Marionette des Teufels

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Gleißend helles, fast schon obszönes Scheinwerferlicht leuchtete den Raum bis in den letzten Winkel aus und offenbarte dem Betrachter seine Geheimnisse. Bei einem solchen Licht ließ sich nichts verbergen, nichts beschönigen. Die weißen Wände bekamen durch das Schattenspiel tiefe Furchen, die hellen Holzmöbel ein Eigenleben und nur die junge Frau auf dem Bett, mit den edlen, von Rüschen umsäumten Damastbezügen, lag in einer stoischen Ruhe da, so als ginge sie das alles nichts an. Was im Grunde ja auch stimmte.

Denn von nun an hatten andere das Sagen, wenn es darum ging, was mit ihr und ihrem Körper, der ihr immer so wichtig gewesen war, geschehen sollte.

Männer wie Hauptkommissar Berthold Brauser, der gerade vor ihrem Bett stand und kaum glauben mochte, was er im Spiegel sah.

Eigentlich machte sich Brauser nicht viel aus seinem Äußeren, zumindest in den letzten Jahren nichtmehr, und er wollte auch jetzt, so kurz vor seiner Pensionierung, nicht daran denken. Aber ignorieren konnte er seinen heutigen Anblick eben auch nicht: Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, neben den Mundwinkeln hatten sich tiefe Falten eingegraben und seine ganze Haltung drückte eine viel zu große Betroffenheit aus. Dabei war er ein großer stattlicher Mann. Ein bisschen übergewichtig vielleicht, aber nicht dick. Die Haare schon grau, aber durchaus noch voll. Ein Mann in den besten Jahren, wie er bis vor kurzem noch von sich behauptet hatte.

Der Hauptkommissar löste den Blick von seinem eigenen Spiegelbild und beugte sich noch tiefer über die junge Frau. Sie war nackt und wunderschön und er konnte einfach nicht verstehen, wie so etwas passieren konnte.

Dass sie tot war, daran hatte er keinen Zweifel. Zu vielen toten Menschen hatte er in seiner langen Dienstzeit schon in die leeren Augen geblickt. Auch wenn diese selten von so langen schwarzen Wimpern und einer so perfekt gezupften Braue umrahmt gewesen waren.

Dabei war sie von einer derart unschuldigen Nacktheit, als warte sie darauf, von einem großen Künstler gemalt zu werden. Doch am Ende warteten auch auf sie der Leichensack und die Rechtsmedizin mit ihren wissenschaftlichen Methoden, um dem Tod seine Ursache zu entlocken.

Langsam sog der Kommissar ihren unverwechselbaren Duft ein. Einen Geruch, der bei jedem Toten neu definiert wurde, so als könne man, wenn man ihn tief genug einatmete, die Ursache für das Sterben verstehen. Als läge in den Poren ihrer Haut das Geheimnis ihres Todes verborgen. Ihre Brüste waren fest und voll und neigten sich etwas zur Seite, kein Silikon bestimmte ihre Form: Sie waren echt und schön. Bei anderer Gelegenheit hätte er sie gerne voller Leidenschaft berührt und gespürt, wie sie darauf reagierte.

Ihre Hüftknochen bildeten zwei sanfte Hügel, zwischen denen der Bauch lag, flach mit einer kleinen Wölbung. Der Venushügel war genau wie der restliche Körper völlig haarlos, was ihr, als Kontrast zu den langen blonden Locken, die ihr Gesicht umrahmten, noch immer etwas sehr Kindliches gab. Die schlanken Beine endeten in zartrosa lackierten Fußnägeln. Überhaupt war sie genau so, wie Männer, wie er selbst, sich Frauen erträumen. Denn im Grunde wirkte sie wie ein Traum, zu perfekt, um zu leben. Zudem schien sie auch im Tod noch geheimnisvoll zu lächeln. Fast sah es so aus, als amüsierte sie der Umstand ihres Endes oder vielleicht hatte sie dieses auch noch gar nicht realisiert.

Zu gern hätte Brauser sich abgewendet, den Blick von diesem jungen, schönen, toten Körper genommen, von dieser Verschwendung der Natur. Aber das ging nicht, er war der Chef und seine Mitarbeiter erwarteten von ihm, dass er sich auch so benahm.

