Dann stirb doch selber

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28. Szene
Magdalena

Die Angst vor der Einsamkeit ließ mich immer nur die Tischplatte anstarren und machte mich bewegungslos: später, später räume ich auf, wenn es gar nicht mehr zu ertragen ist. Doch plötzlich klingelte es an der Tür. Es war die Kommissarin. Sie fragte mich nach meinem Befinden, und als ich vorgab, es ginge schon, legte sie unverzüglich los.

„Sie haben also keine Ahnung, wer die Freundin gewesen sein könnte?“

„Harry hatte keine Freundin!“, antwortete ich fest.

„Hören Sie, Ihr Freund wurde mit Diazepam, mit Valium, vollgepumpt und dann gegen einen Betonpfeiler gefahren, es ist sogar möglich, dass er zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr in der Lage war, selbst zu lenken. Und jetzt frage ich Sie, wer macht so was?“

„Sicher niemand, der ihn liebt!“, antwortete ich kleinlaut und zog vorsichtig die Nase hoch.

„Nein, aber leider haben wir auch sonst kein Motiv. Sie sagen, er hatte keine Freundin und auch keine Feinde. Erpresst wurde er sicher auch nicht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Vielleicht war alles doch nur ein dummer schrecklicher Unfall“, versuchte ich zu erklären und spürte, wie meine Stimme brach.

„An solche Unfälle glaube ich schon lange nicht mehr. Zumal die einzige Zeugin auch noch verschwunden ist.“

„Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass Harry Beruhigungsmittel nahm? Harry war Sportler, für ihn gab es andere Möglichkeiten, sich zu beruhigen.“ Ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.

„Das mag schon zutreffen, aber irgendwie scheint er doch nicht klargekommen zu sein. Laut Obduktionsbericht hat er mindestens zehn Tabletten genommen, haben Sie dafür auch eine harmlose Erklärung parat?“

„Nein, nein...“ O Gott - Obduktionsbericht! Mir wurde ganz schlecht. Er lag nicht mehr in seiner Zinkwanne, sie haben ihn aufgeschnitten, ihn auseinandergenommen, wie ein Stück Vieh, ich musste mich setzen. „... was haben Sie gesagt, wie viel hat er getrunken?“

„Mindestens zehn Tabletten Valium, aber ich habe nicht gesagt, er hat es getrunken!“ Sie sah mich an, und ich hatte das Gefühl, dass sie triumphierte.

„Wissen Sie denn jetzt wenigstens, wo er hin wollte? Sie haben sich doch sicher Gedanken darüber gemacht!“

29. Szene
Klara

Jetzt hat sie auch noch einen kleinen Altar aufgebaut, wie süß, mit Rose und einem Bild, so richtig zum Verlieben. Also, ein Hübscher war er ja schon, dieser Harry Kaufmann. Bei seinem Anblick wusste ich gleich, dass der keine Probleme hatte, sich eine Frau zu angeln.

Dass Frau Morgenroth das nicht verstand, war klar, sie war immer noch blind vor Liebe und Trauer. Also lag es an mir, sie mit den Tatsachen zu konfrontieren. Dann tat es wenigstens nur einmal weh!

Diazepam gab es nicht nur in Apotheken, sondern auch in Krankenhäusern. Im Auto saß eine blonde Frau, und ein aufgemotzter Sportwagen drängte sie beide von der Straße. Kaufmann war nicht angeschnallt und hatte die Hände nicht am Steuer. Das passte alles nicht zusammen.

Nachdem ich schon einmal im Haus war, klingelte ich bei Frau Nigl. Sie war Krankenschwester und kannte sich mit Medikamenten aus. Ich dachte mir, wenn ich ihr erzähle, was mit ihrem Nachbarn wirklich passiert ist, erinnert sie sich vielleicht besser an die blonde Frau.

Leider war sie nicht zu Hause, und Julia Fabriosa auch nicht. Ich verglich den Namen auf dem Schild mit meinen Notizen, er stimmte. Auf dem Weg in meine Pension nahm ich mir fest vor, weiter nach ihr zu forschen. Ich konnte es nicht offiziell tun, sie war keine Verdächtige. Trotzdem war es merkwürdig, dass es sie überhaupt nicht gab.

