Die Stunden der Nacht

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Lichtfänger

Jules rieb sich die geschlagene Schulter. Nachdem er unachtsam Dani gestanden hatte, dass er in den fünf Stunden auch nichts getrunken hatte, ließ sie mehrere Treffer auf ihn landen.

Seine junge Freundin war hart und manchmal sehr brutal, doch er wusste, sie war nur deshalb so grob zu ihm, weil sie ihn aufrichtig liebte und sich mehr als große Sorgen um ihn machte.

Er sah ja auch vollkommen ein, dass sie recht hatte.

Bevor er sie vor zwei Jahren kennengelernt hatte, brachte ihn seine damalige Freundin unter Wut und Tränen ins Krankenhaus, nachdem er über der Arbeit zusammengebrochen war und an Unterernährung litt, die schon als lebensbedrohlich galt. Kaum, dass er wieder stehen konnte und zu Stift und Zettel griff, verließ sie ihn und die Ärzte hielten es für ratsam, ihn weiter festzuhalten – in der psychiatrischen Abteilung.

Wenn seine französische Mutter und sein englischer Erzeuger sich jemals ernsthaft für ihn interessiert hätten, statt quer durch die heile weite Welt zu irgendwelchen diplomatischen Seminarsitzungen und archäologischen Ausgrabungen zu reisen, wären sie vielleicht sogar enttäuscht gewesen, dass ihr einst vielversprechender Junge nicht an einer Hochschule lehrte, sondern in der Klapse gelandet war. Welch ein Glück, dass der Kontakt seit Jahren miserabel verlief …

Bei einer albernen Gruppensitzung war ihm dort in der weißen Hölle dieser störrische Wirbelwind begegnet und ihr unbeugsames Temperament hatte ihn schlichtweg umgehauen. Von anderen Gemeinsamkeiten ganz zu schweigen, weswegen sie auch später noch miteinander sprachen und bald glücklich zusammenlebten.

Na ja, mehr oder weniger …

Ihre felsenfeste Haltung ließ ihn öfters an seine Grenzen stoßen und er war blöderweise ein unverbesserlicher Workaholic. Seinen selbstzerstörerischen Wissensdrang konnte er nie abschalten. Er musste einfach lesen. Denken. Forschen. Fragen beantworten, die andere als unlösbaren, unerklärlichen, unbegreiflichen Humbug abspeisten. An Langeweile würde er ebenso sterben wie an einem leeren Magen. Dazu wollte er es jedoch nicht kommen lassen – und Dani auch nicht. Es war schwer, aber nötig, dass sie ständig über ihm schwebte.

Es erschien irgendwo paradox, dass er, ein Genie mit einem IQ von über hundertachtzig, nicht in der Lage war, einen normalen Tagesablauf zu führen. Magister in allen Dingen, nur nicht im Kochen, Waschen, Pflegen.

In seinem Kopf war Platz für Medizin, Theologie und sonstige Wissenschaften, die ihn jedoch nur am Rande etwas bedeuteten – und dann gab es ja noch diese verbohrten Fakultätsaffen, die ihm widerwillig zwar Auszeichnungen und Urkunden aushändigen mussten, ihn doch hinterrücks als wahnwitzigen Narren für seinen Lebensinhalt abstempelten – ah! – Jules verstand sich manchmal selber nicht. In seinem Geist herrschte eben kein Stillstand und nun kam er von den eigenen Gedanken ab.

Wo war ich gerade gewesen?

Dass Dani das ganze Theater mit ihm so gut mitmachte, war für Jules ein achtes Weltwunder. Jede andere berufstätige Frau, die nach der Arbeit noch den Haushalt für ihren nutzlosen Kerl schmeißen musste, hätte ihm schon längst den Laufpass gegeben. Ein Riesentrottel, das war er …

„Tut mir wirklich leid“, meinte er es ehrlich, als er mit hängendem Kopf auf den Esstisch zuschlappte, wogegen Dani schon die Mikrowelle auf der Küchenzeile bediente. Eine schlichte Handhabung, eine kleine Bewegung nur – er würde bestimmt das Gerät in die Luft jagen! Mit technischen Geräten stand er auf Kriegsfuß.