Darum blieb er, sah in die völlig geweiteten Pupillen, von deren einstiger Farbe nichts mehr zu erkennen war und überlegte, dass sie vielleicht einmal strahlend blau gewesen waren. Doch jetzt war nur noch dieser leere Blick übrig geblieben. Ein Blick wie durch einen bangen Nebel und er wollte nicht, dass sie sah, was mit ihr in den nächsten Stunden geschehen würde. Deshalb hob er seine Hand und schloss mit einer entschiedenen Bewegung ihre Lider.

Der Hauptkommissar war schon lange in seinem Beruf tätig und hatte viele frisch und auch länger Verstorbene gesehen, wenn auch die meisten eines natürlichen Todes gestorben waren. Trotzdem hatte er sie gewissenhaft untersucht, gewendet und gedreht. Respektvoll, weil ja jeder irgendwann einmal diesen Weg gehen musste und jeder hoffte, im Tod nicht entwürdigt zu werden. Brauser wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Er hatte sich nicht mehr im Griff, vielleicht war es für ihn wirklich an der Zeit aufzuhören, vielleicht musste er sich doch eingestehen, dass er langsam zu alt wurde für diesen Job, zu alt und zu sentimental. Dabei gab es nur wenig, was er so sehr liebte wie seinen Beruf.

Um ihn herum wuselte das Team der Kriminaltechnik, Annemarie und die kleine Mona, die nur einsfünfzig groß war und die immer einen Stuhl brauchte, wenn sie an die oberen Akten im Büro herankommen wollte. Sie suchten Spuren. Dinge, die nicht hingehörten, wo sie sie fanden. Brauser war an die Kollegen in ihren weißen Gazeanzügen gewöhnt. Sie störten ihn schon lange nicht mehr bei seinen trüben Gedanken. Nur der Mann, der auf einmal neben dem Bett erschien, der ihm bekannt vorkam und doch auch wieder nicht und der die Kamera hob, so wie Mona eben, und der Bilder von der Toten machte, Bilder mit ihm auf einer Höhe, der irritierte ihn. Brauser sah ihn an und plötzlich fiel ihm ein, um wen es sich handelte. Er sah gepflegt aus und benahm sich respektvoll der Toten gegenüber, aber mit seiner Knipserei störte er die Untersuchungen und er gehörte definitiv nicht hierher. Immerhin betrat er ungeschützt einen Tatort, woraufhin ihn die Leiterin der Spurensicherung auch in einem barschen Ton davonscheuchte, aufgebracht und bissig. Aber so war Annemarie, denn auch sie liebte ihren Beruf.

Natürlich wäre es an ihm gewesen einzugreifen, doch nach der vergangenen Nacht fehlte ihm dazu einfach die Kraft. Er merkte, wie ihn die Ereignisse der letzten Wochen langsam einholten. Resigniert atmete Brauser tief durch. Herz und Lunge waren schon lange nicht mehr seine Verbündeten, wenn es darum ging, mit den Kollegen in den dritten Stock hinaufzusteigen. Aber heute war es noch schlimmer gewesen. Heute ging es ihm wirklich schlecht und er bereute, wie selten, dass er sich gestern mit Obermüller getroffen und mal wieder viel zu viel getrunken hatte.

Seine Frau Maria freute sich schon darauf, wenn er in Rente gehen würde und endlich mehr Zeit für sie hatte, doch bisher hatte er immer Angst vor der Leere gehabt, die sie füllen mussten. Vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche, ohne die Wahrscheinlichkeit, von einem dringenden Anruf auf seinem Handy abgelenkt zu werden. Er hatte es sich schön geredet. Hatte sich gesagt, dass er dann, wann immer er wollte, angeln gehen, lesen, endlich seinen Keller aufräumen und reisen könnte. Überall hin, wo er noch nicht war, vielleicht bis nach Australien oder Mexiko. Da war es jetzt schön warm. Aber würde es ihm dort deshalb auch besser gehen? Und würde er dort vergessen können?

Vielleicht würde es mit den Jahren besser werden, aber in der vergangenen Nacht hatte ihn noch nicht einmal der Alkohol von seinen Sorgen befreien können.

Bis vor kurzem hatte er noch an die ewige Jugend geglaubt, jetzt spürte er die Müdigkeit in allen Knochen. Und am schlimmsten war, dass dieses Gefühl so plötzlich über ihn hereingebrochen war.

„Na, Chef, da kam wohl nicht der, den sie erwartet hatte.“ Mit fester, fast fröhlicher Stimme mischte sich die junge Oberkommissarin Franziska Steinbacher in Brausers Gedanken und deutete auf den nackten Körper der Toten.

