Marionette des Teufels

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Hauptkommissar Berthold Brauser hatte auf der A3 in Richtung Passau ordentlich Gas gegeben. Endlich etwas, auf das er aufbauen konnte. Endlich eine neue Spur in diesem vertrackten Fall. Er musste sich schleunigst ein Bild davon machen.

Die Waffe, mit der Wallenstein erschossen worden war, hatte also ihm selbst gehört. Aber warum zum Teufel hatte er sie aus der Hand gegeben und sich damit erschießen lassen, statt sich zu wehren? Nein, halt, er war ja schon tot gewesen, als er erschossen wurde. Aber vorher, warum hatte er sich vorher nicht gewehrt? Wie hatte es überhaupt so weit kommen können, wo er doch bewaffnet gewesen war? Wieder wurde Brauser klar, dass er immer noch im Dunkeln tappte.

Es gab noch immer keinen Anhaltspunkt dafür, dass Wallenstein bereits vorher in Passau gewesen war, also konnte Brauser nur annehmen, dass er direkt von Frankfurt über die A3 nach Passau gefahren war. Irgendwo hatte er wahrscheinlich einen oder vielleicht auch mehrere Mitfahrer mitgenommen. Freiwillig, denn sonst hätte er ja seine Waffe gezogen, und das war neu an seiner Überlegung. Es sei denn, diese hatte im Auto gelegen, die Täter waren selbst bewaffnet gewesen und er hatte gar keine Zeit seine Waffe zu nutzen.

Der Kommissar verließ an der Abzweigung Passau-Nord die Autobahn und fuhr Richtung Franz-Josef-Strauß-Brücke. „Nein!“, rief er energisch, das passte nicht. Wären sie bewaffnet gewesen, dann hätten sie ihn doch nicht mit dem Seil am Beifahrersitz festbinden müssen. Oder doch? Vielleicht hatten sie ihm ja auch schon unterwegs die Luft in die Venen gespritzt und hatten ihn dann, als er längst an der Embolie gestorben war, auf den Beifahrersitz gebunden, damit er seine Haltung nicht verlor. Das schien plausibler. „Ja!“, rief Brauser, als er über die kleine Haitzingerbrücke und dann nach links in Richtung Polizeigebäude einbog. Er sah es fast vor sich, das Gesindel, das sich auf einem Rastplatz herumtrieb und den arglosen Klaus Wallenstein ansprach und überwältigte.

Und die Waffe? Brauser ermahnte sich innerlich. Tja, die Waffe. Wo legt man als Normalbürger seine Waffe hin, wenn man unterwegs ist? Einzig Polizisten dürfen sie einsatzbereit am Körper führen. Für alle anderen war es sicher besser, sie irgendwo verborgen zu halten. Im Handschuhfach, im Kofferraum, in einem kleinen Koffer auf dem Rücksitz; es gab unzählige Möglichkeiten, man wollte gar nicht glauben, wo die Leute Waffen versteckten, und wo sie die Polizei bei Razzien wieder zum Vorschein brachte.

Ein wenig mürrisch schloss er das Auto ab und betrat das Dienstgebäude. Ramona war zum Glück schon nach Hause gegangen. Nicht, dass er etwas gegen sie hatte. Nein, das nicht. Aber mit ihrer angeblich geheimen Planung für seinen Abschied ging sie ihm schon mächtig auf die Nerven. Natürlich musste er so tun, als bemerke er nichts, aber welchem Kriminalbeamten, der etwas auf sich hielt, sollte so etwas schon entgehen?

Die Tür zum Büro Hollermann/Steinbacher stand offen, man erwartete ihn also, na, immerhin. Brauser betrat das Dienstzimmer und öffnete als Erstes ein Fenster, denn die Luft war mächtig verbraucht, was aber keinen der jungen Kollegen zu stören schien. „Also, was ist mit der Waffe?“

„Wie bereits vermutet handelt es sich um einen Revolver der Marke Smith & Wesson.“ Hannes sah auf den Bericht der Kollegen, obwohl er die Daten inzwischen auswendig kannte. „Ein Rentner hat ihn gestern Abend in Kelberg am Rande des Neuburger Waldes gefunden und gab ihn heute Vormittag an der Pforte ab. Zunächst konnten die Kollegen nichts damit anfangen, bis sie die Waffennummer beim LKA abgefragt haben: Der Revolver ist auf einen gewissen Klaus Wallenstein aus Frankfurt registriert. Er nutzt ihn als Sportschütze, alles ganz legal.“

„Und die Fingerabdrücke sind auch von Wallenstein?“

Hannes blickte jetzt auf. „Das wird sich zeigen. Er ist noch in der KTU. Die Kollegen haben viel Spaß damit.“

Er lächelte süffisant und auch Franziska, die die ganze Zeit still zugehört hatte, sah belustigt aus.