Donnerstag 22.8.
30. Szene
Klara

Um Frau Morgenroth zu provozieren, hatte ich sie gefragt, wo Harry Kaufmann an seinem letzten Tag hin wollte, das war natürlich falsch. Ich musste wissen, wo er herkam, wie er seinen Tag verbracht hatte. Bis zur Beerdigung hatte ich noch etwas Zeit, darum ging ich zu Obermüller. Ich traf ihn im Gang mit einem Ladendieb am Schlafittchen. Während wir nebeneinander herliefen, fragte ich nach den Gegenständen, die im Auto gefunden wurden.

„Muss das jetzt sein?“ Ich nickte. Der Junge war vielleicht dreizehn, klaute schon morgens vor der Schule. Er trug eine Jacke mit vielen Taschen und eine dieser übergroßen Hosen, bei denen ich immer den Verdacht hatte, es stecke noch eine Windel drin. Aus einer der Taschen führte ein Kabel direkt zu seinen Ohren. Kaum hatte er das Zimmer betreten, begann er im Takt zu wippen, nicht ansprechbar für alles um ihn herum. Bum, bum, bum machte es dumpf und laut, es war scheußlich.

„Hör mal“, sagte Obermüller und nahm mich zur Seite. Der Junge knatschte einen Kaugummi und blätterte völlig ungeniert in einer Akte herum. „Wir waren wirklich froh, dass du uns geholfen hast, aber heute ist die Beerdigung, der Wagen ist noch nicht gefunden, die Zeugin mit den blonden Haaren weiterhin verschwunden, und wir haben andere Sorgen!“ Er riss dem Jungen die Akte weg und drückte ihn auf einen Stuhl.

„Eben, also wo?“

Obermüller deutete auf ein Fach im Rollschrank und seufzte.

„Danke“, sagte ich freundlich. Soll er doch froh sein.

In meinem Zimmer packte ich alles aus, eine Brieftasche, ein Päckchen Kaugummi und einen Straßenatlas. Es half mir nicht weiter. Ich musste noch einmal zu Frau Morgenroth. Leider war die viel schlauer als mir lieb war. Mit dummen Menschen konnte man eine Weile spielen und sie so verwirren, dass sie am Ende alles zugaben. Aber die Morgenroth durchschaute mich. Ich sah auf die Uhr. Verdammt, jetzt musste ich mich aber beeilen.

31. Szene
Magdalena

„Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus“, rief der Pfarrer feierlich in den Raum. Ich saß in der zweiten Bank, zwischen Julia und Sylvia und konnte vor lauter Schmerz und Verzweiflung kaum atmen. Der Sarg war über und über mit Blumen geschmückt und vor der Tür stapelten sich die Kränze.

„Lamm Gottes!“, rief der Pfarrer und erhob seine Hände zum Himmel. Der schwarze Hut mit dem dezenten Schleier, den mir Jutta schließlich gebracht hatte, gab mir ein wenig Deckung; in meiner geräumigen Tasche häuften sich die verheulten Taschentücher.

„Heilige Maria Mutter Gottes, voll der Gnaden!“ Die Kaufmanns saßen in der ersten Reihe. Ich warf einen Blick auf Bernhard, der erstaunlich sicher seine Haltung bewahrte. Gelernt ist eben gelernt. Neben ihm saß lässig ein großer Mann in dunklem Anzug, weißem Hemd und durchgestuften, dunklen Haaren, der angestrengt seine Umgebung musterte und sich scheinbar nur widerwillig an dem ganzen Auf und Ab der Trauergemeinde beteiligte. Wahrscheinlich ein Bodyguard, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was Bernhard dazu veranlassen sollte, sich in Gefahr zu wägen.

„Wir sind heute hier zusammen gekommen, um...“ Und wenn schon, Harry hätten selbst zehn Bodyguards nicht helfen können.

„...viel zu früh wurde er aus unserer Mitte gerissen!“ Sylvia schluchzte auf, und ich drückte ihr schnell die Hand.

„Vater unser im Himmel!“ Sie registrierte es gar nicht.

