Die Stunden der Nacht

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5

Nächtlicher Jäger

Dani traf ihre Vorbereitungen.

Ihre frisch cyanblau gefärbten Haare band sie zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammen, die silbernen Piercings nahm sie aus Ohren und Augenbraue, um nicht daran hängen zu bleiben, und die Fingernägel wurden verschnitten. Zwar konnte sie damit niemandem mehr die Augen auskratzen, doch ihr Gegner hatte ohnehin schärfere Krallen. Beim Nahkampf waren zu lange Spaten sowieso hinderlich.

Bei der Kleidung setzte sie auf unscheinbare Farben, robusten Stoff und gute Bewegungsfreiheit als auf Stil. Die Wahl fiel daher bescheiden aus, auf schwarze Hosen, Schuhe, Winterjacke, Wollmütze und Handschuhe. Inständig hoffte sie, dass keine Polizei sie anhalten würde, weil sie ausschaute wie für einen Bankraub bereit.

Schweigsam sah Jules ihr beim Anziehen zu.

Ihr Streit stand nicht mehr zur Debatte. Die junge Frau hatte sich einmal entschieden und er wusste, dass er sie nicht aufhalten konnte. Somit ließ er sie gewähren.

Die kleine Taschenlampe mit der UV-Birne steckte Dani wie eine Schusswaffe in ein am Gürtel befestigtes Holster. Wer gegen Ungeheuer ins Feld zog, brauchte keine Messer oder Stahlkugeln. Diese Geschöpfe kämpften mit anderen Bandagen und Jules gab ihr zur Unterstützung ein Säckchen getrockneter Kräuter mit. Dill, Mohn und Johanniskraut sollten laut seinen Büchern nützlich sein gegen die meisten hundeartigen Dämonen. Dill würde ihren Geruchssinn betäuben, der Mohn ihren Blick trüben und Johanniskraut ihre Haut reizen – es klang immerhin sehr nach einer Hilfe. Selbst ein Mensch wäre von der Mischung nicht sehr angetan, wenn er sie in die Nase bekäme.

Mit einer liebevollen Umarmung entließ er sie in die Dunkelheit.

Es war schon nach Mitternacht, da Dani meinte, über leere Fußwege, verwinkelte Gassen und stillgelegte Werkhöfe wie auch Gleisanlagen zu marschieren. Der Wind trieb kleine Eiskristalle frostig vor sich her. Wenn man die Geräusche aus den Häusern ausblendete, konnte man vermuten, die äußeren Viertel der Stadt seien ausgestorben. Ratten und Katzen jagten kreischend durch die Finsternis. Von irgendeinem der kahlen Bäume rief ein Käuzchen daher.

Zuerst lief Dani durch die Straßen ihres Gebiets. Und nichts passierte.

Hier und dort standen ein paar Menschen herum, rauchten vor einem Klub oder warteten auf die Straßenbahn oder einen Zug. Aber sehen konnte sie nichts Verdächtiges. Sie hörte auch keine seltsamen Geräusche oder irgendwoher einen Schrei.

Also ging sie weiter.

In Nachbarviertel war vor zwei Wochen ein Mädchen verschwunden, dreizehn Jahre alt. Am Abend hatte sie sich mit Freunden bei einem Spielplatz getroffen, ganz in der Nähe ihres Elternhauses. Trotzdem kehrte sie von dort nicht mehr zurück. Ihr Anorak wurde gefunden, zerrissen wie von einem wilden Tier. Mehr jedoch nicht.

Die Polizei ging von den üblichen Gewaltverbrechen aus. Diebe, Mörder, Vergewaltiger – Menschen. Die Herrn Beamten würden Dani oder Jules niemals glauben, wenn sie ihnen gesagt hätten, dass riesige Wölfe die Täter waren.

Bei besagtem Spielplatz sah die junge Frau sich noch mal um. Natürlich gab es keine Indizien mehr für das Geschehene, dennoch hätte sie vermutet, dass die Dämonen vielleicht alte Jagdrouten verfolgen könnten. Allerdings Fehlanzeige. Beim Tischtennisspiel trafen sich weiterhin Jugendliche, um Alkohol zu trinken und Gras zu rauchen. Eine Freiheit fern ihrer Familien, die sie ja bloß bremsten und bemutterten.