„Was ist daran so lustig?“ Brauser legte seine Jacke auf einen freien Stuhl und trat näher an den Schreibtisch heran. „Der Rentner hat sie beim Pinkeln gefunden, oder besser gesagt: beim Draufpinkeln, und anschließend hat er sie in eine Plastiktüte gepackt, in eine benutzte. Vertrauen Sie Ihrem Fleischerfachgeschäft stand drauf, und vorher war sicher eine geräucherte Sau drin, so wie die gerochen hat.“

Brauser sah auf die Uhr. Es war spät und er hatte Maria versprochen pünktlich zum Abendessen zu kommen. Das konnte man in seinem Beruf nicht oft einhalten und seine Frau wusste das auch, aber in diesem Fall lief ihm ja nichts mehr weg.

„Gut, geben Sie mir die Adresse. Ich werde morgen mit dem Mann reden. Gibt’s sonst noch was?“

„Der Obduktionsbefund hat die Vermutung des Notarztes bestätigt. Frau Weberknecht wurde erschlagen. Der Professor meinte, der Täter sei nicht grausam zu ihr gewesen“, Franziska sah abwartend zu Brauser, um zu sehen, was der von dieser Formulierung hielt.

„Nicht grausam?“ Brauser nickte vor sich hin.

„Na ja, das sagt man halt so, wenn es schnell geht und das Opfer nicht mehr vielmitbekommt, oder?“ Franziska sah ihn lauernd an, aber Brauser äußerte sich nicht.

„Ach, da fällt mir noch was ein: Die Oberfläche des Gegenstandes war nicht glatt. Sie haben in der Kopfhaut ein Muster an Vertrocknungsspuren gefunden. Vielleicht liefert das ja einen Hinweis auf die Tatwaffe.“

Brauser schien tief in Gedanken versunken.

„Wie war es denn bei den Eltern?“, fragte Franziska schließlich.

„Was? Ach so, ja. Das Übliche würde ich sagen. Wobei, na ja, nicht ganz. Die Herrschaften waren schon recht alt.“ Franziska konnte sich angesichts Brausers bevorstehender Pensionierung ein Lächeln nicht verkneifen.

„Ich weiß, was du jetzt denkst, Mädchen, aber ich meine richtig alt und gezeichnet.“ Franziska nickte. „Diese Familie ist zerstört, und wenn du mich fragst, dann war sie das schon, bevor ihre Tochter starb. Aber vielleicht liegt das ja nur an dieser verdammten hochnäsigen Erziehung, die einfach keine ehrlichen Gefühle zulässt.“

Franziska begann, sich ein paar Stichpunkte in ihr grünes Notizbuch zu machen, und als Brauser das bemerkte, wurde er ganz Chef. „Anne Horwitz kannst du auch gleich noch aufschreiben. Sie wohnt direkt nebenan und ging mit Sophia Weberknecht zur Schule.“ Brauser überlegte, was denn eigentlich das Wichtigste aus diesem Gespräch war. „Vielleicht sprichst du selbst noch mal mit ihr, ich hab dir die Telefonnummer aufgeschrieben.“ Er schob einen Zettel über den Tisch.

„Dem Anschein nach haben wir im Theater eine heiße Spur gefunden“, berichtete Hannes, der sich wieder einmal so richtig überflüssig vorkam. Bei dieser Behauptung blickte Franziska auf und zog kritisch die Augenbrauen zusammen. „Ist schon ein interessantes Völkchen und so friedlich, wie es den Anschein haben sollte, ging es da nicht zu, oder?“ Hannes sah Franziska an, um ihre Zustimmung einzuholen. „Stimmt!“, bestätigte diese. „Wir wollen morgen noch mal mit allen reden.“

„Gut, macht das.“ Der Kommissar nahm seine Jacke vom Stuhl und schlüpfte hinein. Doch plötzlich hielt er inne und drehte sich noch einmal den Kollegen zu.

