Marionette des Teufels

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„Richtig.“ Brauser nickte.

„Du solltest dich also doch mehr auf die Drogenszene konzentrieren.“

„Welche Drogenszene? Passau ist eine saubere Stadt.“ Brauser grinste über seine eigene Ironie. „Aber mal im Ernst, soll ich jetzt an allen Schulen anfangen zu ermitteln? Von jedem Jugendlichen ab zwölf Fingerabdrücke nehmen lassen?“

„Nein, natürlich nicht“, beruhigte ihn Schwertfeger. „Aber was ist mit dem Parkplatz?“

„Wird überwacht.“

„Und?“

„Nichts! Wir bräuchten mehr Leute, damit wir auch das Umfeld beschatten können, aber bisher sind nur stichpunktartige Überwachungen möglich und vermutlich kommen die Täter auch nicht an den Tatort zurück.“

„Das ist ja ohnehin nur ein dummer Spruch“, bemerkte Schwertfeger. „Das heißt also, wir können nur abwarten?“ „Ich hatte gehofft, dir fällt noch was Besseres ein!“ Brauser grinste. „Eine Sache hab ich noch, ich weiß nur nicht, wie uns das weiterhelfen soll. An Wallensteins Penis wurde Capsaicin gefunden.“ Der Kommissar lächelte zufrieden, denn er war sich sicher, sein Freund hatte keine Ahnung, welches Teufelszeug sich hinter dieser Bezeichnung verbarg.

„Was bitte ist Capsaicin?“

„Chili! Scharfe Chilifrüchte.“

„Du meinst, er hat sich seinen …“, Schwertfeger kratzte sich am Kinn, „mit Chilischoten eingerieben?“

„Na ja, vielleicht hat er ja auch nur beim Essen gekleckert.“ Der Polizist lachte ironisch und nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Auf jeden Fall war das eine heiße Sache, zumindest wurde das Gewebe an dieser Stelle ordentlich durchblutet, um die vermeintliche Wärme abzutransportieren, was ja vielleicht der eigentliche Zweck des Ganzen war.“

„Ein Aphrodisiakum also?“

„Ich weiß es nicht. Wenn das Schärfeempfinden nachlässt, wirkt es schmerzlindernd und dämpfend, und es gibt wohl keine Studien darüber, wie lange die Wirkung anhält. Aber vielleicht hatte er ja Erfahrung damit.“

„Also wirklich Berthold, man lernt nie aus!“

„Willst du es probieren?“

„Bist du verrückt? Nein! Aber ich weiß jetzt immerhin, dass du nicht zu krank bist, um zu ermitteln. Also keine weiteren Ausreden! Mach dich an die Arbeit, ich verlasse mich auf dich.“

***

Am nächsten Morgen lag wieder eine zähe, dicke Nebelsuppe über der Stadt. Es war nasskalt und ungemütlich und wer nicht hinausgehen musste, blieb im Haus und schaltete möglichst viele Lichter an, um sich wenigstens die Illusion von Sonnenschein zu gönnen.

Franziska trug an diesem Morgen Stiefel, Tweedrock und einen Wickelpulli aus Mohair unter ihrem Mantel. Sie parkte ihr Auto möglichst nah an der Hauswand und ging dann zügig, die Arme vor dem Körper verschränkt, um die Kälte abzuwehren, die wenigen Stufen bis zum Dienstgebäude hinauf. Für gewöhnlich sehnte sie sich bei so einem Wetter nach ihrem gemütlichen Lesesofa im Wohnzimmer, einem spannenden Buch und einer großen Tasse Tee.

Doch an diesem Tag wartete ein neuer Fall auf sie, ein interessanter Fall, ihre große Chance, und damit kaum die richtige Zeit, um ans Faulenzen zu denken, zumal der Chef gar nicht mehr richtig bei der Sache war.

Den gestrigen Abend hatte sie gemeinsam mit Hannes damit zugebracht von Haustür zu Haustür zu gehen und zu fragen, ob jemand etwas gesehen hatte. Etwas Ungewöhnliches. Jemanden, der nicht in diese Gegend passte. Einen Mann, wie ihn Agnes Neumüller und Paula Nowak beobachtet hatten. Denn vielleicht waren der Mann auf der nächtlichen Treppe und der, den die alte Nowak am Nachmittag der Tat vor dem Haus gesehen hatte, ein und derselbe.