Ich Glückspilz, dachte Dani ironisch, weil ihre Eltern definitiv von keiner ihrer Eskapaden je erfahren hatten. Diese idiotischen Kinder hatten keine Ahnung, wie schwer das Leben sein konnte, wenn man keinen sicheren Hafen wie bei Mutter und Vater besaß.

Weiter.

In einer schmuddeligen Bahnunterführung kam es ebenfalls zu einem tragischen Zwischenfall. Er hatte sich direkt in der Silvesternacht ereignet. Zwei erwachsene Männer, Familienväter von durchaus wehrhafter Gestalt, verschwanden spurlos. Auf dem verschwommenen Film der Sicherheitskameras hatte sie etwas Großes gepackt und weggezerrt – wohin auch immer. Wie bei vielen Opfern würde ihr Tod ungelöst bleiben. In welcher Gruft wohl ihre Knochen verrotteten?

Seufzend lief Dani durch den weiß gestrichenen, doch mit Graffiti beschmierten Gang, um auf der anderen Seite sicher nach oben zu gelangen.

Nicht jedem ist dieser Erfolg vergönnt …

Die Zeit schritt voran und die Nacht blieb ereignislos.

Obwohl es bereits fünf Uhr morgens war, tönte aus manchem Fenster noch immer der Fernseher. Oder die lauten Stimmen von Menschen, die stritten, lachten, weinten, sich liebten.

Die Lampe schwang ungenutzt in Danis Hand mit.

Sie gähnte vor Langeweile.

Vielleicht war das Rudel diesmal nicht in der Gegend. Wenn in der Zeitung bald eine neue Vermisstenanzeige stünde, wüsste sie möglicherweise besser Bescheid über deren Gepflogenheiten bei der Menschenjagd. Sie sollte die ihr bekannten Fälle noch mal gründlich studieren.

Schnaufend trat sie eine leere Dose vor sich her.

Ein Marder schreckte auf und verschwand unter einem Auto.

Umsonst, dachte sie resigniert und peilte den Rückzug an. Alles umsonst.

Müde schlenderte sie den Heimweg entlang.

Ein alter Flaschensammler, ein zitterndes Muttchen und eine Gruppe betrunkener Halbstarker kamen ihr entgegen. Ohne Probleme zogen sie vorüber.

Ein ruhiger, kalter Tag kündigte sich langsam an. Krähen krächzten in verschiedenen Oktaven.

Bei einem Bäcker brannte bereits Licht und Dani überlegte ernsthaft, ob sie sich frische Brötchen leisten sollte. Quasi auch als Wiedergutmachung für Jules. In ihren Jackentaschen suchte sie nach ein paar Euros, als ihre Ohren unverhofft doch etwas vernahmen.

Ein kurzes, schnell erstickendes … Weinen? Ein Kind hatte geschrien, ein sehr kleines noch, und jemand hatte ihm rasch den Mund verboten, ehe es lauter werden konnte.

In einer Großstadt war diese verstohlene Geräuschkombination nie gut. Ein Täter wollte Aufmerksamkeit vermeiden. Egal ob von Mensch oder Dämon, ein Leben wurde bedroht. Es hoffte auf Hilfe.

Wie angewurzelt blieb Dani stehen.

Sie stand vor einem hohen Torbogen, dem Zugang zum unbeleuchteten Hinterhof eines Wohnhauses, welches bestimmt bessere Tage gesehen hatte, und dennoch in Benutzung schien. Die raue Fassade bröckelte und die hölzernen Fensterrahmen benötigten eine umfassende Renovierung. Hinter keiner Scheibe glimmte ein Licht, folglich mussten die etwaigen Bewohner schlafen.

Entschlossen, im Falle einer möglichen Gewalttat dem Opfer zu helfen, nahm Dani die Spur auf. Mit wachsamer Vorsicht trat sie unter den Bogen in den Schatten der Straßenlaternen ein.

Die seitlich angebrachte Haustür war verriegelt.

Ihr Licht einschaltend, ging die Frau nach hinten, auf den holprig gepflasterten Platz mit Rasenfläche, wo im Sommer bestimmt die Hausgemeinschaft unter einem weißen Plastikpavillon Steaks zu grillen pflegte. Jetzt im Winter wirkte das Gelände grau und schmucklos. Jemand hatte versucht, aus dem Eismatsch einen Schneemann zu brauen.