„Könnt ihr solche Familien verstehen?“ Er machte eine lange Pause und die beiden wussten nicht gleich, worauf er hinaus wollte. „Warum hat uns eigentlich niemand gesagt, dass der Wallenstein Schütze war? Wie glauben die denn, sollen wir unsere Arbeit machen?“

„Sie hielten es für nicht so wichtig, nehme ich mal an.“ Franziska musterte den Chef ungeniert. Er sah alt und müde aus.

„Ja“, sagte er ohne jede Regung. „Vermutlich.“

„Ach, da fällt mir noch etwas ein. Obermüller hat heute mit Paula Nowak ein Bild von dem Mann erstellt, den sie vor dem Haus gesehen hat.“ Franziska suchte in der Mappe, die vor ihr lag, nach dem Bild.

„Und?“

„Er war ganz entzückt von ihr, weil sie sich noch so gut an alles erinnern konnte. Sie muss ihm mächtig viel von der guten alten Zeit erzählt haben, von Bräuteschulen, in denen die jungen Frauen auf die Ehe vorbereitet wurden und so. Hat ihm gut gefallen.“

„Ich meine die Zeichnung? Kann man jemanden erkennen?“, fragte Brauser.

„Sieht glaubhaft aus und könnte uns weiterhelfen.“ Franziska hatte das Blatt gefunden und hielt es in die Höhe. Brauser nahm es ihr aus der Hand, sah es sich lange an und legte es dann auf den Schreibtisch zurück. „Ist er irgendwo aktenkundig?“

„Bisher haben wir nichts gefunden, aber vielleicht ist er ja auch nur ein Zeuge, der uns auf eine Spur bringen kann“, teilte Franziska ihm ihre Überlegungen mit.

Ihr Chef nickte und ging zur Tür. Dort klopfte er sich unschlüssig auf seine helle Stoffjacke, so als suche er etwas und als wolle er fühlen, ob es sich in den Brusttaschen verborgen hielt. „Vielleicht wollte Wallenstein gar nicht nach Passau, sondern weiter nach Linz oder Wien, und ist nur durch die Tatsache, dass ihn jemand ermordet hat, in Passau gelandet.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er aus dem Raum. Verdutzt sahen die beiden anderen sich an und hörten gleich darauf die Tür im Flur zuschlagen.

***

Weder vor seinen Freunden noch vor seinen Arbeitskollegen würde Hauptkommissar Berthold Brauser je zugeben, wie gut es sich für ihn anfühlte, nach Hause zu kommen und zu wissen, dass er sich hier nicht verstellen muss, dass er hier sein konnte, wie er war.

Seit über dreißig Jahren wohnte er schon in diesem Haus und genauso lange parkte er abends sein Auto in der Garage neben den Stellplätzen mit den Vogelbeerbüschen und ging den Plattenweg und die wenigen Stufen zu dem Mehrfamilienhaus, in dem er lebte, hinauf. Am Anfang hatte er noch von einem kleinen Anwesen im Grünen geträumt, mit Kinderzimmern und einem Hobbykeller für die Eisenbahn. Aber dann zerplatzte der Traum von eigenen Kindern, und irgendwann hatte er sich damit abgefunden, dass es keinen Sinn machte, sich ein eigenes Haus zuzulegen. Die Vespa hatte er behalten und zur Erinnerung in der Garage hinten quer gestellt, wo sie auf bessere Zeiten wartete. Brauser wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch anspringen würde, wenn er es probierte. Die Haustür stand offen, wie so häufig. Nur gut, dass noch nie jemand auf die Idee gekommen war, sich hier herumzutreiben. Aber leichtsinnig war es doch, und wie immer drehte er den Riegel, damit die Tür hinter ihm zuschnappte, sodass alle, die ins Haus wollten, klingeln mussten, wie es sich gehörte.

 

Auf dem Treppenabsatz standen eine paar elend aussehende Topfpflanzen, über die sich Brauser jeden Abend ärgerte, aber so waren die Leute: Das, was sie nicht in der Wohnung haben wollten, muteten sie anderen Mietern beim Nachhausekommen zu. Brauser stieg die Treppen hinauf. Im dritten Stock gab es zwei Wohnungen. Rechts wohnte Frau Bachmeier, eine alte Frau, um die sich Maria einmal am Tag kümmerte, und links die Brausers. Er schloss die Tür auf.

„Bertl, bist du das?“ Brauser zog sich gerade die Schuhe aus und stellte seine Aktentasche neben den Schuhschrank.

„Natürlich, wer sonst?“, antwortete er. Jeden Tag dasselbe.