„Dein Wille geschehe!“ Warum Harry, warum? Auf der Rückenlehne der Bank vor mir stand: Gott war hier! Wenn er hier war, wenn er Harry geleitet hat, warum hat er ihn dann nicht umgeleitet? Die Ministranten schwenkten das Weihrauchfass, und mir wurde schlecht. Ich hasse Weihrauch! Ich hasse Beerdigungen! Ich wollte Harry doch nur lieben, für immer und ewig! Seine Mutter war sehr still, ich konnte nicht ergründen, ob sie überhaupt bei der Sache war. Still betrachtete ich ihren Hut und die zierlichen goldenen Ohrringe. Plötzlich hielt mir Julia ein Opferkörbchen hin. Wir waren gerade zum Gebet aufgestanden. Verdutzt hielt ich es in der Hand und starrte hinein. Es lagen schon etliche Geldscheine drin. Vielleicht können wir ihn ja freikaufen, dachte ich und schaute auf die mitgelieferten Sterbebildchen. Es war ein Ausschnitt. Ich hatte das Bild nach einer erfolgreichen Jagd auf einen Oryx in der Savanne Namibias gemacht. Damals hatte Harry seinen Sieg errungen, den Sieg über einen fahlbraunen Oryxbock. Aus seinen Augen leuchtete Stolz, denn der Oryx galt als hartes, mutiges Wild, dass sich seinem Jäger auch mal entgegenstellte, um ihn auf seine langen Hörner zu nehmen. Aber Harry blieb der Sieger, damals, als er noch lebte. Doch jetzt war er tot. Krampfhaft hielt ich das Körbchen fest und starrte vor mich hin, bis Julia sanft meine Finger löste und es nach hinten weiterreichte. „Lamm Gottes, in Ewigkeit. Amen!“

32. Szene
Magdalena

Der Gang über den Friedhof glich einem Spießrutenlauf. Es war schrecklich heiß und nach der Kühle in der Kirche kaum zu ertragen. Überall standen Leute, die mich beobachteten. Mit letzter Kraft setzte ich Fuß vor Fuß. Warf einen roten Rosenstrauß auf den dunklen Sargdeckel und hielt für einen Moment stille Andacht für Harry. Als mir klar wurde, dass er von diesem Zeitpunkt an für immer aus meinem Leben verschwunden war, ohne eine Hoffnung auf Rückkehr, überkam mich eine solche Verzweiflung, dass ich nichts sehnlicher wünschte, als mich gleich zu ihm zu legen.

Ich wollte sterben, hier und jetzt und für immer und ewig, und ohne mein Leid länger ertragen zu müssen. Aber man ließ mich nicht. Eine starke Hand fasste nach mir, bevor ich ganz zu Boden gehen konnte und zog mich an sich. Es war Bernhard. Die Art, wie er mich hielt, erinnerte mich an Harry und das allein tröstete mich mehr als seine Worte.

 

„Du musst jetzt ganz stark sein, ja“, sagte er und streichelte meinen Rücken. „Du darfst jetzt nicht aufgeben, ja!“ Er drückte mich sanft und im nächsten Moment blitzte eine Kamera auf. Entsetzt machte ich mich los.

Mir war heiß und mein Kopf schmerzte. Um mir Abkühlung zu verschaffen, wollte ich meine Jacke öffnen. Ich nestelte an den großen Knöpfen herum, ohne sie jedoch aufzubekommen. In diesem Moment trat Jutta zu uns, ergriff meine Hand, die stark zitterte, und schob mich in den Schatten einer großen Tanne. Oder hatte sie mich gar durchschaut? Meinen Versuch, Harry doch noch Gelegenheit zu geben, in meinen Körper zu schlüpfen?

Ich schaute zum Himmel, er war strahlend blau, mit einer einzigen gemütlichen Schäfchenwolke über mir, deren Umrisse mich entfernt an einen liegenden Menschen erinnerten. Ich ließ von meinen Knöpfen ab, es war unmöglich, Harry eine Chance zu geben. Letztlich glaubte ich auch nicht wirklich an eine solche Möglichkeit, und die Vorstellung, dass Harry da oben auf einer watteweichen Wolke über den Himmel schwebte und auf mich herunterschaute, gefiel mir ohnehin besser.