Vorsichtig beleuchtete der bläulich-weiße Lichtkegel die Rückwand des Hauses. Zu beiden Seiten des Türbogens gab es je eine Balkonreihe aus Holz, deren Körbe unterschiedlich gestaltet waren. Einige der moosgrünen Gestelle trugen leere Pflanzkübel, wurden mit Wäscheleinen bespannt oder als großer Katzenkäfig genutzt.

Alles schien still und friedlich.

Doch ihre Ohren hatten sich nicht getäuscht, also …

Ein Windstoß ließ ein weit offenes Fenster zuschlagen und Dani fuhr erschrocken zusammen. Suchend fand sie die Geräuschquelle und der Lichtschein tanzte über -

Etwas huschte in den Schatten.

Na bitte.

Dani schwenkte zurück und wieder wich es ihr aus. Fast lautlos sprang es von einem Balkon zum anderen und verbarg sich vor dem grässlichen kalten Licht. Rötliche Punkte funkelten auf.

Fangfrage, schmunzelte Dani in sich hinein, was ist schwarz und hat rote Augen?

„Ich weiß, dass du hier bist, Dämon“, sprach sie das fremde Wesen mit Bedacht an, „und glaube nicht, dass ich Angst vor dir habe. Du warst auf Beute aus, oder? Traust du dich jetzt schon zu den Menschen in die Wohnung hinein? Ganz schön frech von dir …“

Das fremdartige Geschöpf bewegte sich in seinem gezwungenen Versteck. Es war unruhig und knurrte.

Hastig versuchte Dani, es mit dem Licht zu erwischen, doch abermals huschte die Kreatur davon. Fort von den Balkonen, hüpfte diese auf das Blechdach des provisorischen Schuppens, unter dem die Mülltonnen und einige Hausmeistergerätschaften wie Eimer und Kehrbesen aufbewahrt wurden, und verschwand eilig in deren Schatten.

Es ist ein Wolf, wusste sie die schemenhafte Gestalt zu deuten. Nicht der grauäugige Wolf, doch mit Sicherheit ein Lichtfänger. Und er trägt etwas mit sich herum.

Ganz langsam kam Dani näher, die Lampe auf die Plastiktonnen gerichtet. Sie machte sich darauf gefasst, notfalls mit diesem Biest auf Fellfühlung zu gehen, um ihm die Beute zu entreißen. Eine alte Abneigung ließ ihre Nackenhaare zu Berge stehen, weil sie sich noch gut daran erinnern konnte, wie damals dieser andere Wolf gestunken hatte. Nach Blut und Speichel, nach brackiger, schimmliger Kanalisation. Wahrscheinlich schliefen diese Ungeheuer dort, um sicher vor dem Tageslicht zu sein …

„Lass das Kind frei!“, befahl Dani drohend.

Knurren antwortete ihr.

„Ich wiederhole mich ungern, Lichtfänger! Ich weiß ganz genau, was du dir da geschnappt hast!“

 

Das Knurren wurde bösartiger. Der Dämon fürchtete und verfluchte das Licht gleichermaßen und duckte sich tiefer davor weg. Ein rotes Auge hatte die Kontrahentin durch einen Spalt fest im Blick.

Dani konnte eine Bewegung erahnen. Durch die Lücke zwischen den Abfallbehältern schob er ihr tatsächlich etwas zu. Ein Bündel, eingewickelt in eine weiche rosafarbene Babydecke, die mit lächelnden Bärchen und Kätzchen bestickt war. Die Tiere glänzten jedoch blutbefleckt. Das kleine Leben darin rührte sich nicht mehr. Der Wolf hatte es getötet.

Bitter schmeckte Dani Galle auf ihrer Zunge vor Wut sowie Übelkeit. Unbewusst ließ sie die Hand sinken und das schützende Licht verlor einen winzigen Moment lang sein Ziel aus dem Visier.

Als hätte der Dämon dies beabsichtigt.

Mit einem Satz sprang er aus seiner Deckung hervor. Laut donnernd fielen die Tonnen zu beiden Seiten um und das schwarze Monster prallte kräftig gegen Danis Körper, dass sie unweigerlich zurückstraucheln musste und dabei die Taschenlampe aus der Hand verlor. Diese kullerte davon und kam mehrere Meter ab von der Frau zur Ruhe.

