Dann stirb doch selber

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7. Szene
Magdalena

Julia hielt meine Beine in die Höhe und lächelte mich an. Sie hatte ein herrliches Lächeln, und von Berufs wegen konnte sie es auf Knopfdruck herbei zaubern. Ach bitte, Julia, zaubere doch die letzten Tage weg und gib mir meinen Harry zurück. Gesund und munter und ohne eine Schramme, dann kann er euch selber sagen, dass alles nicht stimmt, dass er mich nie betrogen hat und ihr euch das nur einbildet. Dann gäbe es keine Kommissarin mehr und keine dummen Fragen. Dann wäre alles wieder beim Alten. Und den hergerichteten Wagen könnte sie sich sonst wohin schieben.

Sylvia stand auf der anderen Seite des Sessels, ein Glas Wasser in der Rechten und zwei kleine Pillchen auf der ausgestreckten Linken. Energisch schüttelte ich den Kopf: „Ich brauche keine Pillen, erzählt mir lieber, was ihr wisst!“

Julia richtete sich auf. „Okay, du nimmst die Medizin, und ich erzähle dir, was du scheinbar als einzige von uns nicht weißt, obwohl ich das ehrlich gesagt nicht so recht glauben kann!“

Sylvia trat einen Schritt vor, steckte mir die Pillen in den Mund und hielt mir das Glas Wasser hin. Es fehlte nur noch, dass sie sagte: so ist es brav!

„Also“, begann Julia, während sie sich in den zweiten Sessel mir gegenüber setzte, die Hände in den Schoß legte und sich dann vorbeugte, „und ich schwöre dir, nichts anderes habe ich der Dame von der Polizei erzählt. Harry brachte ein paar Mal eine Frau mit, genauer gesagt, immer dieselbe. Sie war mittelgroß, blond, und ich fand sie nicht besonders toll. Aber gut, ich dachte mir, sie muss ja ihm gefallen!“ Julia legte die Stirn in Falten, während ich an ihren Lippen hing, um noch mehr zu erfahren. Mehr, um es endlich glauben zu können. Um mich noch besser zu quälen.

„Komisch fand ich eigentlich nur, dass sie immer so einen flachen, schwarzen Aktenkoffer bei sich hatte. Der passte überhaupt nicht zu ihrer sonstigen Aufmachung!“

„Wie lange ging das?“, fragte ich kraftlos und spürte das Pochen in meinem Kopf wieder stärker werden.

„Na ja, drei, vier Wochen vielleicht!“

Ich nickte. „Und warum habt ihr mir nie davon erzählt? Ich dachte, wir wären Freundinnen!“

Verlegen schauten sie sich an.

„Na ja“, ließ sich nun auch Sylvia zu einer Auskunft hinreißen, „zuerst war ich ja auch richtig sauer auf Harry, dachte, du alter Hurenbock, warum suchst du dir eine andere, wo du doch Magdalena hast, aber als ich ihn darauf ansprach, schien es mir auf einmal ganz plausibel, obwohl ich dir das, ehrlich gesagt, nicht zugetraut hätte. Du machst immer so einen nüchternen, so einen korrekten Eindruck, und da passt so was überhaupt nicht dazu!“

Ich schnappte nach Luft, wie konnte Sylvia sich so ereifern.

Bevor ich mich rechtfertigen konnte, mischte sich Julia wieder ein. „Aber Harry hat uns dann doch davon überzeugt, dass es eine Überraschung wäre und du dich über diesen Besuch sehr freuen würdest und, na ja, ich hab in meinem Job schon soviel erlebt, warum dann nicht auch du? Möglich ist ja schließlich alles!“ Die beiden sahen sich an und nickten.

„Ihr meint, er tat so, als ob sie zu mir gekommen sei? Zum Kaffeeklatsch oder so?“, fragte ich ungläubig.