Während wir Harry das letzte Geleit gaben und uns anschließend am Grab versammelten, saß der Mann im dunklen Anzug wie ein falsch platziertes Mitglied im Schatten und langweilte sich. Mir war nicht ganz klar, wofür Bernhard so einen Mann überhaupt brauchte, bis er auf ein Zeichen seines Chefs herüberkam, ohne große Worte den Weg frei machte und die Wagentür öffnete. Erleichtert sank ich in das dunkelgraue Polster. Meine Augen waren leer geweint und ich wollte nur noch nach Hause. Bernhard tat mir den Gefallen.

Vor meiner Wohnungstür sah ich ihn bittend an. „Willst du vielleicht ...“, stotterte ich. Da schob sich ein vorsichtiges Lächeln in sein Gesicht und er nickte. „Mir ist jetzt auch nicht nach Rummel“, sagte er und folgte mir neugierig in die Wohnung. Kaum war er durch die Tür, da strafften sich seine Schultern und sein Gesicht wurde zu einer Maske. Zu gern hätte ich gewusst, was in ihm vorging in diesem Moment. Im Hause Kaufmann gab es nur echte Eiche rustikal, die hält ein Leben lang und lässt sich anschließend noch an die nächste Generation weiter vererben, so viel wusste ich, aber es hätte mich brennend interessiert, was er von unserer Wohnung hielt.

Auf einmal drehte er sich zu den Tigersesseln um, lächelte belustigt und sank hinein. Er schien sichtlich entspannt. Schweigend setzte ich mich ihm gegenüber, musterte sein Gesicht, und erneut fiel mir auf, wie wenig sich die Brüder ähnelten. Bernhard holte tief Luft, betrachtete die Bücherregale und den alten Sekretär und sah mich dann an.

„So hat er also gelebt.“ An die Stelle seines Lächelns trat ein Anflug von Spott und ich wusste nicht, was ich erwidern sollte.

„Möchtest du vielleicht was trinken?“, fragte ich schnell und sprang auf. Vor lauter Verwunderung hatte ich doch glatt meine guten Manieren vergessen.

„Hmm“, antwortete er unschlüssig und ich zählte ihm schnell die verschiedenen Getränke auf, die ich im Kühlschrank hatte. „Oder möchtest du lieber Whiskey oder so was?“

„Trank Harry Whiskey?“, fragte er interessiert zurück.

„Hin und wieder einen Bourbon mit Eis.“ Ich stand auf, um Flasche und Gläser zu holen, aber er wehrte ab.

„Nein, lass mal, ich möchte doch lieber etwas Alkoholfreies! Ich habe gleich noch einen Termin.“

33. Szene
Klara

Das war keine schlechte Vorstellung, die Kirche besetzt bis auf den letzten Platz und alle traurig und ehrfurchtsvoll ergriffen. Wir hatten gemeinsam für einen Mann, den ich nicht einmal kannte, gebetet und dem Pfarrer auf seinen Sprechgesang geantwortet, und auf einmal fühlte ich mich nicht mehr so allein in dieser neuen Stadt, und ich dachte, vielleicht sollte ich öfter mal zum lieben Gott beten, einfach so. Damals bei meiner Hochzeit machten sie auch so viel Aufhebens, aber gehalten hat es trotzdem nicht, resümierte ich traurig.

„Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld!“ Nur, wer war es wirklich? Natürlich gab es haufenweise blonde Frauen. Echte und falsche, und Männer hatten auch viele und ich hätte schwören können, dass ein Großteil sie heftig betrog.

Einen grünen Sportwagen sah ich nicht, rund um das Friedhofsgelände und am Grab fand ich eigentlich nur Frau Morgenroth so richtig überzeugend. Irgendwie tat sie mir leid. Sie dachte immer noch, er hätte es verdient, so betrauert zu werden. Ich hielt mich hinter den Büschen verborgen und knipste alles, was mir vor die Linse kam. So blieb mir zumindest noch eine Hoffnung.

34. Szene
Magdalena

„Fühlst du dich eigentlich wohl in dieser Wohnung?“, fragte Bernhard auf einmal und stellte sein Glas auf den kleinen Tisch neben seinem Sessel.

„Ja natürlich, wir haben sie zusammen eingerichtet!“

„Es sieht ein bisschen wie in einer Räuberhöhle aus“, sagte er und lächelte. War das nett gemeint?

„Findest du?“ Rasch schaute ich mich um, was sollte dieser Vergleich?