Das kalte Leuchten erhellte weiterhin den Hof.

Aus voller Kehle grollend stand der mörderische Wolf vor Dani und war gewillt, seine geschlagene Beute zurückzuerlangen. Mit gefletschten Zähnen, tropfend vor Geifer, ging er in Angriffsposition, bereit für einen zweiten Sprung, wenn sie es denn auf einen Kampf anlegte. Die Pupillen seiner rubinroten Augen waren eng geschlitzt und die Krallen seiner tellergroßen Tatzen kratzten über den Stein.

Ihre nächsten Schritte überlegend, musterte Dani ihren zotteligen Feind.

In ihrer Erinnerung war der Lichtfänger eigentlich so groß wie ihr Vater gewesen. Doch dieser hier war im Vergleich dazu winzig. Auf den ersten Blick konnte man ihn einfach mit einem schwarzen Schäferhund oder Neufundländer verwechseln. Fast hätte sie selbst geglaubt, einem Irrtum zu unterliegen, wenn nicht die verräterischen Augen wären.

„Du bist zwar nur eine halbe Portion, aber trotzdem ein Monster“, provozierte sie ihn bewusst mit ihrer Verachtung. „Du hast ja nicht mal Skrupel davor, ein wehrloses Baby zu töten.“

Mit der Pranke schlug er abschreckend nach ihr aus.

Die Drohgebärde schüchterte sie nicht ein. „Du verdammte Promenadenmischung!“

Sein einsetzendes Bellen hallte rau von den Mauern wider.

Wachsam sah sich Dani nach den Fenstern um, die den Hof auf der Innenseite umgaben. Sie fürchtete, das laute Gekläffe könnte die Anwohner aufwecken und ihr zusätzliche Schwierigkeiten bereiten. Das Letzte, was sie bei einem Kampf mit Teufeln brauchte, waren ungläubige Zeugen.

„Sei gefälligst still, die Leute schlafen noch!“, rügte sie ihn zwischen Spiel und Ernst.

Der Wolf sprang mutig einen Satz vor und schnappte.

Sofort wich Dani aus, griff geschickt in ihre Jackentasche, in das Kräutersäckchen, und pustete eine Handvoll davon dem Lichtfänger mitten ins pelzige Gesicht. Die Wirkung setzte prompt ein. Überrascht und verwirrt schreckte der schmale Bursche zurück und stieß zeitgleich ein grelles Heulen aus, als Nase und Augen begannen zu brennen. Er schnaubte, bockte, stolperte gegen die umgeworfenen Tonnen, kratzte und putzte sich mit den Vorderpfoten, nieste und winselte.

Weil er sich rollend über den Boden wand, nahm sich Dani vor, das Zeug bald säckeweise bei Jules zu bestellen. Vielleicht verkaufte sie es auch gewinnbringend als erprobten Dämonenschreck im Internet …

„Tja, unterschätze das liebe Rotkäppchen mal nicht, Wölfchen!“, konnte sie es nicht lassen, ihn zu verspotten. Dass die erste Runde an sie ging, stimmte die frisch getaufte Jägerin euphorisch.

Da hörte sie den Wolf jammern.

Kaarn! Am kaarak far!

Verwundert hob Dani die Brauen.

Das klang nicht nach der Stimme eines Mannes.

Was auch immer er eben in seinem aufkommenden Zorn reden mochte – der Wolfsdämon war noch sehr jung. Er hatte nicht mal leichten Stimmbruch! War er in Wirklichkeit nichts weiter als ein halbwüchsiger Welpe? Trotz seiner gefährlichen Drohungen sollte er selbst noch ein Kind sein?

Demnach hatte sie sich in ihrer Erinnerung nicht getäuscht. Ein erwachsener Lichtfänger war wesentlich größer. Tödlicher.

Und wie zum Beweis tauchte gleich neben ihr einer auf.

6

Konfrontation

Der riesige Schädel stieß sie fort wie ein stählerner Rammbock und Dani fiel keuchend auf den Rücken zu Boden. Dennoch rappelte sie sich hurtig wieder in der Hocke auf und strafte sich für ihre eigene Unachtsamkeit.