„Sieht so aus, als ob sie jemanden erwartet hatte, oder?“ Ihre blitzgescheiten Augen sahen den Hauptkommissar eindringlich an. Um ihre Mundwinkel spielte ein kleines Lächeln. Wie immer war sie in Hochform, trug mit routinierter Selbstverständlichkeit ihre Latexhandschuhe und notierte und analysierte alles, was sie in die Finger bekam.

„Sie ist aber nicht an einer Überdosis Glück gestorben, sondern an einem kräftigen Schlag auf den Hinterkopf“, warf der Notarzt, Dr. Buchner, der seine Sachen gepackt hatte und sich verabschieden wollte, von der anderen Seite des Bettes ein.

„Das weiß ich, und sie ist auch nicht im Schlafzimmer gestorben, richtig?“ Auf Zustimmung wartend, wanderte ihr Blick über das Bett.

„Wie kommst du denn darauf?“ Brauser hatte sich ein wenig gefangen. Nur wer ihn kannte, konnte aus seinem ungewohnten Ton schließen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. „Ihre gesamte Wohnung ist weiß gestrichen und auch die Möbel sind entweder weiß oder aus Ahornholz, nur bei den Accessoires dominiert in jedem Zimmer eine andere Farbe. Im Schlafzimmer ist es Gelb und Orange, in der Küche Rot, im Wohnzimmer Apfelgrün und im Bad Rosa. Das Kissen, auf dem ihr Kopf liegt, ist das einzige, auf dem wir Blut gefunden haben und es ist apfelgrün, obwohl im gesamten Bett genug andere Kissen liegen. Warum wohl?“

Nachdem keiner der Männer eine Antwort einbrachte, fuhr sie selbst fort. „Weil der Täter uns glauben machen will, dass sie im Bett gestorben ist. Von der Hand ihres Liebhabers! Oder, weil es ihm nach der Tat Leid tat und er sie nicht einfach so auf dem Fußboden herumliegen lassen wollte und sie stattdessen ins Bett gelegt, ja schon fast aufgebahrt hat. Beides spricht dafür, dass es sich um einen engen Bekannten handelt, aber vielleicht nicht um die große Liebe“, spekulierte Franziska und sah ihren Chef herausfordernd an, weil der sich an ihren Spekulationen nicht beteiligt hatte. Anerkennend nickte der Notarzt der jungen Oberkommissarin zu und wollte schon zu einer Belobigung ansetzen, als Brauser ihn schroff unterbrach: „Sind Sie denn mit Ihrer Arbeit schon fertig?“

 

„Ja, ich gehe jetzt.“ Hastig schnappte er sich seinen großen Alukoffer und seine rote Jacke und wäre um ein Haar mit Johannes Hollermann zusammengestoßen, der mit erheblicher Verspätung am Einsatzort erschien.

„Wollen Sie uns nicht noch etwas über den Todeszeitpunkt und die Art der Tatwaffe sagen?“, fragte Franziska schnell, bevor er endgültig verschwand. Von ihrem Chef schien an diesem Tag ja nichts Hilfreiches mehr zu kommen. Der Notarzt blickte kurz zu Hannes, der noch immer seinen Fahrradhelm in der Hand hielt und Franziska stöhnte kaum hörbar auf: Als ob er den nicht draußen im Flur bei seinem Vorderrad lassen könnte, dachte sie missbilligend.

„Anhand der Totenflecken auf der Unterseite und der vollständigen Ausbildung des Rigor der Skelettmuskulatur schätze ich, dass sie mindestens seit dem gestrigen Abend tot ist. Aber festlegen möchte ich mich da nicht, das können die in der Rechtsmedizin in München besser.“ Er warf einen kurzen Blick auf die Tote. „Aus der großen Platzwunde am Kopf ist nur wenig Blut ausgetreten, daher denke ich, dass mit einem stumpfen Gegenstand fest zugeschlagen wurde.“ Er sah zu Franziska. „Sie finden schon was Passendes.“

Auch Hannes blickte jetzt auf die Leiche, nestelte dabei aber nervös an seinem Helm herum. Ihm war alles andere als wohl in seiner Haut.

„Hübsches Mädchen, nicht?“, versuchte Franziska ihn ein bisschen aufzumuntern, denn Hannes war noch nicht lange bei der Mordkommission und hatte somit auch noch nicht sehr viel Erfahrung mit toten Menschen.