„Schwamm drüber“, zuckte sie die Achseln.

„Nee!“, wischte er ihren Einwand energisch fort. „Ich hatte echt vor, mir was zu machen! Ich hätte hier auch mal was tun können! Wenn ich ein Handwerker wäre, hätte ich was Sinnvolleres mit meiner Zeit angefangen, das Dach geteert, Fenster repariert oder was … aber ich pack nichts an!“

„Außerdem hast du zwei linke Hände. Lass das lieber, bevor du dir wehtust.“

Er biss auf den Zigarettenfilter.

Wieder hatte sie recht. Das letzte Mal, als er den guten Hausmann spielen wollte, hätte er sich fast den Daumen abgesägt! Und davor war er von der Leiter gefallen und hatte sich das Kreuz verrenkt! Noch weiter gedacht – aber besser nicht, er war schon ganz unten.

Missmutig nahm er zwei Teller aus dem Küchenschrank und Besteck aus der Schublade, um beides auf den Tisch zu platzieren. Immerhin ging dabei nichts zu Bruch. Wenn er es nicht vergaß – und er wettete fast, dass das abermals der Fall sein würde – wollte er morgen zumindest den Abwasch machen.

Die Mikrowelle gab einen Ton von sich und Dani kam mit der dampfenden Lasagne zu ihm an den Esstisch, wo sie ihr Werk auf die Teller aufteilte. Wenn sie sich derart häuslich gab, vergaß er beinahe, was für eine charmante Art in ihrem Sturkopf vorherrschte.

„Wie war die Arbeit?“, fragte Jules entspannt, um etwas von ihrer Fürsorge zurückzugeben. Er wollte sich auch nicht mehr über seine eigene Unfähigkeit aufregen und Stille konnte er ohnehin schwer ertragen.

„Ganz okay“, gab sie eine blasse Auskunft und schaute ihn dabei an. Irgendwas liegt dem Mädchen auf der Seele – das sagte ihm nicht seine Menschenkenntnis, sondern das Psychologiestudium, welches er mal so nebenbei abgeschlossen hatte.

Dani erzählte von einem Kunden, der ein Cover-up über ein missglücktes Tattoo haben wollte, dann von einer Zwölfjährigen, die unbedingt ein Zungenpiercing forderte – was Robert als fürsorglicher Vater und ehrbarer Ladenführer natürlich abgelehnt hatte – und berichtete davon, dass ihre Kollegin Nancy wieder auf Solopfaden unterwegs war. Ihr Musiker-Freund schien ein kompletter Vollidiot gewesen zu sein. Hatte ja nur zwei Monate gedauert, um zu dieser (ihn nicht überraschenden) Erkenntnis zu kommen. Die Frau sollte ihre Ansprüche überdenken …

Jules stocherte mit der Gabel im Essen herum. Es schmeckte, keine Frage, aber sein Appetit war schwerlich zu finden. Lieber wollte er an den Tafeln sitzen.

„Und sonst?“, keuchte er nach einem viel zu großen Bissen, der ihm schmerzhaft den Hals runterrutschte.

„Sonst“, überlegte sie gespielt und nuschelte dann etwas Unverständliches.

„Wie war das?“, musste er nachfragen.

Sie stöhnte genervt auf und gestand: „Ich hab so einem Arsch die Fresse poliert.“

Mit großen Augen blickte Jules sie an. „Schon wieder? Dani, das neue Jahr ist noch keine Woche alt!“

„Was kann ich dafür, wenn solche Typen ständig mich anquatschen?! Hab ich ein Schild um den Hals hängen, das mich als Nutte kennzeichnet? Nein! Also gibt’s eine drauf!“

„Na ja … Du bist ziemlich süß“, gestand er ihr offen.