„Zum Kaffeeklatsch wohl eher nicht!“

8. Szene
Klara

Die Handtasche flog knapp am Bett vorbei und landete auf dem fleckigen Linoleumboden. O ja, Magdalena Morgenroth hatte mich aus der Fassung gebracht. Als gute Freundin wollte ich zu ihr gehen, sie trösten und ein wenig mit ihr über ihren Freund plaudern. Ich hatte sogar auf meinen Morgenlauf verzichtet, weil ich wirklich neugierig auf sie war. Doch was tat sie? Statt dankbar zu sein, klappte sie ihr Fotoalbum zu und ließ mich auch sonst nicht an sich heran. Einen grünen aufgemotzten Sportwagen kenne sie nicht. Ihr Harry Kaufmann war ein Heiliger und hatte natürlich keine Probleme, behauptete sie treuherzig.

Ich riss das Fenster auf und zündete mir eine Zigarette an. In der Pension war Rauchen verboten! Genussvoll sog ich das Nikotin in meine gefräßig Lunge. Tja. und dann kam mir die Idee mit der Frage, wo er denn eigentlich hin wollte an jenem Abend. Bingo! Sie wusste es nicht. Konnte es sein, dass ihr Harry untreu war? Kleine Rauchringe entströmten meinem Mund und brachten meine Häme zum Ausdruck. Es war schon toll, wenn man die Leute so schnell durchschaute. Wieder sog ich tief am Filter; es beruhigte mich, machte mich frei. Über mir wurde eines der alten Fenster aufgerissen. Mist! Die alte Schachtel kontrollierte mal wieder ihre Gäste. Hastig drückte ich die Zigarette im Fensterrahmen aus und wedelte die Luft weg.

„Frau Eibel, rauchen Sie etwa im Zimmer?“

„Äh, nein nein, ich lüfte nur meine Sachen von gestern Abend. Die Kneipe war so verräuchert!“

„So! Na ja, Sie waren ja auch ganz schön spät dran, heute früh!“

„Es war 2 Uhr!“ Oh, wie hatte ich die alte Schachtel satt.

„Das nächste Mal sind Sie aber etwas leiser auf der Treppe, der Herr Berthold aus dem Parterre hat sich nämlich beschwert!“

„Ja, ja!“ Ich schlug das Fenster zu und schaute auf meine Rumpelkammer. Neben dem wuchtigen Eichenbett standen zwei wuchtige Eichennachtschränkchen, obwohl ich doch sowieso keinen Herrenbesuch mitbringen durfte. Gegenüber nahm eine Kommode mit Spitzendeckchen und Glasplatte die halbe Wand ein, und außer dem Kleiderschrank neben der Tür gab es noch einen Fernseher, drei Wandhaken und ein kleines Tischchen mit zwei Stühlen. In meinem Büro war es wohnlicher. Aber immerhin hatte ich eine eigene Dusche und musste nicht wie Herr Berthold aus dem Parterre das Gemeinschaftsbad benutzen. Ich öffnete die Tür und wusch mir die Hände.

Um Näheres herauszubekommen, hatte ich Frau Morgenroths Nachbarinnen einen Besuch abgestattet. Die eine war superschön, ja geradezu perfekt. Mein erster Eindruck: sie verbringt auf jeden Fall mehr Zeit vor dem Spiegel, als mit reeller Arbeit. Die andere, na ja. Sie würde gut auf einen Ökohof passen. Aber immerhin waren sie nett und sehr loyal. Das mit der blonden Frau gaben sie gleich zu; taten so, als ob das gar nichts Besonderes wäre. Name und Adresse kannten sie natürlich nicht und wiedererkennen würden sie sie auch nicht, es sei ja immer so dunkel im Hausgang. Es war immer die alte Leier!