„Hast du Hunger? Es gibt Rouladen mit Püree und Rotkraut. Ist schon fertig“, rief Maria und er ging ins Wohnzimmer, wo seine Frau gerade einen Korb Wäsche bügelte.

„Und wie!“, antwortete er und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der neben dem Esstisch stand.

„Was macht der neue Fall?“ Maria fügte eine weitere gebügelte Feinrippunterhose dem ordentlichen Stapel, der auf dem Tisch hinter ihr anwuchs, hinzu.

„Soll ich vielleicht schon mal den Tisch decken?“, wich Brauser aus.

„Sie war eine Sängerin am Opernhaus, stimmt‘s? Das muss ganz schön aufregend sein.“ Der Kommissar lugte in den Wäschekorb, in dem nur noch zwei Teile lagen. „Ich könnte doch schon decken?“

Maria sah ihn über den Rand ihrer Brille fragend an. „Was ist, darfst du nicht darüber reden?“

„Ach, ich hab einfach keine Lust auf dieses Thema. Was gab’s denn bei dir heute?“

„Ich hab mich heute mal wieder mit Johanna getroffen. Stell dir vor, dem Schwertfeger seine Neue spinnt total. Jetzt will sie es als Model versuchen.“ Maria lachte abschätzig, legte die letzte Unterhose auf den Stapel und zog den Stecker. „Sie mag ja jung sein und Dieter gibt ihr vielleicht das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, aber eigentlich ist sie nur dumm und billig.“

„Sagt das Johanna?“, fragte Brauser müde und ließ sich am Tisch nieder, während seine Frau für ihn aufdeckte.

„Ja, und …“

Brauser zog sich die Zeitung heran und blätterte im Fernsehprogramm. Auch auf dieses Gespräch hatte er keine Lust, obwohl er natürlich wusste, dass Johanna Recht hatte. Dieter machte sich mit dieser Frau nur lächerlich, aber das musste er selbst herausfinden. Er selbst war nicht die Art von Freund, der anderen gute Ratschläge gab.

„Kommt heute wieder deine Serie?“

„Ja. Warum?“ Maria hielt mit der Püreeschüssel kurz inne und sah ihn fragend an, aber ihr Mann nickte nur.

„Ach, nur so.“ Dann blätterte er weiter.

„Du, Bertl, stell dir vor, bei der Margarethe war heute ein Mann, der wollte die Fernseher im Haus überprüfen, um zu sehen, ob wir auch in Zukunft noch das Satellitenprogramm empfangen können. Der sagte, dass das jetzt gar nicht mehr selbstverständlich ist, auch wenn wir uns erst kürzlich eine neue Anlage gekauft hätten. Ist das nicht eine Schweinerei? Und die alten Leute wissen es nicht und denken ihr Fernseher ist kaputt.“

In ihrer Aufregung stellte sie die Platte mit den Rouladen ein wenig zu heftig auf den Tisch, sodass etwas Soße auf dem abwaschbaren Schutz über dem Tischtuch landete. Schnell lief sie in die Küche, um einen Lappen zu holen. „Und dann wollte der Mann der Frau Bachmeier eine neue Anlage verkaufen, damit sie nicht denkt, ihr Fernseher ist kaputt“, schlussfolgerte Brauser. Eine geniale Strategie, dachte er, darauf muss man erst einmal kommen.

„Wollte der doch gar nicht“, rief Maria aus der Küche. „Er hat ein bisschen rumgeschraubt und schon ging alles wieder einwandfrei.“ Sie wischte die Soße auf, legte den Lappen zur Seite und gab ihrem Mann zwei Rouladen auf den Teller, bevor sie ihm die Schüssel mit dem Püree hinhielt. „Und zum Glück hat sie ja auch für unsere Wohnung einen Schlüssel, so konnte sie den Techniker auch bei uns reinlassen.“

„Wo kam der Kerl denn her?“ Er legte eine Roulade zurück, denn er war sich nicht sicher, ob sein Appetit heute für zwei reichen würde.

„Ach, Bertl, du immer mit deinem Misstrauen. Er kam von der Stadt und es war alles in Ordnung, glaub mir!“ Maria schöpfte sich vom Rotkraut auf, wobei sie den Saft vorher ablaufen ließ.