„Warum kommen Sie erst jetzt?“ Brauser sah auf die Uhr und wartete. Im Vergleich zu Franziska verzichtete er bei Hollermann auf das Du, aber Franziska war ja auch sein Mädchen! Wenn er eine Tochter gehabt hätte, dann hätte sie so sein sollen wie sie. Hollermann war nur einer von vielen.

„Meine Katze ist heute Morgen weggelaufen und ich musste sie suchen.“

„Das ist doch nicht Ihr Ernst! Wegen einer Katze kommen Sie zu spät zum Dienst?“ Brauser hasste Katzen. Wenn es überhaupt eine Daseinsberechtigung für sie gab, dann war das, die, zur Unterhaltung alter, alleinstehender Frauen, für die sich einfach kein Mann mehr interessierte, zu dienen. Was aber tat ein junger Kerl mit so einem Vieh? Der sollte sich lieber ein Mädchen suchen und eine Familie gründen. Verdammt, was war das nur für eine Welt, wo Männer jammerten und Schmusetieren nachliefen und am Ende noch Windeln wechselten und sich ans Bügelbrett stellten.

Franziska schob Hannes energisch nach draußen, nahm den Helm und legte ihn auf den Boden. „Jetzt reiß dich aber mal zusammen, wir sind hier bei der Mordkommission!“ Obwohl er deutlich größer war als seine Kollegin, legte sie ihm die Hände auf die mageren Schultern und schüttelte ihn, bis sie das Gefühl hatte, dass er ihr auch wirklich zuhörte. „Hör mal, den Chef hat’s mächtig erwischt. Ich glaube, der nimmt sich seinen bevorstehenden Abschied ganz schön zu Herzen, der ist gar nicht mehr bei der Sache. Aber wir beide, wir kümmern uns darum, hast du verstanden?“

Hannes nickte und folgte ihr zurück in die Wohnung.

„Ich sag dir, was wir wissen, und du schaltest deinen Verstand ein“, forderte ihn Franziska auf und fuhr fort, ohne auf einen Einwand zu warten. „Sie heißt Sophia Weberknecht, ist zweiunddreißig Jahre alt und Sopranistin am Fürstbischöflichen Opernhaus. Zumindest hat das Dr. Buchner behauptet. Und der ist bekennender Opernfan. Und nun zu meiner Theorie.“ Hannes nickte und Franziska lächelte zufrieden.

„Ich denke, sie hat ihren Liebhaber erwartet, daher war sie nackt, zumindest haben wir nirgends herumliegende Kleidung gefunden. Alles ist super aufgeräumt und blitzblank geputzt. Als er kam, hat sie ihn entweder hereingelassen oder er hatte sogar einen eigenen Schlüssel, aufgebrochen wurde nämlich nicht. Es kam zum Streit zwischen den beiden, vielleicht ums Geld oder sie hat ihn erst angemacht und wollte dann doch nicht. Und dann hat er sie mit einemstumpfen Gegenstand erschlagen und ins Bett gelegt. Näheres müssen die Ermittlungen ergeben, aber es ist zumindest mal ein guter Ansatz, findest du nicht?“

Hannes nickte wie ein kleiner Bruder, der seiner großen Schwester alles glauben wollte. „Gibt es irgendwelche Hinweise auf einen Täter?“

„Nein, und auch nicht, ob sie überhaupt einen Freund hatte. Im Bad gibt es allerdings nichts, was zu einem Mann passen würde, weder ein herbes Deo noch Rasierzeug oder eine zweite Zahnbürste. Auffällig ist nur der dunkelblaue, abgewetzte Bademantel, der so gar nicht zu ihrem Weiß-Tick passt, aber ihre Größe hat – na, obwohl, dir könnte er auch passen.“ Franziska grinste frech, bevor sie fortfuhr. „In der Küche liegt eine Tüte mit einer Semmel, vermutlich von gestern. Aber selbst wenn wir wüssten, wie viele darin waren, könnten wir nicht abschätzen, ob sie nur viel Hunger oder Besuch zum Frühstück hatte. In der Spülmaschine sind mehrere Gedecke, könnten natürlich auch alle von ihr sein. Anni kümmert sich darum. Wir müssen überhaupt erst mal abwarten, was die Spurensuche ergibt.“

„Was allerdings bald keinen Sinn mehr hat, wenn euer Chef weiterhin überall seine Spuren hinterlässt“, raunzte Annemarie von der Kriminaltechnik und scheuchte Brauser aus dem Wohnzimmer, wohin er sich in der Zwischenzeit begeben hatte.