Ich zog meine Hose aus und hängte sie sorgfältig auf einen Bügel, dann fischte ich im Schrank nach einer Jogginghose. Ich wollte testen, ob meine Lungen noch mitmachten, und außerdem musste ich aus dem Mief der alten Schachtel raus. Mit Inlineskates an den Füßen stieg ich die Treppe hinunter. Sie würden auf den Stufen Gummistriemen hinterlassen, aber das war mir so-was-von-egal! Und am nächsten Samstag wollte ich auf jeden Fall wieder auf Wohnungssuche gehen.

9. Szene
Magdalena

Durch meinen wirren Traum tanzte ein blondes Haarbüschel, verhöhnte mich und riss mich schließlich aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen und begann wieder nach einer Erklärung zu suchen. Das tat ich schon, seit Julia und Sylvia gegangen waren, und war dabei eingeschlafen. Allein der Gedanke an eine andere Frau schien mir völlig absurd, selbst wenn Harry den beiden davon erzählt hatte.

Mein Nacken schmerzte von der unbequemen Haltung im Sessel. Ich zog die Schultern hoch und ließ sie kreisen, bis die Gelenke knackten. Ein fürchterliches Geräusch, das auch nicht dazu geeignet war, mich auf bessere Gedanken zu bringen. Wie fühlte es sich an, wenn sämtliche Knochen im Körper brachen, wenn man mit voller Wucht gegen einen Betonpfeiler knallte? Nach dem ersten Schock wollte ich Harry noch einmal sehen, mich verabschieden, aber Sylvias Urologe hatte mir davon abgeraten, er meinte, ich solle ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Doch genau deswegen musste ich wissen, was passiert war. Wenn er sie in unserem Bett verführt hatte, würde ich ihm das nie verzeihen.

Julia hatte von einem flachen, schwarzen Aktenköfferchen erzählt, so eines hatte ich hier aber noch nie gesehen. Harry benutzte für seine Unterlagen immer einen silbernen Koffer, mit Zahlenschloss und gepolstertem Tragegriff. War mal ein Superangebot gewesen, bei Abnahme von fünf Stück gab es einen gratis, und Harry hatte sich damit eingedeckt. Einen davon bekam Anna geschenkt, mit dem Versprechen, irgendwann einmal mit ihr zu verreisen, und einen weiteren sein Freund „Jarock“, der Werkstattleiter, der eigentlich Jakob Rockmann hieß und der trotzdem weiterhin seine Sachen in einer alternativen Stofftasche mit sich herumschleppte.

Wenn Harry auf Tour ging, nahm er seinen Koffer immer mit, und wenn die Dame auch einen Koffer bei sich hatte, dann war sie vielleicht eine Kollegin.

Erleichtert tippte ich mir an die Stirn. Das war die Lösung, die blonde Kofferträgerin war nur zu geheimen Vorgesprächen im Haus, es weiß ja jedes Kind, wie schwierig es heutzutage ist, einen neuen Programmierer anzuwerben.

Ich lief durchs Schlafzimmer ins Bad und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, danach kämmte ich meine Haare, bis jede Strähne in einem anderen rotbraunen Ton schimmerte. Harry hatte meine Haare immer geliebt, er fand sie so schön griffig; und blond kam in seiner Wunschvorstellung ohnehin nicht vor. Und weil mich in diesem Moment wieder die Traurigkeit umklammerte, ging ich ins Schlafzimmer zurück, holte den braunen Pulli unter der Decke heraus und drückte mein Gesicht in die kratzige Wolle. Was auch immer sie dir anhängen wollen, ich werde es nicht zulassen.

In diesem Moment glaubte ich fest an meinen Schwur. Und je eher ich damit begann, die anderen davon zu überzeugen, desto besser war es für alle!

