesen? Ein Wassergeist? Hat er sich verwandelt und mir vorgespielt, ein Freund zu sein? Hat er mich getötet?“ Mit jeder Frage bebte Una stärker vor Hass. Ihren ganzen Frust wollte sie durch den See schreien! Sollte er sie hören und ihre Wut spüren! Dieser alte Stockfisch konnte was erleben!

„Komm runter!“, befahl ihr Lorin. „Hast du uns nicht zugehört? Unser Herr hat dir nichts getan! Das wissen wir, hieb- und stichfest!“

„Und wieso seid ihr euch so sicher?“, fragte Una erbost. „Ich denke, es gibt nur einen Wassermann im See! Wer, wenn nicht er?“

„Das wissen wir nicht“, versuchte Penina, sie zu besänftigen, „doch er war es nicht. Unser Herr schläft den Winter über. Erst gegen Ende des Monats, Anfang April, wenn es wärmer wird, wird er aufwachen. Er wird hungrig sein, aber er hätte dich niemals angegriffen, ohne dich zu töten und deine Seele zu nehmen! Verstehst du? Er hätte nie zugelassen, dass du zurückkommen kannst!“

„Meine Seele hätte er genommen?“, war Una sofort entsetzt.

„Ja, für den See. Als Kraftquelle, wie gesagt“, war Arnold bei der Aussage pragmatisch. „Dein Körper dient ihm allein zur Nahrung. Auch ein Indiz dafür, dass er kein Verschulden an deinem Zustand hat, sonst wärst du nur noch Knochen.“

„Er hätte mich gefressen?“

„Natürlich.“

„Er isst Menschenfleisch?“

„Nichts ist so weich und saftig wie eine Wasserleiche“, lachte Lorin.

Una wurde abermals schlecht, allerdings mehr vor Ekel.

„Das ist barbarisch!“, war sie überzeugt.

„Was denn?“, blieb die Muschel ungerührt. „Hast du nie Forelle gegessen? Oder Hummer? Bestimmt gehen ganze Schweine- und Rinderherden auf dein Konto. Frag mal ein Huhn, ob das nicht barbarisch ist. Menschen bilden sich ganz schön was auf sich ein.“

Er hatte recht, das konnte sie nicht abstreiten. Sie gab einer sprechenden Muschel trotz aller Unlogik recht. Selbst eine noch so lange Diskussion über Veganismus hätte sie sicherlich verloren.

Erschöpft verbarg Una ihr Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Im Reich eines verschlafenen, alten, Menschenfleisch fressenden Wassermannes lebend, mit Muscheln und Fröschen redend, vergessen von der Welt außerhalb der Wasseroberfläche – es war einfach zu viel. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und wäre eingeschlafen, in der geringen Hoffnung, doch noch aus einem Traum zu erwachen.

Ohne es zu merken, sank sie tiefer auf den mit Algen bewachsenen Grund und schluchzte kurz auf.

„Ich kann mir denken, dass das alles ziemlich viel ist für einen Neuanfang“, sagte Penina in ihrer bemutternden Art und schwamm zu ihr hinab. „Nicht ist am Anfang leicht. Aber du wirst dich an das alles hier schon noch gewöhnen. Du hast viel verloren, Liebes, doch dieser See kann dein neues Zuhause werden. Und unser Herr ist kein so schlechter Kerl, wie er dir noch erscheinen mag. Mit der Zeit wirst du ihn sicherlich etwas mögen.