Die Definitionen, was in einer Gegend verdächtig war, gingen stark auseinander. Ein alter Mann hatte eine Gruppe Jugendlicher die Straße entlangziehen und mit einer Bierdose kicken sehen und war sich sicher, dass es sich bei ihnen um die Täter handeln musste. Eine Frau hatte eine schwarze Gestalt mit Kapuze und Sonnenbrille gesehen und schloss sich jetzt aus Angst hermetisch ein. Und einer wollte sogar den Chef gesehen haben, mit langem Mantel und Pudelmütze. Das Gesicht hatte der Zeuge nicht erkennen können, aber er hatte Brauser am Mittag ins Auto steigen sehen und meinte, der Täter habe große Ähnlichkeit mit dem Hauptkommissar gehabt. Franziska hatte es zur Kenntnis genommen, aber nicht einmal in ihr grünes Notizbuch geschrieben, so absurd war diese vermeintliche Beobachtung. Trotzdem, so überlegte sie weiter, gab es keine Immunität mehr, selbst einem Polizisten traute man inzwischen alles zu. Laut Statistik nahmen die Verbrechen immer mehr ab und die Aufklärungsrate stieg. Doch die Bürger fürchteten sich, was vielleicht auch an den stets sensationsheischenden Berichten der Journalisten lag. Gewalt, egal ob sie auf der Straße oder in Familien auftrat, wurde einfach nicht mehr toleriert. Wie immer benutzte Franziska die rechte Schulter, um damit die Glastür, die zu ihrem Büro führte, aufzudrücken. Vielleicht würde ein wenig Öl ausreichen, aber niemand hatte Zeit, um sich darum zu kümmern, und so wurde es immer zu einem Kraftakt, sie zu öffnen.

Im Vorraum saß Ramona an ihrem Schreibtisch und war in eine Liste vertieft.

„Na, was brütest du denn Schönes aus?“

„Ach, das ist nur die Liste, wer alles schon bezahlt hat.“

„Bezahlt? Wofür?“

„Für das Abschiedsgeschenk für den Chef, du weißt schon.“

„Ach ja, richtig, seine Angel. Du sag mal, kommt er dir auch so komisch vor in letzter Zeit? Ich glaube, er will gar nicht gehen.“

Ramona beugte sich so weit über den Schreibtisch zu ihr nach vorn, dass Franziska gezwungen war, in ihren Ausschnitt zu schauen. „Heute Morgen hat er gesagt, er sei krank. Ich kenne ihn jetzt seit fast fünfzehn Jahren und noch nie hat er darüber geklagt, krank zu sein.“

„Eben, das meine ich ja.“ Auch Franziska beugte sich nun näher zu Ramona hinunter. „Vielleicht ist es einfach das Alter. Er kann nicht mehr so wie früher und das will er nicht wahrhaben.“ Die Frauen hatten einen verschwörerischen Flüsterton angeschlagen.

„Dabei geht es ihm doch gut, er hat keine Sorgen, Aussicht auf eine schöne Rente und seine Frau ist doch eine ganz Liebe.“

***

Auch als sich im Westen Politiker und Wirtschaftsbosse noch nicht so viele Gedanken über Krippenplätze und Erziehungszeiten gemacht hatten, musste Ramona Maier als Sekretärin ihre Frau stehen. Der Vater ihrer beiden inzwischen vierzehn- und fünfzehnjährigen Töchter hatte sich so erfolgreich aus dem Staub gemacht, dass auch die hartnäckigste Behörde irgendwann aufgab und sie allein für den Unterhalt der Kleinfamilie verantwortlich war. Eine Belastung, die mit dem Alter und den Ansprüchen der Mädchen wuchs. Aus ihrer eigenen Jugend wusste sie nur zu genau, dass jeder, der nicht mithalten konnte, auch nicht dazugehörte. Doch sie wollte, dass ihre Mädchen dazugehören. Dafür arbeitete sie.