„Das darfst du zu mir sagen, doch nicht jeder Dritte von der Straße!“

„Ich fühle mich geehrt.“

Schmollend aß Dani einen Happen und sagte kauend: „Na, jetzt ist es sowieso zu spät. Ich werde mir dann erst mal wieder die Haare färben und geh irgendwann zum Friseur für einen Kurzhaarschnitt. Ich denke kaum, dass wegen dem Penner hier die Bullen auf der Matte stehen werden.“

„Dein Wort im Ohr eines jeden Gottes.“

„Die Polizei hat dringendere Probleme als mich“, nahm sie das Geschehene leicht auf.

Jules zwang sich zu einem weiteren Stück Lasagne, ehe er fragte: „Zum Beispiel? Sind etwa noch mehr Leute verschwunden? Gut, im Winter geht so einiges um, aber dieses Jahr sind es auffällig viele …“

„Ich sage nichts, bevor du nicht aufgegessen hast“, tadelte Dani ihn wie eine Mutter.

„Bin satt, Schatz.“

„Jules.“

Wie sie seinen Namen aussprach … Tief durchatmend machte er sich daran, seinen Teller zu leeren.

„Ich bin an der Uni vorbeigelaufen“, fing Dani an zu erzählen, da er das letzte Stück Tofu-Hackfleisch in den Mund steckte. „Hab dort den alten Reinert am Rande gesehen.“

Bissig zischte Jules ein fremdländisches Schimpfwort beim bloßen Gedanken an den verhassten Dozenten, mit dem er sich bereits angelegt hatte, als er noch Student war. Selbstverständlich leuchtete ihm ein, dass dies nicht die Neuigkeit war, auf die seine Freundin es anlegen wollte. Trotzdem musste er sich konzentrieren, den Mistkerl aus seiner Gedankenwelt wegzuschieben und das eigentliche Thema zu erfassen.

„Jedenfalls“, fuhr sie fort, „hab ich dabei gehört, dass ein Student vermisst wird …“

„Bei den Betonköpfen im Lehrstuhl keine Überraschung“, konnte er sich den Spott nicht verkneifen.

„… das war vor zwei Tagen. Er war mit Freunden Darts spielen und das ging bis tief in die Nacht hinein. In seiner WG ist er nie angekommen und es gibt keinerlei Hinweise, was mit ihm geschehen sein könnte.

Auf Arbeit habe ich außerdem im Radio gehört, wie die Polizei eine Leiche gefunden hat. Oder zumindest das, was von ihr übrig war. Vielleicht ist es der Student, vielleicht auch jemand von den anderen, die verschwunden sind – wird sich zeigen, doch es hieß, die Knochenteile sahen aus, als hätte ein Hund oder Wolf daran genagt. Ein ziemlich großer noch dazu, größer als die bekannten Rassen.

Was würdest du also vermuten?“

Jules fingerte nach einer neuen Zigarette und sog den Rauch in seine Lunge. Seine ersten Gedanken zum Thema äußerte er sachlich: „Die allgemeinen Gottheiten in Wolfsgestalt schließe ich komplett aus. Die hätten wenig Interesse an einem simplen Menschenleben und erst recht keines am Fleisch ihrer Opfer. Solange sie keinen festen Leib besitzen, verzehren Geisterwesen auch nur geistige Nahrung.

Wenn Ragnarök nicht gerade bevorsteht, fallen Garm und Fenrir auch aus und für Anubis, einen Inugami, Barguest, Crocotas, Diwo, Wendigo und die ganzen ausländischen hundeartigen Dämonen ist hier kein übliches Jagdgebiet. Beschränken wir uns also auf die heimischen oder umherziehenden Arten.