„Das heißt also, bis wir die Auswertung bekommen, kann es dauern“, stellte Franziska nüchtern fest.

„Dann schlage ich vor, dass wir uns zuerst die Nachbarn vornehmen, solange ihre Erinnerungen noch frisch sind“, drängte Hannes, um möglich schnell die Wohnung zu verlassen.

„Das ist eine ausgezeichnete Idee“, lobte Brauser voller Sarkasmus. „Sind Sie da ganz allein draufgekommen, Herr Hollermann?“ Der Hauptkommissar baute sich vor dem jungen Kollegen auf, musterte ihn eindringlich, so als wollte er ihn zurechtweisen, nickte dann aber und befand, „Okay, gehen Sie, ich mache hier weiter.“

Als sie auf die Wohnungstür zugingen, fragte Hannes Franziska leise: „Wer hat sie eigentlich gefunden?“ Ihm war klar, dass die beiden anderen das längst besprochen hatten.

„Die Nachbarin von gegenüber. Sie sollte für die Mutter irgendwas in der Wohnung nachschauen. Ich denke, ich werde zuerst mit ihr reden. Wenn sie die Mutter kennt, wird sie uns sicher auch einiges über die Tochter sagen können.“

„Dann übernehme ich die Leute im Haus oder hast du schon mit jemandem gesprochen?“

„Na, hör mal! Ich bin ja auch noch nicht seit gestern hier.“

„Schade, sonst hättest du vielleicht unseren Täter gesehen und wir könnten uns den ganzen Aufwand sparen.“

***

In der Wohnung der Toten war es trotz der eisigen Atmosphäre, angenehm warm gewesen, und so traf die Kommissarin der feuchte Nebel, der bereits am frühen Nachmittag von Inn und Donau heraufzog und sich zwischen den Häuserzeilen ausbreitete, ganz besonders empfindlich. Frierend hielt sie die Vorderkanten ihres hellbraunen Ledermantels zusammen und zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern. Für die Jahreszeit war sie nicht passend angezogen, trotz Jeans und Stiefel, aber wer wusste im Herbst schon, was passend war. Letzte Woche war es noch herrlich warm gewesen, fast Biergartenwetter und dann der plötzliche Einbruch, die ersten Vorboten des nahenden Winters.

Um sich aufzuwärmen, hätte sie sofort zu der Nachbarin gehen können, um deren Zeugenaussage aufzunehmen, doch zuerst brauchte sie eine kleine Auszeit. In ihrer großen Handtasche aus braunem Wildleder fand sie einen Müsliriegel in einer etwas gammligen Verpackung, in den sie hungrig hineinbiss. Während ihre Zähne die Körner zermalmten und die Kohlenhydrate ihr Gehirn wieder leistungsfähig machten, ging sie langsam die großbürgerliche Häuserzeile entlang. Neben dem Bürgersteig parkten unzählige Autos Stoßstange an Stoßstange, so, als würden sie sich aneinander kuscheln, damit sie nicht frieren mussten.

Franziska dachte über die Frau nach, die tot in ihrer Wohnung lag. Was hatte sie für ein Leben geführt? Was tat eine Sängerin eigentlich, wenn sie nicht gerade auf der Bühne stand und Opernarien schmetterte? Bestimmt unterschied sich ihr Leben ganz gravierend von ihrem eigenen. Nur wie? Das würde sie als Erstes herausfinden und dann natürlich, was jemanden dazu gebracht hatte, sie zu töten.

Obwohl das dreistöckige Haus in einer eher ruhigen Wohngegend lag, hatte sich eine Bäckereifiliale in einem der Nachbarhäuser angesiedelt. Beim Anblick der eingetrockneten Ausstellungsstücke im Schaufenster lief ihr das Wasser im Munde zusammen, doch sie konnte ja unmöglich mit Gebäck zur Befragung erscheinen. Ein Stück weiter stand die Tür zu einer Videothek offen. Im Schaufenster wurden auf großen Plakaten die neuesten Videos angeboten. Filme, die sie gern im Kino gesehen hätte, die sie aber wegen irgendeines Falles verpasst hatte.