„Hat Harry eigentlich ein Testament gemacht?“

Ich schüttelte den Kopf, wir waren jung, und wenn man jung ist, dann sterben immer nur die anderen.

„Ich werde mich darum kümmern, dass du alles behalten kannst“, versprach er und richtete sich auf.

„Na ja, also das wäre wirklich nett“, versicherte ich ihm und fühlte mich dennoch unwohl dabei.

Am Himmel hatten sich die Schäfchenwolken vermehrt und die Sonne verdeckt, darum stand ich auf und schaltete sämtliche Lampen an. Von wegen Räuberhöhle. Fünfundzwanzig Birnchen erstrahlten, keine aufdringlich, jede bewusst platziert. Bernhard staunte nicht schlecht, stand ebenfalls auf und durchschritt die ganze Wohnung. Vor den Tigersesseln hielt er erneut inne. „Glaubst du, sie würden zu mir passen?“

Ich wollte sie ihm auf keinen Fall überlassen, aber sein spitzbübisches Lächeln verunsicherte mich. Bernhard lächelte nur selten so.

Vielleicht war es doch noch nicht zu spät für ihn, dachte ich, vielleicht wurde doch noch ein richtig sympathischer Mensch aus ihm, wenn der Wahlkampf erst einmal hinter ihm lag und er Landrat war.

Endlich schüttelte ich den Kopf. „Aber wenn du jemals Sehnsucht nach ihnen hast, dann komm doch einfach vorbei!“

Und dann kam vom Hof das Zeichen zum Aufbruch. Ich hätte ihn gern noch gefragt, ob das erforderlich sei, aber in dem Moment sagte er mit kalter, entschlossener Stimme: „Ich hoffe, das ist nicht nötig!“

35. Szene
Klara

Zuerst war Obermüller ziemlich ungehalten über meine Bitte. Er sagte, das wäre ja das dämlichste, was er je gehört habe. Eine ganze Trauergesellschaft zu checken. Aber dann ließ er sich doch locken. Frischen Cappuccino gab es nicht alle Tage und einen halben Kuchen hatte ich auch noch für ihn besorgt.

Einen Teil der Bilder konnte selbst ich zuordnen: die Nachbarinnen, den Bruder, seine Frau und die Mutter - die Ärmste. Obermüller stellte mir die wichtigsten Obrigkeiten vor und wunderte sich hin und wieder über das Partei übergreifende Interesse. Bei manchen Bildern musste er passen, nahm sie aber an sich und versprach, sich darum zu kümmern. Sicher rechnete er beim Abschluss seiner Recherchen mit einer ebenso freundlichen Bewirtung.

Nachdem ich also auf diese Art noch nicht weitergekommen war, machte ich einen Spaziergang, vorbei an der Neuen Bischöflichen Residenz, in der der Domschatz ruhte, und lief dann ziellos über den Vorplatz des Stephansdoms. Als ich das große Tor erreichte, blies mir ein heftiger Wind ins Gesicht. Schnell drehte ich um. Zum Abschluss des Tages wollte ich noch zu Bernhard Kaufmann. Mal sehen, was der gestresste Bruder zu unseren Ermittlungen zu sagen hatte.

36. Szene
Klara

Warum freuen sich die Menschen eigentlich so selten, wenn sie mich sehen? Bernhard Kaufmann ging es wie den meisten. Er wirkte abweisend, blies die Backen auf, grummelte und schmatzte. Doch wirklich - aber es half ihm nichts, ich wollte hinein und das schaffte ich auch.

Das Haus lag in der Ilzstadt, hatte einen gepflegten Vorgarten und eine eindrucksvoll gestaltete Hausnummer. Eine Doppelgarage und ein Springbrunnen gehörten zur Vorderansicht, und obwohl hier zwei Kinder zu Hause sein mussten, war das Haus penibel aufgeräumt. Im Arbeitszimmer durfte ich mich auf einen Besucherstuhl setzen und dem Besitzer ein paar Fragen stellen.