Nie die Umgebung aus den Augen verlieren, lautete ein einfacher Leitsatz, wenn man in Gefahr geriet. Und sie hatte in ihrer dummen Verwunderung vergessen, dass der Torbogen bisher frei durchgängig war für alle Arten von Geschöpfen. Nun jedoch war der Ausgang blockiert von drei übermannsgroßen Wolfsdämonen, die sicher auf das Jaulen des Welpen reagiert hatten.

Zumindest schien dem, der sie unerwartet angegriffen hatte, viel an dem jüngsten Rudelmitglied zu liegen. Beinahe fürsorglich beschnüffelte er den kleineren Wolf und leckte ihm die bitteren Kräuter aus dem Pelz, selbst wenn diese ihn nicht schmeckten. Als er bemerkte, wie Dani ihren Körper langsam aufrichtete, stellte er sich, zu beachtlicher Höhe erhebend, schützend vor dem Jungen auf.

Der Erwachsene schien fast doppelt groß, doppelt schwer und viermal mehr gefährlicher zu sein. Das schwarze Fell war lang und wild zerzaust, die Zähne glichen ebenholzfarbenen Hauern, auf die ein Eber neidisch gewesen wäre. Furchtlos blickte er sie an und lockerte die muskulösen Schultern, bereit zum Kampf. Seine Pranken wetzten die Krallen am Stein, dass sie Funken sprühten.

Dani verharrte regungslos.

Ihr Blick war fest auf ihn gerichtet.

Das war der Lichtfänger mit den eisengrauen Augen. Sie erkannte ihn eindeutig am linken Vorderlauf, dem eine Klaue fehlte. Ein winziger Makel, aber er war ihr im Gedächtnis geblieben. Sie konnte noch fühlen, wie er sie in der damaligen Nacht niedergedrückt hatte.

Auf diesen Bastard hatte sie lange gewartet.

Bevor sie allerdings Gelegenheit hatte, sich an den Grauäugigen zu rächen, lenkte sie ein Lachen ab, das ihr schrecklich durch Mark und Bein ging.

Der zweite ausgewachsene Wolfsdämon war ein drahtiger, langgliedriger Rüde, der beim Laufen fast zu tänzeln schien. Er hatte nicht die breiten Schultern des Grauen, löste aber durch seine beleckte, hämische Fratze ein tiefes Gefühl der Angst aus. Die Urangst vor dem großen bösen Wolf. Und an den glänzenden, weit aufgerissenen blauen Augen erkannte Dani, dass mit dem Kerl zusätzlich etwas nicht stimmte.

Ei, ei, ei“, kicherte der Blaue höhnisch, „ooka seśnar te saor, Orosar?“

Der Welpe duckte sich schuldbewusst hinter seinem großen Beschützer. Dieser knurrte für ihn den Blauen an, der wiederum grimmig den Grauen anbellte. Zwischen beiden Wölfen knisterte die Luft vor gereizter Spannung, doch der dritte und letzte Wolf machte dem Streit stumm ein Ende. Es genügte ein fester Blick aus seinen flammenroten Augen und schon wichen die niederen Wölfe gesenkten Hauptes zurück.

Demnach ist das der Alpha, vermutete Dani ganz stark.

Ein Irren war bei seiner Ausstrahlung sowieso unmöglich. Weder setzte er auf Drohung noch auf Angst, um sich seinen Platz an der Spitze zu behaupten. Er brauchte bloß zugegen zu sein und jeder wusste sofort, dass dieser Dämon absolute Macht besaß und sie auch mit Gewalt einfordern würde. Widerworte standen nicht zur Diskussion. Er war ein Anführer, ein König, ein Tyrann mit einem Geburtsrecht, die Schwachen zu beherrschen.

Von seinem Rudel war er der größte, der stärkste, der tödlichste Wolf. Und ein kleiner Mensch wie Dani hatte ihm bestimmt nichts entgegenzusetzen.

Während er majestätisch wie ein Löwe auf die junge Frau zuschritt, knurrte er die dunklen Worte seiner Art: „Eo iorna am te iśkaé, sar?“ Es klang nicht sehr freundlich. Geschweige denn erfreulich.

Śi rorśk, saiǩo, śi ooka morwar rorśk!“, jammerte der Welpe und rieb seine entzündete Nase.