Das Piepsen ihres Handys und die SMS ihrer Freundin Lisa, mit dem Wunsch sie zu treffen, erinnerten sie nur allzu schmerzlich daran, dass es neben dem aufzuklärenden Tod eines Menschen auch noch andere Dinge in ihrem Leben gab, die jetzt aber wieder einmal warten mussten. Im Gehen schrieb sie zurück:

Geht Leider nicht,

bin an einem neuen

mordfall, melde mich,

wenn ich wieder mehr

zeit habe! Liebe

grüße franziska

Lisa hatte in der Regel Verständnis für ihren Beruf. Wenn es nicht ging, dann ging es eben nicht. Mit Männern sah es in ihrem Leben jedoch schlecht aus. Die wenigen, mit denen sie sich eingelassen hatte, stellten sich im Nachhinein als zu unflexibel heraus, als dass Franziska die Beziehungen zu ihnen mit ihrem Beruf vereinbaren konnte. Sie wollte gut sein, alles richtig, wenn nicht noch besser zu machen, gehörte einfach zu ihrer Grundüberzeugung. Fehler konnten andere machen, das ließ sich entschuldigen. Bei sich selbst setzte sie höhere Maßstäbe an. Viel höhere.

***

„Ach, sie war ja so ein reizendes und hübsches Mädchen.“ Noch immer schien Paula Nowak von ihrem Fund am Vormittag mitgenommen zu sein. Beinahe abwesend bot sie Franziska eine Tasse sehr heißen grünen Tee und einen Platz auf ihrem beigen Blümchensofa an. In ihren alten Augen schimmerten Tränen. „Wissen Sie, als sie einzog, da dachte ich, da werden die Burschen ja bald Schlange stehen!“

„Und?“ Franziska wollte hören, wie es denn nun war, wenn sich die Männer nicht sattsehen konnten, wenn eine Frau ständig umschwirrt war und natürlich, ob vielleicht einer dabei war, der als Täter infrage kam. Sie dachte an die Liebesfilme, bei denen die Hauptdarstellerinnen immer so aussahen wie Sophia Weberknecht: blond, schön und mit einer makellosen Figur. Ach ja, und natürlich waren sie auch stets voller Liebreiz.

„Eigentlich kam kaum einer. Das war ganz selten. Sie ließ niemanden an sich ran. Also ich an ihrer Stelle …“ Die alte Frau wischte mit der Hand über die Augen und kicherte. „Aber wenn jemand kam, dann ist Ihnen das schon aufgefallen?“ Franziska stand auf und spähte zwischen den Gardinen hindurch auf das gegenüberliegende Haus. Der Blick war gut.

„Aber natürlich“, rief Paula Nowak munter, besann sich aber gleich darauf, „also nicht, dass ich neugierig bin, aber“, Hilfe suchend sah sie erst aus dem Wohnzimmerfenster und dann zu ihrem Wellensittich, der in seinem Käfig zufrieden auf einer kleinen Holzschaukel vor sich hindöste. „Früher hatte ich oft Logisgäste. Um die konnte ich mich kümmern und mich mit ihnen unterhalten, aber seit ich mit meinen Beinen nicht mehr so kann, sind der Hansi und ich ganz allein. Und da sitzen wir oft hier und schauen aus dem Fenster.“ Sie ließ den Satz ein wenig in der Luft hängen, erwartete wohl nicht, darauf eine Antwort zu bekommen. Franziska nickte zustimmend. Von solchen Dingen erzählten viele alte Menschen.

„Natürlich, das verstehe ich und in diesem Fall war es ja sogar ganz wichtig, dass Sie hingeschaut haben“, bekräftigte die Kommissarin. „Haben Sie denn gestern Abend jemanden kommen oder gehen sehen?“

„Gestern Abend? Nein, da kam doch diese spannende Show im Ersten. Sie wissen schon, wo sie immer Geld für einen guten Zweck sammeln und die ganzen tollen Stars auftreten, die …“

„Ja, natürlich!“ Ach, wie Franziska diese Sätze hasste! Warum? Warum mussten die besten Zeugen immer dann, wenn man sie am dringendsten brauchte, etwas anderes tun, als neugierig aus dem Fenster zu glotzen?

„Aber gestern Nachmittag“, sie überlegte kurz, „da kam ein Mann die Straße entlang und blieb vor ihrem Haus stehen. Er sah sehr gut aus.“

Die Kommissarin lächelte entschädigt. „Und der wollte zu Sophia Weberknecht?“

„Na, so genau weiß ich das nicht. Am Nachmittag lass ich den Hansi immer fliegen. Das ist sein kleiner Spaziergang“, fügte Paula Nowak erklärend hinzu, stemmte sich von ihrem Platz hoch und stellte sich neben den Käfig.