Mein Gott, was für ein Unterschied. Wenn Harry Kaufmanns Körper ein Tempel war, dann war sein Bruder eine Ruine, zumindest sein Gesicht. Den Rest verbarg er geschickt in einem maßgeschneiderten Anzug. Ich fragte ihn nach seinem Wahlkampf und ob das alles nicht sehr anstrengend wäre. Dann erst schwenkte ich zum eigentlichen Thema um. Sein Bruder und er hätten kaum Kontakt gehabt, sagte er und wahrscheinlich war das noch untertrieben. Bei einem solchen Unterschied musste es einfach Spannungen geben. Ich wollte auch keine Schwester, die aussah wie Sandra Bullock. Bernhard Kaufmann war sehr schweigsam an diesem Abend, ganz anders als in seinen Wahlkampfreden.

Zum Sprechen bringen wollte ich ihn, erwähnte das Diazepam und den grünen Sportwagen, aber natürlich hatte er keine Ahnung, wo er doch so mit seinem Wahlkampf beschäftigt war. „Er war schon als Kind nicht ganz einfach, aber deshalb wurde er ja wohl nicht umgebracht!“

Als ich vor die Haustür trat, begann der Regen gerade die Luft zu reinigen. Es tat gut, obwohl er meine Frisur ruinierte. Bevor ich ins Auto stieg, warf ich noch schnell einen Blick zurück. Im offenen Garagentor erkannte ich die dunkle Limousine und einen mittelblauen Zweitwagen für die Ehefrau. Grün gab es auch hier nicht und ein aufgemotzter Sportwagen hätte im Grunde ja auch gar nicht zu ihm gepasst.

37. Szene
Magdalena

Lange noch nachdem Bernhard weggefahren war, saß ich im Sessel und dachte über die beiden Brüder nach. Die Wolkenfront hatte sich verdichtet und die ersten Blitze schossen mit lautem Donner vom Himmel. Bis auf zwei Stehlampen hatte ich alle Lichter wieder gelöscht. Ich saß gern im Dunkeln und sah dem Gewitter zu. Vor den Fenstern fegte ein heftiger Wind Blätter und kleine Zweige vorbei und schlug sie gegen die Scheiben. Das Prasseln des endlich einsetzenden Regens war wie eine Erlösung für meine wunde Seele. Waschtag! Ich holte mir ein Glas Wein, legte die Füße hoch und trank es schnell leer.

Auf einmal sah ich Harry. Die Hände fest zum Gebet gefaltet, in einem mit weinrotem Samt ausgeschlagenen Sarg. Wie auf ein Zeichen hin versuchte er sich gegen den Deckel zu stemmen, frische Erde drang zu ihm herein und bedeckte seinen Körper. Zum Zuschauen verdammt war ich bei ihm, bis sein Kopf mit einem breiten Lachen im blassen Gesicht durch den frisch aufgeworfenen Grabhügel herausschaute. Gemeinsam beobachteten wir, wie hinter ihm eine tiefe, schwarze Grube entstand. Aus den hohen Bäumen drang Juttas Stimme zu mir: „Wenn das Grab einstürzt, stirbt bald wieder jemand aus der Familie, der Tote holt sich einen Kameraden, einen Kameraden, einen Kameraden...“ Ich hielt mir die Ohren zu. Harry würde so etwas nie tun, er liebt mich doch, oder vielleicht gerade aus diesem Grund?

Jetzt hatte er mich erkannt, seine Züge hellten sich auf. Ich wusste, es war ein Traum, aber ich konnte ihn nicht beeinflussen, wiederholte immer wieder: „Harry, komm her, halt mich fest!“ Aber je mehr ich ihn mir herbei wünschte, um so weiter entfernte er sich.

„Magdalena, das ist kein Ort für dich!“, mahnte er mich und löste sich langsam im Nebel auf. Zurück blieb ein offenes Grab, das auf mich zu warten schien.

Als ich wieder zu mir kam, tat mir alles weh. Natürlich war das kein Ort für mich, aber auch nicht für ihn. Ich holte mir Sylvias Pillendöschen, doch bevor ich eine nahm, las ich auf dem Etikett:Trockenextrakt aus der Baldrianwurzel und alles mögliche. Von Diazepam keine Rede. Ich trank noch ein Glas Wein hinterher und legte mich ins Bett. An die Decke starrend, wartete ich auf den Schlaf, ahnungslos gegenüber dem, was in nächster Zeit auf mich einstürzen würde.