Dani verstand nichts von dem, was zwischen den Wölfen gesagt wurde. Nicht mal Jules hätte etwas von dieser Sprache verstanden. Wahrscheinlich war sie überhaupt der erste Mensch, der die Lichtfänger sprechen hörte – und noch immer lebte. Abgesehen davon war ihr sehr wohl klar, dass der riesige Alpha ihr bedrohlich nahe kam. Mit seiner Tatze musste er bloß kurz scharf ausholen und sie könnte noch im Himmelreich ihre Knochen sortieren. Obwohl sie sich nicht zu den Schwachen zählen wollte, musste Dani sich eingestehen, dass ihre ganze Kraft, ihr Wille und ihre Halsstarrigkeit gegen dieses schwarze Wesen nichts auszurichten vermochten.

Zähneknirschend musste sie Jules Befürchtungen teilen.

„Ein Mensch, der weiß …“, sagte der Alpha plötzlich in ihrer Sprache. Er hatte einen einschneidenden, heißeren Akzent, den Dani keinem Volk der Welt zuordnen konnte (oder wollte?), und sein interessierter Blick musterte sie von oben bis unten wie ein saftiges Stück besten Fleisches.

Fast wirkte er belustigt.

Was denkst du von mir, du gieriges Biest?, wurden ihr die intensiven Feueraugen unangenehm.

Doch dann – als wäre sie es plötzlich doch nicht mehr wert, von ihm beachtet zu werden – wandte der Wolf sich eiskalt von ihr ab.

Die sonst so standfeste Punkerin atmete tief durch vor Erleichterung. Vorerst hatte sie die offene Konfrontation mit dem Lichtfänger überlebt.

Die Augen des Alphas richteten sich nun auf das umwickelte Bündel, welches noch immer bei den umgeworfenen Tonnen lag und die Babydecke langsam mit Blut tränkte. Mit seiner breiten Schnauze schnüffelte er daran herum und schnaufte derb aus, dass weiße Dunstwölkchen aus seinen Nasenlöchern stiegen.

Aber anstatt es zu fressen, wie Dani es vermutet hätte, schleuderte er es mit einem gnadenlosen Hieb fort. Gleich einem nassen Sack klatschte das Bündel hart gegen die nächstbeste Hauswand und die Frau glaubte zu hören, wie die zarten Knochen zu Splittern zerbrachen.

Dem Blauen schien das markerschütternde Geräusch zu gefallen. Tropfend ließ er die schwarze Zunge aus dem langen Kiefer hängen und beleckte sich die Zähne.

Am ooka aǩwir. Ni eśara rie“, zürnte der Alpha dem Welpen in einem herb enttäuschten Tonfall, weshalb der sich ängstlich hinter dem Grauen versteckte.

Jener ergriff abermals kühn für den Jungen das Wort: „Ni far ooka iark! Śi ooka iark te aǩwir ni saor!“, und mit seiner vernarbten Pfote wies er empört auf Dani, die sich langsam inständig wünschte, die Wölfe würden mit ihrem unverständlichen Kauderwelsch aufhören.

Ketar, Oros ooka krś -

Krśkoro nor, ketari!“, fletschte der Alpha jäh die bedrohlichen Zähne und sein bärenhaftes Brüllen schallte von den Wänden. Schreckhaft beugte sich der Graue seinem Urteilsspruch, legte reumütig die Ohren an und blickte schweigsam zur Seite, während der Blaue gluckste. Den amüsierte die Schelte, wenngleich der Alpha auch ihn für seine offensichtliche Gehässigkeit derb anschnauzte: „Emr, Tao!“

Nachdem er wieder für Ruhe und Respekt gesorgt hatte, richteten der Alpha die Feueraugen erneut auf Dani.

Iśkaé! Nicht jede Frau trägt Dill und Johanniskraut mit sich herum“, knurrte der Wolfsdämon tief und stellte sich ihr ein weiteres Mal nah und unheildrohend entgegen, dass sie den penetranten Gestank seines Fells deutlich riechen konnte. „Wieso weiß ein schwächlicher Mensch, was uns Wölfe schmerzt? Woher hast du dieses Wissen, verdammtes Weib? Wie hast du von uns erfahren?“

Ein sicheres Lächeln rutschte Dani über die Lippen und das schien dem gewohnten Despoten gar nicht zu passen. Offenbar irritierte ihn ihr maßloses Selbstvertrauen gegenüber seiner Person. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie aufgrund seiner Worte rasch einen Plan gefasst hatte.