„Hat er sich ausgewiesen?“

„Das weiß ich nicht. Aber sei doch froh, so kostet uns das alles nichts.“

Brauser stöhnte, denn nun war ihm der Appetit völlig vergangen. „Dann sag der Frau Bachmeier bitte, sie solle solche Leute nur noch in unsere Wohnung lassen, wenn du daheim bist. Nein, sag ihr, sie soll gar niemanden in unsere Wohnung lassen.“

„Aber dieses Gratisangebot galt doch nur heute, weil er ohnehin in der Nähe war, hat er zu Margarethe gesagt.“

Natürlich waren die Rouladen köstlich wie immer. Brauser sah mit einem liebevollen Blick zu Maria hinüber. Beim Kochen machte ihr keiner was vor, aber manchmal war sie einfach zu naiv. Vielleicht musste er in Zukunft nur besser auf sie aufpassen, dachte er, und ahnte nicht, wie schnell sich seine Befürchtung bewahrheiten sollte.

***

„Meinst du, er hat Recht?“

„Womit?“

„Womit wohl? Mit seiner Vermutung, dass Wallenstein nur zufällig in Passau gelandet ist.“ Auch nachdem Brauser längst zu Hause war saßen Franziska und Hannes noch immer an ihren Schreibtischen und brüteten über Brausers Vermutung. „Warum nicht? Immerhin haben wir nichts gefunden, was auf etwas anderes schließen lässt.“

„Jetzt stell dir das doch mal vor.“ Franziska hob die Hände, um ihre Geschichte zu untermauern. „Du fährst auf einen Rastplatz, um dir einen Kaffee zu holen. Und wenn du zurückkommst, dann stehen da ein paar Typen vor deinem Auto und zwingen dich einzusteigen, was du brav machst. Und natürlich machst du auch kein großes Aufheben, wenn du eine Spritze voller Luft in die Venen gepumpt bekommst.“ Sie ließ ihre Hände erschöpft auf die Tischkante fallen und sah Hannes abwartend an.

„Stimmt, es müsste in der Öffentlichkeit passiert sein, noch dazu an einem Freitag. Da sind die Autobahnen nämlich voll und die Rastplätze bestimmt auch.“

Hannes blätterte in der Akte Wallenstein, bis er das Gesuchte gefunden hatte. „Und außerdem hatte er laut Obduktionsbericht keinen Kaffee getrunken, sondern einen Chartogne-Taillet. Trinkst du so was am Rastplatz?“

„Ich weiß nicht, ob ich so was überhaupt schon mal getrunken habe.“ Franziska trommelte nervös mit ihren Fingern auf der Unterlage herum, so, als müsse sie über diese Tatsache lange nachdenken. „Ich glaube nicht, dass man sich von einem Unbekannten eine Spritze setzen lässt. Die war ja auch nicht klein. Eine tödliche Menge sind mindestens vierzig Milliliter.“

„Er war immerhin gefesselt.“

„Stimmt, obwohl er eine Waffe hatte und …“

„… er sich hätte wehren können, bevor er gefesselt wurde. Richtig.“ Hannes nickte zufrieden, sie waren sich einig. Weiter aber waren sie nicht.

„Schau doch mal in der Akte, ob es irgendwelche Quittungen gab, Toilettenbenutzung oder so.“

„Negativ. Und eigentlich hatten wir das alles auch schon mal.“

„Eben. Wir müssen davon ausgehen, dass Wallenstein einen Grund hatte, um nach Passau zu kommen, und dass er seine Mörder eventuell auch gekannt hat. Denn wenn es rein zufällig geschehen ist und die Täter längst über alle Berge sind, dann finden wir sie nie.“

„Warum so resigniert? Wir haben die Waffe, also lass uns einfach abwarten, was bei der Laboruntersuchung herauskommt. Vielleicht sind ja da Fingerabdrücke drauf.“ Abrupt unterbrach Hannes seine Ansprache, er hatte das Gefühl, Franziska höre ihm gar nicht zu.

„Ich sag dir was“, sie beugte sich weit nach vorn, um Hannes besser in die Augen sehen zu können, „das ist Brausers Fall, da soll er sich mal schön selbst seine Gedanken drüber machen. Unser Fall heißt Sophia Weberknecht, und mit der sind wir auch noch kein Stück weiter.“

Sie stand auf und suchte nach einem Müsliriegel in ihrer Tasche, gerne hätte sie auch Hannes einen spendiert, aber sie fand nur einen und ihr Magen knurrte. Nachdem sie ihn, ohne auf Hannes zu achten, aufgegessen hatte, nahm sie die Unterhaltung wieder auf.