„Was machen deine beiden Mädels?“, fragte Franziska, weil sie wusste, dass es Ramona gut tat, wenn sie ein bisschen über ihre Sorgen jammern konnte.

„Na ja, mit zwei pubertierenden Töchtern ist es halt nicht immer einfach“, stöhnte sie und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Sie wollte nicht klagen. Sie wollte einfach Verständnis.

„Waren wir nicht alle mal so?“

„Ich weiß nicht. Ich will ja, dass sie es besser haben, als ich damals, aber“, sie zuckte hilflos mit den Schultern, „ständig brauchen sie Geld und immer muss es das neueste Handy sein. Mir reicht doch auch ein ganz einfaches. Hauptsache, es ruft mal jemand an!“

Automatisch zog Franziska ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick drauf. Keine neuen Nachrichten. Ramona hatte recht: Hauptsache es melden sich nicht immer nur die Kollegen.

„Sag mal, ist Hannes schon da?“

„Ja, er sitzt in eurem Büro.“

„Und weißt du, wann die Besprechung ist?“

„Die müsste jeden Moment beginnen.“

Als Franziska und Hannes kurz darauf gemeinsam den Konferenzraum betraten, saßen alle, die zum Team Weberknecht gehörten, bereits an den u-förmig gestellten Tischen und sahen sie erwartungsvoll an. Oberstaatsanwalt Schwertfeger hatte sich zu seinem Freund Brauser gesetzt und nippte, sichtlich lustlos, an einem Becher mit dünnem Kaffee. Sein Gesichtsausdruck ließ ahnen, dass der in der Staatsanwaltschaft schmackhafter war. Franziska trug eine Akte mit allem, was sie bereits recherchiert hatte unter dem Arm und begann gleich darauf, Fotos der toten und der lebenden Sophia Weberknecht an die Wand zu pinnen. Während sie die Bilder akkurat aufhängte, berichtete sie für alle, die nicht am Tatort waren, aus dem Leben des Opfers.

„Sophia Weberknecht wurde zweiunddreißig Jahre alt. Sie stammt aus der Senf-Dynastie Weberknecht in Regensburg.“ Ein zustimmendes Gemurmel ging durch den Raum und Franziska lächelte nachsichtig, bis sie fortfahren konnte.

„Okay. Sie war seit drei Jahren als Sängerin am Fürstbischöflichem Opernhaus zu Passau engagiert und lebte seither in der Postackerstraße 7. Wie es aussieht, allein.“

Die Kommissarin blickte kurz in die Runde, ob jemand einen Einwand hatte, und fuhr dann fort. „Nach dem bisherigen Bericht wurde Sophia irgendwann am Mittwochabend in ihrem Wohnzimmer mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen, anschließend ins Schlafzimmer gebracht und aufs Bett gelegt. Sie war nackt, als die alte Nachbarin Paula Nowak sie fand. Das Türschloss war noch intakt, und da sich in der Wohnung durchaus wertvolle Gegenstände befanden, kann wohl ein Raubmord ausgeschlossen werden.“

„Es sei denn, jemand hatte es auf etwas Bestimmtes abgesehen. Auf etwas, das im ersten Moment niemandem fehlt“, warf einer der Ermittler ein.

„Wie auch immer, sie muss von dem tödlichen Schlag überrascht worden sein, zumindest fanden wir keine Hinweise dafür, dass sie sich gewehrt hat. Näheres wird aber erst die Obduktion ergeben. Aus diesen Umständen schließen wir, dass sie ihren Mörder kannte. Laut einer Zeugin“, Franziska sah kurz zu Hannes, der Agnes Neumüller befragt hatte, „bekam sie immer wieder nächtlichen Besuch von einem Mann, der angeblich einen Schlüssel zu Haus und Wohnung hatte.“ Ihr Kollege nickte ihr zu.