„Ich kenne euch schon ewig“, pokerte sie hoch und zuckte gespielt leichtfertig die Schultern. „Lichtfänger, Stromfresser, Donnerwölfe. Ich habe Jahre damit zugebracht, mich vorzubereiten, um euch im passenden Moment gefährlich werden zu können. Von meiner Kräutermischung kannst du auch gern eine Nase voll bekommen, also trete mal schön etwas von mir auf Abstand, du stinkender Riesenkläffer!“

 

Die roten Augen weiteten sich.

„Na, komm!“, forderte sie ihn heraus. „Mach brav Platz, Fiffi!“

Daraufhin fing der Blaue grell wie eine Hyäne an zu lachen. Er hielt sich krampfhaft das hässliche Maul zu, als sein Anführer ihn zur Raison brüllte. Danis erster Eindruck von ihm war anscheinend richtig: Der hat nicht alle Latten am Zaun …

In der wiederkehrenden Stille hörte sie den starken Kiefer vor sich knacken, so hart biss der Alpha ihn zusammen. Von ihr brüskiert zu werden, kratzte sein stolzes Ego – erst recht vor versammelter Mannschaft. Doch er bezwang seinen Zorn schnell und gab sich keine Blöße. Mehr grinste auch er dreist über die Lefzen, was furchtbar ausschaute, aber Dani konnte sich keine Angst leisten.

„Gut“, sprach er finster und trat wirklich einen Schritt von ihr zurück, „du bist ein mutiges Ding. Normalerweise würde ich dir die Kehle durchbeißen und das Problem wäre aus der Welt. Doch hier mein Vorschlag an dich, Mädchen: Ich lasse dich heute Nacht ziehen, wenn du mir sagst, wer uns verraten hat … Soll sein Kopf den deinen retten.“

Er hat angebissen, dachte die Frau triumphierend und fragte: „Pfote drauf?“

„Bei meinem Wort“, knurrte er, als hätte sie ihn mit ihrer Skepsis beleidigt.

Ob das so viel wert war, konnte Dani natürlich nicht einschätzen.

Fest stand jedoch, dass sie ihr Leben verlor, wenn sie weglaufen oder einen Kampf mit dem Alpha und seiner tödlichen Meute riskieren würde. Deshalb dachte sie ja daran, diese ihr an Kraft überlegenen Geschöpfe gegeneinander auszuspielen, und hatte auf die Weise sogar die Chance erhalten, entkommen zu dürfen. Das Angebot sollte sie nutzen. Ein zweites würde es nicht geben.

Mit erstaunlich kühlem Verstand hob sie weisend den Arm.

Der Alpha folgte ihr mit Blicken und sah auf den grauäugigen Lichtfänger.

Dieser stutzte. Nervös wich er dem entlarvenden Fingerzeig aus, wurde jedoch weiter von ihm verfolgt. Die wortlose Anklage machte ihn unruhig.

„Amon?“, grollte ihm der Alpha fragend.

Der Angesprochene wurde immer unsicherer und trat von einer Tatze auf die andere.

„Ich weiß nicht, was die meint!“, gab er sich ehrlich unwissend und grimmte dem Menschen bärbeißig. „Ich kenne das Weib nicht! Keine Ahnung, was die da redet!“

Der blauäugige Wolf musste wieder laut auflachen, was den Grauen nur noch wütender macht. „Tok nam emr, Tao!“, bellte er ihn kämpferisch an und sein Fell sträubte sich.

„Es wäre besser, du erklärst dich, kaarak far!“, fauchte auch der gebieterische Alpha Dani böse an. An seinem lodernden Blick erkannte sie, dass ihm diese Nachricht doch stark zusetzte. Na, kein Wunder, immerhin klagte sie einen seiner Stammesbrüder des Verrats an.