„Wie denn auch?“ Franziska imitierte die alte Nowak, „sie war ja so ein nettes Mädchen!“

„Und sie konnte so toll Geige spielen!“ warf Hannes in hoher Fistelstimme ein.

„Ja, und zuverlässig war sie, und immer pünktlich am Bus!“ Das sollte Schaffroths Stimme sein.

„Nein, wir haben uns immer gut verstanden. Krach gab es nie. Wir sind Schauspieler, wir morden auf der Bühne, aber doch nicht in Wirklichkeit!“

„Ach, und: Bei ihrem Aussehen dachte ich ja, die Burschen würden bei ihr Schlange stehen.“ Auf einmal wurde Franziska ernst. „Haben sie aber nicht, und die, die kamen, kamen scheinbar heimlich, unauffällig, nachts.“

„Stimmt!“ Auch Hannes war wieder ernst. „Wie lichtscheues Gesindel.“

„Sie kamen in der Nacht, wie der Mann, der sie umgebracht hat, und ich bin mir sicher, es war ein Mann.“ Franziska stand erneut auf und suchte im Zimmer herum. „Hast du irgendwas zu essen? Ich verhungere gleich. Mir ist schon ganz schlecht!“

„Wir könnten Pizza bestellen.“

„Nein, das dauert ja auch wieder so lange. Ich denke, wir machen Schluss und knöpfen uns morgen die Theaterleute vor, bis sie uns sagen, was sie wirklich über Sophia Weberknecht wissen. Einzeln sind die bestimmt nicht mehr so abgeklärt, meinst du nicht?“

„Ich weiß nicht, wir können es nur versuchen.“

***

Franz Albert Mager war seit einem halben Jahr Witwer. Seine Frau hatte sich leise davon gemacht, unscheinbar, so wie sie es in den siebenundvierzig Jahren ihrer Ehe immer gehalten hatte. Die Wohnung sauber, zu jedermann höflich und nur nicht klagen. „Mit Gottes Hilfe wird es schon wieder“, hatte sie gesagt, und vielleicht war er wirklich gnädig zu ihr gewesen, auf ihrem letzten Weg. Zurück blieb ein Ehemann, der es nicht glauben wollte und mit der neuen, so nie geplanten Situation nicht umgehen konnte.

Unschlüssig sah sich Mager an diesem Morgen in der Wohnung um, bis sein Dackel Wastl auf ihn zugelaufen kam und ihm signalisierte, dass es Zeit war, nach draußen zu gehen. Doch zunächst musste er noch auf seine Tochter Ilona warten. Die kam jeden Morgen bei ihm vorbei, fragte, was sie einkaufen sollte und wusste es am Ende doch besser. Sie kümmerte sich um die Wäsche und das Essen und plauderte ein wenig unbeholfen mit ihm, wie er sehr wohl spürte. Sie hatte eigentlich keine Zeit, aber sie nahm sie sich, und das rechnete er ihr hoch an.

Als es klingelte, sagte er zu Wastl: „Jetzt hat das Mädel wieder unseren Schlüssel vergessen“, schüttelte gutmütig den Kopf und lief, ein kleines Lächeln die Mundwinkel umspielend, zur Wohnungstür. Wastl folgte ihm und bellte aufgeregt. „Psst, Wastl, du schreckst ja das ganze Haus auf!“

Vor der Tür stand Hauptkommissar Berthold Brauser und hielt ihm seine Dienstmarke entgegen. „Guten Morgen, Herr Mager, ich hoffe, ich störe nicht?“

Mager schüttelte den Kopf und bat den nur wenige Jahre jüngeren Kommissar herein.

Der Witwer wohnte in einer ähnlichen Siedlung wie die Brausers. Im Treppenhaus standen die gleichen ärmlichen Topfpflanzen, nur dass hier auch noch unzählige Schuhpaare vor den einzelnen Wohnungstüren herumlagen. Die Wohnung dagegen war aufgeräumt, fast ein wenig leer.

„Ich möchte Sie bitten, mir den Fundort der Waffe zu zeigen“, setzte Brauser an und warf einen Blick in die Küche. Auf der Anrichte standen ein Kaffeebecher und ein Brettchen mit einem Messer und einem Löffel darauf. „Ja, ja.“ antwortete Mager ein wenig abwesend und sah zur Tür. Brauser missverstand diesen Blick.