 

„Eine Zeugin sah am Nachmittag einen Mann am Haus. Wir wissen nicht, ob es nicht derselbe war, der am Abend wiederkam oder vielleicht noch immer in der Wohnung war und so Gelegenheit zur Tat hatte. Vielleicht war er der nächtliche Besucher. Leider haben wir bisher noch keine Beschreibung.“ Franziska warf einen Blick in ihr grünes Notizbuch und schmunzelte, bevor sie vorlas. „Aber er soll gut ausgesehen haben!“

„Was bitte verstehst du unter gut aussehen?“ Der für die Ermittlungsarbeit hinzugezogene Kollege Obermüller war ein großer Kerl, breit wie ein Schrank, mit einem nicht zu übersehenden Bauchansatz, der durch zu viele Döner Kebabs während des Dienstes kam. Seine mittelblonden Haare trug er kurz, das Gesicht rasiert. Er war ein Mann der Tat, legte sich die Vorschriften gern selbst aus, leistete jedoch stets gute Arbeit.

Franziska sah ihn kurz an. Für Mitte vierzig hatte er sich sicher gut gehalten, aber gut aussehend fand sie ihn eigentlich nicht. Sympathisch ja, aber nicht schön.

„Schwer zu sagen. Vor allem weiß ich nicht, was Paula Nowak darunter versteht. Aber ich würde sie heute gern abholen lassen und vielleicht kommen wir mit Beispielen ihrer Beschreibung etwas näher. Sie ist übrigens schon weit in den Achtzigern und nicht mehr so ganz fit.“

„Soll ich das übernehmen?“, fragte Kollege Gruber, der eine Schwäche für alte Damen hatte.

„Ich glaube, es wäre besser, wenn Obermüller das macht. Frau Nowak vertritt nämlich die Meinung, dass alle Männer mit langen Haaren schwul sind.“ Vergnügt zwinkerte sie Obermüller zu.

„Ja sag mal, was für eine Art von Gesprächen führst du denn mit deinen Zeugen?“ Ludwig Gruber strich sich in einer oft wiederholten Geste die dunkelbraunen Haare hinter die Ohren. Seine lange Mähne war sein Markenzeichen. Auch er war groß, aber schlanker als Obermüller, mit dem Dreitagebart, den auch der beste Rasierer kaum im Zaum halten konnte, und der olivbraunen Haut hatte er viel von einem Südländer oder eben einem Indianer. Ob das der Grund für seinen Spitznamen war oder die Tatsache, dass er an manchen Wochenenden sein Tipi aufbaute und darin campierte, wusste keiner seiner Kollegen so genau zu sagen. Hinter seinem Rücken unterhielten sie sich jedenfalls gern darüber, dass es für einen Mann mit fast fünfzig schon ein bisschen lächerlich sei, Indianer zu spielen. Noch dazu, wo er außer einer Frau auch schon erwachsene Zwillingstöchter hatte, die ein wenig jünger als Franziska waren.

„Weiter!“, forderte Schwertfeger, den in diesem heiteren Moment alle vergessen hatten, nicht unfreundlich und mahnte, an den Fall zu denken.

Ertappt zupfte Franziska an ihrem Pulli herum und fuhr dann fort. „Zum Täterprofil würde ich sagen, dass wir es mit einem großen, kräftig gebauten, männlichen Täter zu tun haben. Einem, der sich entweder sehr gut auskannte oder so unauffällig war, dass er von niemandem wahrgenommen wurde. Da wir am Tatort kein Notizbuch und kein Handy mit Telefonnummern gefunden haben, sollten wir uns, neben der Befragung der Nachbarn, vor allem auf das Stadttheater konzentrieren. Frau Weberknecht sang viele Titelrollen und war, den Besprechungen nach, beim Publikum sehr beliebt. Doch schreiben die Zeitungen das eine und die Kollegen sagen vielleicht was ganz anderes.“

„Der liebe Kollegentratsch!“ Gruber grinste in die Runde, fügte aber nichts mehr hinzu.

„Vielleicht ist er in diesem Fall ja von Vorteil und bringt uns ein bisschen weiter“, gab Franziska zu bedenken, die sofort wusste, was ihr Kollege meinte. „Ich denke nämlich, dass die Frau entweder keine Freunde hatte und man daher über sie sprach, oder dass gerade einer dieser Freunde der Täter war und aus diesem Grund das Handy mitgenommen hat, weil er fürchtete, dort gespeichert zu sein.“ Keiner wollte ihrer These zu diesem Zeitpunkt widersprechen.