 

Klushund, Welthund, Roggenwolf, Bärenwolf, Kludde, Eisengrind – die Liste ist lang. Allerdings sind viele dieser Wesen in ländlichen Regionen zu Hause und meiden die Großstädte, die ihnen mit ihren hellen Nächten zuwider sind. Schwer zu glauben, dass auch Kreaturen der Hölle etwas abscheulich finden, wie?

Nur wenige Dämonenhunde suchen bewusst die Nähe vieler Menschen auf, scheuen das künstliche Licht nicht und fressen bevorzugt viel im Winter, wenn die Nächte lang sind, um dem Sonnenlicht zu entgehen.

Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber in Anbetracht der in kurzer Zeit gestiegenen Zahl an Vermissten, der abgenagten Knochen und der partiell auftretenden Versorgungsprobleme der Stromwerke, rechne ich damit, dass diese Stadt aktuell von einem Rudel Lichtfänger heimgesucht wird.“

Jeder andere hätte nach diesem Vortrag gelacht und die Ambulanz angerufen. Für kluge, rationale Ohren war das, was Jules erzählte, ein Fall für die Anstalt. Wie oft hatte man ihn für seine Theorien verhöhnt und sein Wissen als Fantasie abgetan? Ammenmärchen, Gruselgeschichten und wilde Spekulationen – zu mehr genügte den Leuten „sein kleines Hobby“ nicht. Er sollte lieber Romane schreiben als wissenschaftliche Texte zu verfassen. Dann würde er zumindest was daran verdienen.

Dani jedoch lachte nicht. Er wusste, dass für sie diese Vermutung alles änderte. Siebzehn Jahre hatte sie fieberhaft darauf gewartet, dass diese Geschöpfe auf ihrer Route zurückkehrten. Die Zeit für ihre lang ersehnte Rache war gekommen.

Lichtfänger. Canis lucis flagrare. Dämonen in der Gestalt großer Hunde oder Wölfe. Überaus gefährlich für jeden Menschen, der sich des Nachts auf die Straße wagt. Ihre Krallen sind hart und scharf wie Damaszenerstahl und ihre Zähne machen auch vor einer Eisenrüstung nicht Halt. Sie leben in kleinen Gruppen, ihre Territorien sind weltweite Landstriche und sie wandern stets umher, immer auf der Suche nach Nahrung. Dabei fressen sie nicht nur Menschenfleisch, sondern auch Energie, was oft zu Stromausfällen führt. Stromzehrer werden sie deswegen auch genannt. Kurokiba oder der Schwarze Wolf, der mit Blitz und Donner erscheint und seine Opfer verschlingt. Der böse Meister Isegrim bei Rotkäppchen ist kein Märchen. Unaufgeklärt ist der Fall der mörderischen Bestie von Cévaudan. Meneur des Loups nannten die Franzosen eine Bestie, die mit Menschenzunge sprach …

Unzählige Berichte aus jedem Buch, dass er zum Thema Monster gelesen hatte, fluteten Jules’ Hirn. Wissen aus Jahrhunderten, Tausende von Volkssagen und Millionen von Gerüchten.

Sollten Kleingeister wie Immanuel Reinert denken, bei ihm seien zig Schrauben locker. Es gab Titel, die die stumpfsinnige Universität ihm nicht verleihen konnte.

Jules war Professor für paranormale Erscheinungen, Dämonologie, Kryptozoologie und Metaphysik. Rein „hobbymäßig“.

Und Dani glaubte ihm.

Sie hatte ihm auch schon bedingungslos geglaubt, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten.

War es doch ein Lichtfänger gewesen, der ihre Eltern tötete.

4

Kindheitserinnerungen

Zur Weihnachtszeit putzte sich die Innenstadt festlich heraus mit goldenen Schleifen und riesigen roten Schmuckkugeln. Überall roch es nach Zuckerwatte, Gewürz und Glühwein. Menschenmassen trafen auf dem Markt zusammen, während auf der Schaubühne ein Kinderchor Lieder vom Heiligen Christ sang und ein verkleideter Mann den Nikolaus mimte.