„Wenn Sie sich etwas Warmes anziehen wollen – ich hab das Auto gleich vor der Tür geparkt.“

„Ja, wissen Sie, ich muss aber noch auf meine Tochter warten.“ Der Kommissar blickte ihn fragend an und Mager fügte hinzu: „Sie hilft mir im Haushalt.“

 

„Wann kommt sie denn?“

Er sah auf die Uhr. „Eigentlich müsste sie schon da sein, ich dachte ja …“ Anstatt seinen Satz zu beenden, holte er einen Block und einen kleinen Bleistift aus der Schublade und schrieb mit der schönen, lange vernachlässigten Schreibschrift eines Drittklässlers:

Ich musste weg.

Mach alles so, wie du denkst

du weißt ja am besten, was ich brauche.

Dein Vater

Brauser hatte ihm über die Schulter geschaut, aber nichts verstanden. Doch Mager nahm Jacke und Hut, zog die Schuhe an und griff nach der Leine von Wastl.

„Wir könnten zu Fuß gehen, es ist nicht weit und der Hund muss auch raus.“

Brauser nickte und Mager sah ihn an, als wären sie alte Bekannte. Zwar war das Wetter nicht besonders einladend, aber bei einem Hund durfte man wohl nicht empfindlich sein. „Wo müssen wir denn jetzt hin?“, fragte der Kommissar, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und schob fröstelnd die Hände in die Taschen. Doch der Nebel kroch klamm und erbarmungslos seine Wirbelsäule entlang. Die Sonne hatte am Tag zuvor wirklich nur ein Gastspiel gegeben.

„Äh, wie meinen Sie das?“

„Sie wollten mir den Platz zeigen, wo Sie die Waffe gefunden haben.“

„Ja, natürlich, hier entlang bitte“, rief Mager munter und ging bereits los, ohne auf seinen Begleiter zu warten. Der Dackel zog an der Leine und die beiden Männer folgten ihm.

„Immer dem Hund nach, der kennt den Weg.“ Seit sie die Wohnung verlassen hatten schien sich die Laune des Rentners aufzuhellen. Wahrscheinlich liebte er dieses Schmuddelwetter, dachte Brauser, der denselben Weg bereits kurz zuvor mit dem Auto entlanggefahren war. Doch von dort aus waren ihm die langweiligen Wohnblocks mit den immer gleichen Garagen davor und den Mülltonnen an der Straße nicht so endlos vorgekommen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit bogen Herr und Hund in einen gepflasterten Weg ein, der an einigen Garagen vorbei führte. An einer Seite wuchsen schmucklose Sträucher, die sicher ihrer Robustheit wegen ausgesucht worden waren, und auf der anderen gab es einen kleinen Zaun, der wohl was auch immer aufhalten sollte. Brauser betrachtete den Dackel. Vielleicht benötigte er, wenn er erst einmal in Pension war, auch einen kleinen vierbeinigen Freund, um mit ihm Gassi zu gehen, überlegte er kurz, das war bestimmt gesund.

„Ist es noch weit?“ Brauser hörte sich an wie ein quengelndes Kind.

„Da hinten am Wald.“ Mager zeigte mit dem Finger die Richtung an, aber die gesuchte Stelle lag im Nebel verborgen. Nicht weit, äffte Brauser den Rentner in Gedanken nach, beschwerte sich aber nicht.

„Wie oft muss so ein Tier am Tag eigentlich raus?“

Der alte Mann war stehen geblieben und Brauser bückte sich, um das Fell des Hundes zu streicheln.

„Zwei- bis dreimal am Tag. Am liebsten ist mir die Abendrunde vor dem Schlafengehen, da fühl ich mich nicht so allein.“ Brauser nickte, obwohl er nichts verstand. „Meine Frau ist immer am Nachmittag gegangen, aber jetzt sind wir zwei allein und müssen zusammenhalten, nicht wahr, Wastl?“ Er zog an der Leine und ging energisch weiter.

„Und da gehen Sie immer diese Strecke?“ Inzwischen waren die beiden Männer und der Hund auf einem Wiesenpfad, der Wald war in greifbarer Nähe.

„Abends immer. Sie führt an der Trinkhalle vorbei, da genehmige ich mir dann ein Bierchen und Wastl bekommt einen Keks. Das ist zwar nicht gesund, aber in unserem Alter spielt das doch keine Rolle mehr.“

„Und wie war das nun vorgestern?“

„Ja, da hab ich den Rudi getroffen. Der macht das auch so, nur ohne Hund. Und dann wurde es eben ein Bierchen mehr. Aber manchmal ist der Kummer einfach zu groß.“

Brauser nickte. Auf diesem Gebiet kannte er sich sehr gut aus.