„Verständlich, dass er mich nicht erkennt. Vor siebzehn Jahren war ich noch ein Kind und er hätte mich fast getötet“, klärte sie ihm wahrheitsgemäß auf und Dani öffnete ihre gefütterte Jacke, um dem Wolf die Narbe an ihrem Oberarm zu zeigen. „Er hat mich verletzt, doch ließ mich gehen. Seitdem weiß ich, dass es euch im Dunkeln gibt. Und das die Erzählungen vom bösen schwarzen Wolf nicht nur Märchen sind.“

Während der Graue vor Entsetzen große Augen bekam, platzte ein irres Lachen aus dem Blauen heraus, dass beide ausgewachsenen Wölfe ihn eilig ankläfften: „Emr, Tao!“

Der war bemüht, sich von seinem unpassenden Lachanfall zu beruhigen und als es geschafft schien, trat er grinsend auf seinen Anführer zu. „Kowin, Re“, feixte der Blaue mit gedehnten Worten und legte seinen Kopf schief, „aber es war köstlich zu sehen, wie Amon das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Die Kleine scheint nicht zu lügen, ihre Geschichte hat Hand und Fuß, das weißt du wie ich … Wir können uns wohl alle an diese eine Nacht erinnern, nicht wahr?“

„Sie könnte mich auch ebenso gut mit dir verwechseln“, äußerte sich der Grauäugige beleidigt.

„Ich habe damals kein kleines Mädchen verfolgt …“, erinnerte ihn der blaue Dämon singend und grinste überheblich. Er genoss es, im Recht zu sein.

„Ich lasse mir keine Schuld aufbinden! Und was glaubt ihr einem dummen Menschenbalg?“, appellierte er weiter an seine Unschuld, obwohl der gehetzte Ausdruck in seinen Augen der Behauptung widersprach. „Nie habe ich einer Beute erlaubt zu entkommen!“

„Scheinbar doch“, zog ihn sein Gegenüber spitz auf.

Tok aé kaarak emr!“, unterbrach erneut der Alpha laut ihren infantilen Streit. Er sprang zwischen die beiden Fronten und gab beiden einen gewaltigen Schlag hinter die Ohren, dass sie auseinanderstürzten. Die rangniederen Wölfe schüttelten ihre Köpfe und Mähnen. Schweigsam akzeptierten sie die Bestrafung, doch funkelten sie sich nach wie vor böse an.

Wakmé!“, nannte der Alpha die zwei abwertend und schnaufte. Über die breite Schulter hinweg, zischte er Dani zu: „Wir haben untereinander ein paar Angelegenheiten zu klären. Du solltest jetzt besser gehen, kleines Mädchen. Halte dich in Zukunft von der Dunkelheit fern. Ein nächstes Mal werde ich nicht so gnädig mit dir sein.“

Das ließ sich Dani sicher nicht noch mal sagen.

Die Dämonen nicht außer Acht lassend, bewegte sie sich langsam auf das Tor zu. Im bösen Spaß versuchte der Blaue, dem sie nahe kam, nach ihr zu schnappen, und er lachte boshaft über ihr überraschtes Gesicht.

„Tao“, ermahnte ihn der Alpha kalt, „ich gab ihr mein Wort!“

„Für diese Nacht, Re …“, zischte er bissig.

Zumindest besitzt der Anführer so etwas wie Ehre, beruhigte Dani ihr schlagendes Herz und schritt mit Bedacht rückwärts durch den Bogen hinaus.

Krś tśkoro, Amon …“, hörte sie leise den roten Wolf noch knurren, dann verschwand der Hinterhof in der Biegung und Dani trat wieder auf die offene Straße hinaus.

Der Morgen kroch über den Himmel. Krähen kündigten ihn an. Die nachtschwärzliche Dunkelheit wich einem im Osten stetig heller werdendem Blauton. Die berufstätigen Menschen der Stadt erwachten und der Verkehr nahm zu. Eine Straßenbahn zog donnernd in einer Nebenstraße vorbei.

Ihre Knie wurden plötzlich weich. Erschöpft wie nach einem anstrengenden Training ließ sich die junge Frau auf den Asphalt sinken und zog tief die kühle Luft ein. Atmete Staub, Abgase und Fäulnis, roch Teer, Benzin und Schnee. Alles würde sie nicht mehr wahrnehmen können, wenn …

Es hätte schlimmer ausgehen können.

Überlebt. Ich habe überlebt. Wieder.

Ich hab echt mehr Glück als Verstand, schüttelte sie über diese Nacht den Kopf.