10. Szene
Klara

Entlang der Donau verläuft ein wunderschöner Radweg, und meine Pension lag nicht weit davon weg. Mit weit ausholenden Bewegungen nahm ich Tempo auf und ließ mich auf meinen Inlinern dahingleiten. Es war gut, alles hinter sich zu lassen. Am Gürtel hing mein Handy für Notfälle und eine Flasche mit Powerdrink. Während ich so dahinfuhr und mir lauter glückliche Menschen begegneten, dachte ich über den Verkehrsunfall nach. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, warum Harry Kaufmann nicht ausgewichen war.

 

Auf einer Bank machte ich Halt, atmete tief durch und rief Christina an. Sie war nach meiner Scheidung das Einzige, was mir geblieben war. Einundzwanzig Jahre alt und genauso aufreibend wie mein Beruf. Ich versuchte erst gar nicht, nach dem Studium, den Topfpflanzen oder dem Zustand meines Wohnzimmerteppichs zu fragen. Aber ich wünschte mir, sie hätte ein bisschen mehr Ordnungssinn. Christina sagte, es ginge ihr gut, und warum ich mir nur immer soviel Sorgen um sie machen würde, schließlich hätte sie doch so viele Freunde, die sich um sie kümmerten!

Im Grunde waren genau diese Freunde mein größtes Problem.

11. Szene
Magdalena

Eine Viertelstunde später stand ich in Sylvias Küche und schaute vom Tisch aus zu, wie sie einen Klumpen Teig mit beiden Händen auf die Arbeitsfläche knallen ließ.

„Sie macht Apfelstrudel!“, erklärte ihre Tochter Anna, die mir die Tür geöffnet hatte. Vom Backen hatte ich eben soviel Ahnung wie vom Kochen. Sylvia griff in die aufgerissene Mehltüte, bestäubte ihre Hände und nebenbei auch ihr T-Shirt, dann hob sie den Teig hoch, um ihn erneut auf die Platte zu schmettern. Anna setzte sich an den Tisch und begann mit einem Küchenmesser Äpfel klein zu schneiden. Sie war erst vor drei Wochen sechs geworden und für ihr Alter ausgesprochen geschickt.

„Ist es schlimm?“ Anna schaute mich abwartend an.

„Was?“, fragte ich zurück und sah zu, wie sie mit ihren kleinen Fingerchen den Apfel auf einem Brettchen gewissenhaft klein schnitt.

„Mit Mama!“ Ich warf einen Blick ins Zimmer, konnte aber keine besonderen Anzeichen für eine Verstimmung feststellen. Der große Wohnraum war im Grundriss dem unseren sehr ähnlich, allerdings wies er weniger Luxus auf. Statt eines Kamins hatte Sylvia einfache Kiefernholzregale als optische Trennwände aufgestellt. Dahinter stand ihr Bett. Das einzige abgeschlossene Zimmer gehörte Anna. Überall herrschte Chaos, doch das war hier immer so, ich hatte es nie anders erlebt.

Ich schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf?“

„Mama sagt, Harrys Seele ist jetzt ein Schmetterling. Glaubst du das auch?“

Unentschlossen hob ich die Schultern. „Ja, es könnte sein!“ Harry hätte diese Erklärung sicher gut gefallen. Er glaubte nicht an die Inszenierung, die die heilige katholische Kirche für uns Sünder nach unserem Tod bereit hielt; er war ein Romantiker.

Sylvia begann den Teig geschickt mit ihren Händen auf der Arbeitsfläche auszuziehen. Ich stand auf und sah ihr über die Schulter hinweg zu. Der Strudelteig wurde dünner und dünner, ließ sich in alle Richtungen ziehen, so wie ich, nur dass er sich nicht beklagte, nicht weinte und niemandem eine Szene machte. Und plötzlich fiel mir wieder ein, warum ich herübergekommen war.

„Eigentlich wollte ich dir sagen, dass Harry euch auf den Arm genommen hat!“, erklärte ich hinter ihrem Rücken. „Ich verstehe ja euer Misstrauen, aber er hatte wirklich immer nur mich!“

Sylvia zog weiter und weiter, schien mich gar nicht zu hören, und plötzlich klaffte in der Mitte ein großer Riss.