 

„Dabei habe ich dann gesehen, wie der Mann aufs Haus zuging.“ Sie blickte mehrmals sehr betont vom Käfig zum Fenster. „Natürlich musste ich auch dem Hansi zusehen, wie er durchs Zimmer geflogen ist, wissen Sie, sein Lieblingsplatz ist die Lampe. Aber als ich wieder rüber sah, da stand der Mann noch immer am Haus, so, als überlege er, ob er klingeln und reingehen soll oder nicht.“

„Und?“

„Da hab ich dann so lange hingesehen, bis er reingegangen ist“, rief Paula Nowak fast fröhlich aus. „Ich hab mich so für sie gefreut! Der war ja auch viel hübscher als der andere, der manchmal kam und …“

„Und Sie sind sich sicher, dass er zu Frau Weberknecht wollte?“

„Was sollte er denn bei den beiden Ollen da drüben? Außerdem ist der Brandner im Urlaub, na, und Agnes bekommt ja keinen Männerbesuch.“

„Agnes?“

„Neumüller. Sie hat die Wohnung unter Sophia, aber die ist viel zu alt für so einen hübschen Kerl.“

„Können Sie ihn denn beschreiben?“

„Na ja, er war groß und eben richtig gut aussehend.“ Franziska überlegte, was die alte Frau wohl unter ‚richtig gut aussehend‘ verstand und ob sich ihre Meinungen wohl decken würden. Sie war sich in diesem Moment selbst nicht sicher, was sie an einem Mann als gut aussehend empfand.

„Haben Sie ihn schon mal gesehen?“

„Den? Nein! Ein anderer kam manchmal, ich glaube aber, das war nur ein Bekannter oder so. Bestimmt kannte sie den vom Theater. Ich wollte sie nicht nach ihm fragen, weil ich immer das Gefühl hatte, er sei nur ein Freund und vielleicht anders herum, Sie wissen schon, was ich meine.“

Franziska zog die Stirn in Falten und sah die alte Dame kopfschüttelnd an. „Dass er Männer liebt“, fügte die alte Frau erklärend hinzu.

„Ach, sie meinen, er war ein Schwuler, äh, Verzeihung, homosexuell?“

Paula Nowak zupfte an ihrer Bluse herum und kicherte dann wie ein schüchternes Mädchen. „Ihr jungen Leute bringt immer alles auf den Punkt. Zu meiner Zeit schickte sich das nicht.“ Dann nickte sie, „Aber ja“, rief sie noch fröhlicher aus, dieses Thema schien ihr äußerst viel Freude zu bereiten. „ich dachte immer, er sei ein Schwuler.“

„Aber seinen Namen wissen Sie nicht?“

Die alte Frau kicherte erneut, „Von dem Schwulen?“ Franziska musste nun auch lachen. „Ja.“

„Nein.“

„Warum glauben Sie eigentlich, dass er schwul war?“

„Weil er die Haare so lang getragen hat.“ Sie zeigte mit der rechten Hand am linken Oberarm, was sie meinte. „Und das machen doch nur Schwule, oder?“

Franziska fürchtete, dass dieses Gespräch nun doch in die falsche Richtung ging und versuchte, ihre Zeugin wieder auf den eigentlichen Grund ihrer Ermittlungen zu führen.

„Frau Nowak, bitte erzählen Sie mir, wie sie Sophia Weberknecht gefunden haben.“

Vielleicht hatte die alte Frau in der Heiterkeit des Gespräches versucht, die traurige Tatsache, dass das Mädchen tot war, zu übergehen. Nun hatte sie die Wahrheit eingeholt. Innerhalb eines Augenblicks spiegelte ihr Gesicht die ganze Tragödie und den Schmerz wider, den der Tod eines lieben Menschen hervorruft.

„Das war heute Vormittag“, begann sie mit fast tonloser Stimme. „So gegen elf. Wissen Sie, da geht es mit meinen Beinen immer am besten und ich schaffe die Treppe leichter. Die Sophia wohnt ja im obersten Stock.“