Die siebenjährige Dani verfolgte mit offenem Mund die wackelnden Holzspielzeuge in einer Bude, derweil ihre Eltern Grog tranken. Ihre Mutter hatte Kerzen zum Verschenken gekauft. Sie war eine schöne, schlanke Frau mit langen blonden Haaren, die ihre Tochter geerbt hatte.

Auch wenn kein Schnee lag, ließ ein kalter Luftzug das Mädchen frösteln. Allmählich wurde es spät. Die Ziegen bei der aufgestellten Krippe hatte man bereits in den provisorischen Stall gesperrt und die hiesige Großstadtjugend begann laut auf ihre Art die Festtage zu genießen.

„Lass uns heimgehen, Daniela“, sagte ihr Vater. Wenn sie ihn so in seiner dicken Winterjacke betrachtete, erinnerte er sie an einen großen Teddybären mit dunklem Fell. Mit Leichtigkeit hob er sie in die Höhe und nahm sie auf die breiten Schultern, um sie unbeschadet durch das Gedränge führen zu können.

Die Straßenbahnen waren auch voll. Ihr Vater beschützte sie und ihre Mutter vor betrunkenen Fahrgästen und überließ ihnen den sicheren Sitzplatz. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Dani, dass ihr Vater der stärkste Mann der Welt war. Er schien nichts und niemanden zu fürchten.

Auf dem Heimweg gähnte das Mädchen und ihre Mutter flüsterte beruhigend: „Wir sind gleich zu Hause.“

Die Nacht war still. Alle Menschen waren wohl in der Stadt auf dem Weihnachtsmarkt. Schwibbögen und Abendsterne leuchteten in den schwarzen Fenstern.

Aus heiterem Himmel hörte sie plötzlich ihren Vater fluchen: „Was zum Teufel …“ Erstarrt blieb er auf dem Weg stehen. Auch ihre Mutter rührte sich nicht mehr. Dani sah müde in ihre Blickrichtung.

Ein Stromkasten stand seitlich des Pfades. Das Plastikgehäuse war aufgebrochen und etwas riss mit kräftigen Zähnen an den elektrischen Kabeln, dass gelb-blaue Funken sprühten. Ein Mensch hätte sich einen Schlag geholt, doch dieses Wesen schien die austretende Energie wie einen Saft zu trinken. Hätte es das nicht getan, würde Dani denken, dort stände bloß ein riesiger, pechschwarzer Hund vor ihnen.

Kaum dass dieser seine Beobachter bemerkte, ließ er von seiner Strommahlzeit ab. Mit hochgezogenen Lefzen zeigte er ihnen seinen mächtigen Kiefer und knurrte aus tiefer Kehle. Die gewaltigen Tatzen traten näher an die Menschen heran.

Vater stellte sich vor Mutter und Tochter und sprach: „Lauft! Ich werde das Biest aufhalten!“

Danis Mutter wollte protestieren, doch das Monster griff an. Es sprang mit ungeheurer Schnelligkeit vorwärts und verbiss sich im Hals des Mannes, dass er nur noch gurgelnd schreien konnte von all dem Blut in seinem Rachen. Es drückte ihn zu Boden und schlug erneut zu, bis der Körper aufhörte zu zucken.

Mit triefendem Maul hob der Dämon den Schädel und lachte heiser. Ja, er lachte so schadenfroh und furchtbar, dass die Mutter Dani von sich stieß und brüllte: „Lauf weg!“, bevor er auch sie anfiel. Aber er tötete sein unterlegenes Opfer nicht sofort wie ihren Mann. Das Kind wankte zitternd einige Schritte zurück und sah mit tränenden Augen, wie der Wolf die Frau gierig betrachtete. Sein widerliches Grinsen wurde breiter, als sie von Angst zerfressen um Worte rang.