„Anschließend bin ich dann auch ganz schnell nach Hause, obwohl …“

„Und dabei haben Sie die Waffe gefunden?“, unterbrach der Brauser seine Ausführungen.

„Nein. Das Bier hat auf einmal so gedrückt und da bin ich dann eben ein Stückchen in den Wald rein und …“

„Da haben Sie die Waffe gefunden.“

„Nicht gleich, nein. Ich hab mich an einen Baum gestellt. Das dauert ja bei mir immer schon ein bisschen, bei Ihnen auch?“

Brauser ignorierte die Frage.

„Und als ich gerade so schön dabei war, da dachte ich mir , Hört sich aber komisch an, wie du heute bieselst.“

„Und?“

„Na ja, bei dem Nebel sieht man ja nicht so gut, also habe ich mich gebückt und da lag dann die Waffe. Ich hab natürlich sofort aufgehört, ist mir ja auch direkt vergangen, obwohl es wirklich sehr gut ging.“ Er sah seinen Begleiter an, aber der nickte nur. „Meine Tochter, die Ilona, hat mir eine Taschenlampe geschenkt, sie sagt immer: Papa, wenn du mit dem Wastl immer so spät spazieren gehst, wirst du dich noch mal verlaufen, und dann zwinkert sie, weil ich glaube, sie weiß, dass ich nicht nur spazieren gehe.“ Der Witwer verstummte.

„Und?“, fragte Brauser, der seine Ungeduld nicht mehr länger verbergen konnte.

„Jedenfalls hab ich die Taschenlampe herausgeholt und mir die Pistole erst einmal genau angesehen und dann dachte ich mir …“

„Den Revolver.“

„Revolver?“

„Es war ein Revolver.“

„Ach so, ja. Ich kenn mich da nicht so aus. Jedenfalls dachte ich mir, Franz Albert, im Fernsehen nehmen sie so etwas nie in die Hand. Da hab ich dann mein Taschentuch herausgeholt und damit das Ding aufgehoben. War doch richtig so?“ Sie hatten den Waldrand erreicht und Mager war stehen geblieben, um die einzelnen Bäume zu vergleichen.

„Ja. Das war richtig so. Wissen Sie denn noch, wo genau die Waffe lag?“

„Sicher bin ich mir natürlich nicht. Aber ich glaube, es war dort hinten!“ Der Rentner nahm den Finger zuhilfe, um dem Kommissar die Richtung zu zeigen. Er deutete auf eine Baumgruppe, nur wenige Schritte vom Weg entfernt, eine zugegeben geeignete Stelle, wenn man einen Platz brauchte, um sich zu erleichtern. Gerade wollte der Rentner darauf losstapfen, als Brauser ihn am Ärmel packte und zurückhielt.

Halt, halt! Da schicken wir jetzt erst einmal die Spurensicherung hin. Vielleicht finden die ja noch etwas Brauchbares.“ Er fischte das Handy aus seiner Tasche und beschrieb den Kollegen den Weg zum Fundort.

Dann fiel ihm doch noch etwas ein. „Sagen Sie, war der Rudi eigentlich bei Ihnen, als Sie die Waffe gefunden haben?“ „Der Rudi? Nein, der wohnt doch drüben in Kohlbruck.“

„Ah ja! Haben Sie eigentlich eine Vorstellung, wer die dort hingeworfen haben könnte?“

„Keine Ahnung, ich kenne auch niemanden, dem eine Waffe gehört.“

„Und Sie sind wirklich jeden Tag um diese Zeit hier unterwegs?“

„Ja, immer um die gleiche Zeit.“

„Können Sie sich noch an den 17. August erinnern? Das war auch ein Freitag.“

„Das ist lange her.“

„Stimmt.“

„Da müsste ich nachdenken.“

„Tun Sie das. Ach, eines noch, die Spurensicherung wird zum Vergleich die Schuhe brauchen, die Sie vorgestern getragen haben.“

„Ja, aber …“ Mager sah zu seinen Füßen.

„Sie sind jetzt ein wichtiger Zeuge“, betonte Brauser und bemerkte, wie der alte Mann sich aufrichtete, „und sie bekommen sie selbstverständlich wieder zurück.“

***