Franziska nickte und schrieb die Daten stichpunktartig in ihr grünes Notizbuch. „Zuerst hab ich bei ihr angerufen, und als niemand ranging, hab ich den Schlüssel vom Brett genommen und bin rübergegangen. Ich dachte ja, sie ist weggegangen, denn am späten Vormittag war sie meist bei Proben. An der Tür hab ich dann noch mal geklingelt, und als niemand aufmachte, schloss ich auf. Ich habe noch ihren Namen gerufen, bekam aber keine Antwort. Und dann sah ich sie auf dem Bett liegen. Erst dachte ich, sie schläft noch. Wissen Sie, bei ihr wird es am Abend oft spät, bis sie heimkommt. Ich wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen, weil sie nackt war. Da schaut man ja nicht so genau hin. Obwohl sie ja ein wirklich hübsches Mädchen ist, ich meine, sie kann es sich leisten. Aber dann kam es mir doch seltsam vor, weil es eigentlich viel zu kalt war, um nackt zu schlafen. Ich bin zu ihr hingegangen, weil ich sie zudecken wollte. Und da sah ich ihre Augen, sie waren so leer, so weit weg, ach, es war so traurig, sie so zu sehen!“

Sie sah die Kommissarin an und jetzt bahnten sich die Tränen ungehalten ihren Weg. „Ach, es war so furchtbar! Ich musste sie noch nicht einmal berühren, da wusste ich schon, dass sie tot war. Ich kannte diesen Blick ja von früher.“ Verzweifelt sah sie zum Fenster und versuchte ihre Tränen wegzublinzeln. „Ich bin eine alte Frau. Mich hätte er holen sollen, nicht so ein junges Ding, das sein ganzes Leben noch vor sich hat.“

Franziska ließ der alten Frau Zeit, um sich zu fangen. „Haben Sie etwas verändert, als sie bei ihr waren?“

„Nein, ich bin gleich wieder raus, hab die Tür zugezogen und bin in meine Wohnung. Hier hab ich gesessen“, sie deutetet auf den Platz auf dem Sofa, „und hab die Polizei angerufen.“

Franziska wusste von den Kollegen, dass sie nicht mit hinaufgegangen war, „einmal am Tag reicht!“, hatte sie argumentiert und ihnen den Schlüssel in die Hand gedrückt.

„Und Sie haben in der Wohnung nichts verändert, vielleicht ein paar Sachen weggeräumt?“, wollte Franziska wissen.

„Nein, nein, nichts.“

„Wo bewahren Sie eigentlich den Schlüssel von Frau Weberknecht auf?“

„In der Küche, gleich hinter der Tür.“ Die alte Frau war im Begriff aufzustehen, aber Franziska bedeutete ihr sitzen zu bleiben und ging selbst in die angezeigte Richtung. „Am Schlüsselbrett“, rief ihr Paula Nowak hinterher.

Die Küchentür stand offen und gab den Blick auf eine blitzblank saubere Küche frei. Die Türen der hellen Einbauschränke waren geschlossen, alles war ordentlich verräumt, nur ein Korb mit Äpfeln und zwei gesprenkelten Bananen stand in einer Ecke. Auf dem Küchentisch lag eine karierte Tischdecke und am Fenster standen ein blühender Hibiskus und eine rote Gießkanne. Vielleicht hatte die alte Paula ja jemanden, der für Ordnung sorgte, und der könnte sich dann auch den Schlüssel ausgeliehen haben, überlegte Franziska. Dann schloss sie die Küchentür und sah auf das beschriebene Schlüsselbrett: Es hingen etliche Schlüssel daran und jeder hatte einen anderen Anhänger. Ein Haken aber war frei.

„Haben Sie eigentlich jemanden, der Ihnen hilft?“, fragte sie, als sie wieder im Wohnzimmer angelangt war, „Oder machen sie alles noch alleine?“

„Wenn man sich Zeit lässt, dann geht alles. Und Zeit hab ich ja genug, nicht wahr?“

„Kann sich jemand den Schlüssel bei Ihnen ausgeliehen haben? Also hatten Sie Besuch in letzter Zeit?“

„Nur der Briefträger, der brachte mir am Montag die Telefonrechnung. Da bin ich gerade vom Einkaufen heimgekommen, aber sonst war niemand da.“

„Und als Sie den Schlüssel heute Vormittag vom Haken genommen haben, hing er an seinem Platz?“

„Aber ja.“

Franziska nickte. „Was wollten Sie eigentlich in der Wohnung von Frau Weberknecht?“

„Ihre Mutter rief mich an und bat mich, nach den Blumen zu sehen. Angeblich ging es um ein Geburtstagsgeschenk, aber ich glaube, sie wollte nur, dass ich nach dem Rechten sehe. Sophias Mutter ist sehr besorgt um sie. Wissen Sie, sie behandelte sie wie ein kleines Mädchen und manchmal dachte ich, wenn die Mutti kommt, dann benimmt sie sich auch wieder so.“