„Lauf weg!“, hörte Dani sie schluchzen, ehe das Ungeheuer seine Krallen an ihr schärfte.

Und sie rannte. Blind rannte das kleine Mädchen die Straße zurück, vorbei an der Haltestelle, immer weiter. Sie rannte, bis ihr alles schmerzte, und hörte nicht auf, denn sie wusste, er war direkt hinter ihr. Seine Pfoten hörte sie wie Hufschläge auf dem Asphalt trommeln.

Ihre Kräfte ließen nach. Ein schwarzer Schatten zog an ihr vorbei und riss ihr den Arm zu einer klaffenden Wunde auf. Dani taumelte, stürzte, blieb keuchend am Boden liegen. Es war aus mit ihr. Jetzt würde sie sterben. Das Letzte, was sie auf Erden sehen würde, waren die Zähne dieser grausamen Kreatur, die um sie her ihre Kreise enger zog.

Furchtsam blickte sie den Wolf in die eisengrauen Augen, die sie hungrig besahen. Er trat ihr auf den verletzten Arm, um sie unten zu halten. Etwas an dieser Pelzpranke war merkwürdig. Unvollständig …

Dani wimmerte.

Ihr war ganz schlecht vor nackter Angst.

Sie wusste, sie würde sterben.

Aufgefressen.

Gerade wollte ihr Bezwinger seinen dunklen Rachen öffnen, da stoppte er abrupt. Den Kopf gen Himmel erhoben, erschnüffelte das Wesen etwas in der kalten Abendluft. Ein Heulen kam mit dem Wind.

Kaarn … Du hast diese Nacht noch Glück“, raunte er ihr Menschenlaute kalt ins Ohr und seine kratzige Stimme sollte sie noch Nächte lang verfolgen. „Pass gut auf dich auf. Ich werde in der Dunkelheit auf dich warten, um dich zu verschlingen.“ Dann ließ er von ihr ab. Als sich das Mädchen aufrichtete, war der Wolfsdämon in der Finsternis verschwunden. Und Dani konnte die Scherben ihres zerstörten Lebens einsammeln.

Der Sandsack musste so einiges einstecken. Die erwachsene Dani schlug und trat in ihrer Wut gegen das gefüllte Leder, dass die haltende Gliederkette schwer ächzte. Beinahe wollte man befürchten, die Halterung könnte brechen.

„Und was jetzt?“, wollte Jules von ihr wissen, während sie weiterdrosch. „Willst du raus in die Nacht und den Einen finden? Du weißt doch nicht mal, ob es dasselbe Rudel ist. Es ist eine lange Zeit vergangen, vielleicht ist der Kerl schon gar nicht mehr mit dabei …

Abgesehen davon ist es gefährlich. Wenn sie nur halbwegs wie Wölfe handeln, jagen sie sicher auch in der Gemeinschaft. Das heißt, du hättest nicht bloß diesen einen Gegner. Die zerfetzen dich, Dani, und du bist tot. Du kannst noch so trainiert sein, du bist nicht Buffy!“

Bei dem Vergleich stoppte die junge Frau für einen Moment und lachte leicht außer Atem. „Buffy? Mich kümmern doch keine Vampire! Außerdem wäre die Vorstellung, dass du die Rolle von Giles innehättest, absurd!“

Ihm fröstelte es bei dem Gedanken. Er war Mitte dreißig, keine fünfzig … Okay, im Gegensatz zu ihr, war er vielleicht so was wie alt, aber nicht so alt!