„Was wissen wir über die Art der Tötung?“, fragte der Staatsanwalt nach einem Blick auf die Uhr.

„Der Notarzt ging davon aus, dass Frau Weberknecht mit einem flachen Gegenstand einen tödlichen Schlag auf den Hinterkopf bekommen hat. Näheres wird uns hoffentlich bald die Rechtsmedizin in München mitteilen.“

„Sie fahren hin?“

„Ja.“ Sie nickte zur Bekräftigung.

„Wie sieht es mit Spuren am Tatort aus?“ Schwertfeger sah jetzt Annemarie Michl von der Kriminaltechnik an, die die Ermittlungen vor Ort geleitet hatte.

„Nichts. Keine verwertbaren Spuren. Der Täter hatte entweder Handschuhe getragen oder er wusste genau, wie man die Spuren effektiv beseitigt. Die Tatwaffe fehlt ebenfalls.“ Sie warf einen Blick auf ihr Notizbuch, das geschlossen vor ihr lag, und fuhr fort. „Der ganze Tatort war picobello sauber. Wahrscheinlich war sie gerade mit ihrem Herbstputz fertig, als sie getötet wurde. Vielleicht hatte sie auch eine Bakterienphobie. In ihrem Badezimmer und im Nachttisch haben wir jede Menge Vitamin C gefunden und einige Schachteln Cortison.“

„Ich hab mal gelesen, dass Sänger damit ihre Stimme dopen“, warf Hannes ein und Franziska sah ihn verwundert an, nickte dann aber mechanisch.

„Gut. Fürs Erste ist es nicht viel, aber es sind Ansätze da und denen gehen Sie bitte nach. Ich muss sicher nicht extra betonen, welche Priorität dieser Fall hat? Bei einer gesellschaftlichen Bekanntheit wie Sophia Weberknecht haben wir ganz schnell die Medien im Nacken und was das heißt, wissen Sie so gut wie ich.“

Schwertfeger nickte Brauser aufmunternd zu und ging nach einem kurzen Gruß Richtung Tür, dort drehte er sich noch einmal um. „Was ist eigentlich mit den Eltern?“

Alle Augen richteten sich auf Brauser, während es im Raum ganz still wurde. Und tatsächlich bot er sich an, nach Regensburg zu fahren, um mit den Eltern über den Tod ihres einzigen Kindes zu sprechen. Keine begehrte Aufgabe, aber vielleicht wollte er seinem Mädchen wenigstens die unangenehmen Dinge abnehmen, bevor sie lernen musste, ohne ihn zurechtzukommen. Als er gemeinsam mit Schwertfeger zu seinem Wagen ging, spielte ein kleines Lächeln um seinen Mund.

***

Der Mann, der an diesem Morgen allein an dem schmuddeligen Tisch saß und seinen Blick nicht von der Zeitung wenden konnte, mochte Mitte vierzig sein. So genau ließ sich das bei ihm nicht sagen, denn sein Gesicht war gezeichnet von den Spuren eines unsteten Lebens, das von einem üblen Charakter getrieben worden war.

Im Laufe der letzten Jahre hatte er viele Namen getragen, einige länger, manche auch nur für wenige Stunden. Er war ein Meister im Tarnen und Täuschen und am Ende hatte stets er den anderen die Maske vom Gesicht gerissen. Inzwischen trug er teure Jeans und ein Hemd von Armani. Früher war das anders gewesen, aber diese Zeiten lagen lange hinter ihm. Seine Schuhe waren Maßarbeit aus feinstem Leder und noch kaum getragen. Dass er sich das alles leisten konnte, hatte nicht unbedingt mit seinem Arbeitseifer zu tun. Im Grunde war er nur skrupelloser als andere und das schlug sich eben auf seiner Habenseite nieder.