„Wenn es Vampire wären, wäre ich nur halb so besorgt!“, gab er schließlich zu. „Ich mach hier keine Scherze. Wenn du derart unvernünftig bist und dem Tod ins Maul rennst, bereue ich es zutiefst, die Lichtfänger überhaupt erwähnt zu haben!“

„Du kennst sie doch!“, argumentierte sie und trat kräftig gegen den Sack. „Du kennst ihre Schwachpunkte!“

„Einen Schwachpunkt: Sonnenlicht! Das ist aber keine Garantie für einen erfolgreichen Kampf gegen ein ganzes Rudel! Du hast eine kleine UV-Lampe, nichts weiter. Und ob die hilft, kann ich nicht beweisen.

Wir gehen davon aus, dass sie durch die Strahlung eben wie die Blutsauger zu Staub zerfallen. Es ist aber nur eine Vermutung, weil ich niemals gehört habe, dass sie jemanden bei Tage angriffen. Die Köter vertreten voll die dunkle Seite der Macht. Trotzdem weiß ich nicht, liegt es am UV oder an etwas völlig anderem?

Ich habe mein ganzes Leben lang schon Monster und Ungeheuer, Dämonen und Götter studiert, dennoch kann ich dich allein theoretisch beraten! Ist ja nicht so, dass ich bereits einem Dämon gegenübergestanden habe, um ihn auszufragen! Mir fehlt es schlicht an Praxiserfahrung!“

„Schon klar!“, rief Dani und boxte eine Salve von Schlägen ab. Allmählich bekam er mit ihren Knöcheln Mitleid. Schnaufend kam sie zum Schluss und atmete durch.

„Den Punkt hab ich dir voraus!“, sprach sie verbittert. „Ich stand ihm gegenüber.“

„Aber der gefährliche Wolfsmann hat dich laufen lassen“, warf Jules ein.

„Gezwungenermaßen, wie mir scheint“, erinnerte sie ihn und wies auf ihren rechten Oberarm. Unter ihren bunten Tätowierungen konnte er die Narbe von damals noch deutlich erkennen. Die Bissspuren einer Bestie, die keiner außer ihr gesehen und für die es nie Zeugen gegeben hatte. „Ihm kam was Wichtigeres dazwischen, als mir den Hals zu zerfetzen!

Jules, ich hatte jahrelang Albträume und Nachtangst wegen dem verdammten Vieh! Wegen dem Flohfänger habe ich meine Zeit mit nutzlosen Therapien vergeuden müssen und durfte mir von sogenannten Experten anhören, wie verrückt, selbstverletzend und armselig ich angeblich sei! Schon deshalb werde ich ihm nie verzeihen, dass er mir mein Leben versaut hat! Jetzt bin ich nämlich stark und werde diesen Dämon jagen, damit der mal selber lernt, was Angst ist!“

Resigniert stöhnte er auf. „Deine Kraft ist beeindruckend, ja, aber er ist kein Mensch. Er ist keiner von den Machos, die du immer verprügelst. Er wird sein Versprechen halten und dich töten. Das lasse ich nicht zu.“

 

Mit einem Handtuch wischte sie sich den Schweiß von der Haut.

„Ich werde mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ich hab keinen Bock, noch mal siebzehn Jahre zu warten. Schließlich werde ich nicht jünger.“

„Dani“, nutzte er jetzt ihren üblichen Tonfall der Belehrung, „willst du dir seinetwegen die Nächte um die Ohren schlagen? Was ist dann mit deinem Job? Und mit mir? Willst du mich einfach zurücklassen?“

„Du würdest es verstehen, wenn du Ähnliches erlebt hättest“, sagte sie entschlossen. „Zur Not mach ich halt im Job Kasse. Und du wusstest, wie ich mich entscheiden würde, schon als wir uns begegnet sind. Das ist mein Ziel, Jules. Rache für meine Familie und dafür, dass er mir eine normale Jugend verwehrt hat! Ich habe die Schnauze gestrichen voll von diesem Dämon! Ich will Vergeltung!

Danach kann ich endlich abschließen.“

Ja, weil du dann tot bist, traute er sich nicht, die Worte laut auszusprechen.