Der Bericht über die tote Sopranistin war das erste, was ihm seit langer Zeit wirklich nahe gegangen war und das machte ihn vielleicht noch wütender als ihr Tod. Seit drei Jahren hatte sie für ihn in den himmlischsten Tönen jubiliert, egal, was alle anderen behaupteten, egal, was die Zeitungen berichteten, sie war sein Engel gewesen. Langsam ließ er seinen Kopf auf das Schwarz-Weiß-Foto sinken und versuchte sich an ihren erregenden Duft zu erinnern. Vor zwei Tagen noch hatte er sie gesehen, hatte sie umfangen, ihre zarte Taille unter dem Stoff ihres Kleides gespürt und voller Genugtuung erlebt, wie sie immer nachgiebiger wurde, immer gieriger, wie sie zu allem bereit war. Wie konnte sie jetzt tot sein? Sie, die immer so voller Leben war! Auf dem Foto lag sie friedlich auf ihrem Bett, es sah alles so unschuldig aus. Wenn nicht all diese Strahler sie beleuchten würden und die vielen geschäftigen Menschen um sie herum so unpersönlich wirkten.

„Am späten Vormittag des gestrigen Tages wurde die beliebte Sopranistin Sophia W. tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Polizei geht von Mord aus, konnte bis jetzt aber noch keinen Hinweis auf einen möglichen Täter ermitteln.“ Seine Stimme war voller Sarkasmus, als er die Sätze geradezu aus sich heraus spie. Immer wieder, immer lauter, bis er sie schrie.

Voller Wut fegte er die Zeitung vom Tisch. Wer immer das geschrieben hatte, hatte sie nicht gekannt, nichts von ihrem wirklichen Leben gewusst. Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war ein kräftiger Schlag, denn seine Faust schien aus Stahl zu sein. Wehe dem, der sie zu spüren bekam. Nur langsam beruhigte er sich wieder. Er und Sophia waren ein ausgesprochen erfolgreiches Team gewesen. Gemeinsam hatten sie jede Inszenierung mit Erfolg gekrönt. Sie hätten alles erreichen können! Er lachte laut bei dem Gedanken an ihre gemeinsamen Spielchen. Doch jetzt sollte das alles wirklich vorbei sein?

Aber höchstens für sie!

Er dagegen musste weitermachen, so als wäre nichts geschehen. Und er musste wissen, wem er die Schuld zuschieben konnte und wem seine Rache gelten würde. Aber zunächst musste er mehr erfahren, mehr, als die Zeitungen schrieben. Die Devise seines Erfolges war: Wissen ist Macht, das durfte man nie außer Acht lassen!

Auf dem Boden neben dem alten Tisch standen zwei Flaschen Bier, die irgendjemand dort hingestellt und vergessen hatte. Aber Bier mochte er seit damals nicht mehr, davon hatte er in seinem Leben schon zu viel getrunken. Wenn, dann half ihm nur etwas Härteres, ein Schnaps vielleicht. Als er aufstand, fiel sein Blick auf den blauen Arbeitskittel und eine Schiebermütze in der Ecke. Dinge, die er im Gefängnis getragen hatte, damals, bevor er sich schwor, dieses armselige Leben für immer hinter sich zu lassen. Er hatte sie zur Erinnerung mitgehen lassen. Als Mahnung, sagte er sich, während er zum Schrank ging und sich einen doppelten Schnaps einschenkte. Doch bevor er das Glas ansetzen konnte, überkam ihn ein Gedanke, der sehr schnell eine sehr konkrete Form annahm. Er stellte das Glas zur Seite, nahm den Kittel und probierte ihn an. Ein Knopf hing lose an einigen Fäden. Knöpfe annähen war nicht sein Ding, aber vielleicht würde seine Verkleidung dadurch ja nur noch glaubhafter sein? Und dann hob er doch das Glas und trank es in einem Zug aus. „Für Sophia! Meinen Engel!“, rief er. Als er ausgetrunken hatte, warf er das Glas gegen die Wand. Es war ein Ausdruck seines Zornes, es war ein Vorgeschmack seiner fürchterlichen Rache, die keine Gnade kennen würde. Denn wer sich ihm in den Weg stellte, der musste auf alles gefasst sein!

***