„Was bist du doch naiv!“, nuschelte sie vor sich hin und versuchte das Loch zu stopfen.

„Wie meinst du das?“

„Ach vergiss es!“ Sie ließ von ihrem Teig ab und fischte aus dem Küchenschrank ein kleines Gläschen mit eben jenen Pillchen, die sie mir erst kürzlich so dringend ans Herz gelegt hatte. Mechanisch steckte sie zwei davon in den Mund und schluckte sie runter. Warum sie das tat, war mir völlig unklar, aber an Sylvia war manches unklar. Obwohl sie ihren burschikosen Typ noch kräftig mit einem kinnlangen Haarschnitt und einfacher Kleidung unterstrich, gab es immer wieder Anzeichen von rauschenden Nächten mit geheimnisvollen Liebhabern. Erst kürzlich hatte ein Blumenbote bei mir geklingelt und einen riesigen Strauß roter Rosen für Sylvia deponiert. Als ich ihn ihr später vorbeibrachte, konnte sie ihre Verlegenheit nur schwer verbergen, was eigentlich gar nicht zu ihr passte.

„Kommt Harry jetzt nie mehr wieder?“, fragte Anna vom Tisch aus. Sie hatte uns die ganze Zeit beobachtet. Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben sie. Anna hatte Harry sehr gern gehabt, und seit er ihr das Fahrrad geschenkt hatte, liebte sie ihn geradezu abgöttisch.

Er wollte so gern ein eigenes Kind haben und bei ihm alles besser machen. Nun, das wollte ich auch, aber erst, wenn wir es uns auch wirklich leisten konnten und nicht mehr auf meinen Verdienst angewiesen waren. Anna schaute mich in echter Verzweiflung an.

„Nein“, sagte ich, weil ich es nicht gut fand, wenn man kleine Kinder anlog, und außerdem hätte sie es früher oder später ja auch selbst herausgefunden. „Aber ich glaube, da, wo er jetzt ist, geht es ihm sehr gut.“

„In echt, oder sagst du das nur?“

Mir standen die Tränen in den Augen, nur mit viel Mühe konnte ich sie zurückhalten. Schließlich nickte ich heftig: „In echt, Anna!“

12. Szene
Klara

„Jetzt sagen Sie nur, Sie haben bei dem schönen Wetter nichts anderes zu tun, Frau Eibel!“ Der alte Swoboda schob seine Brille auf der Nase zurecht und sah mich kritisch an. Man konnte ihm schlecht etwas vormachen. Swoboda war früher selber im Außendienst, bis ihn eine Kugel im Oberschenkel erwischte und er sich freiwillig in den Innendienst und schließlich in die Portiersloge zurückgezogen hatte. Geblieben war sein kriminalistisches Interesse.

„Mir lässt der Verkehrsunfall keine Ruhe! Wie kann ein Sportwagen ein so großes Auto einfach so von der Straße drängen?“

„Er war noch jung, was?“

„Ja, das auch“, fügte ich hinzu und stieg die Treppe hinauf. Ich legte die Tasche auf den Schreibtisch und ließ den Computer anlaufen. Magdalena Morgenroth lebt in einem Märchenschloss, zu gut für diese Welt, dachte ich. Sie nahm doch tatsächlich einen Wollpulli mit ins Bett. Ich war überzeugt, das Mädchen musste noch viel lernen. Das Leben ist hart, und je schneller sie es kapierte, desto weniger tat es ihr weh. Obwohl wir Mütter Töchter bräuchten wie sie, das gäbe uns Grund zum Investieren.

Bei Sylvia Nigl gab es keine besonderen Eintragungen. Sie arbeitete als Krankenschwester und hatte eine Tochter. Ich sah sie vor mir. Besonders interessant schien mir ihr Leben nicht zu sein. Oder irrte ich mich? Den Namen von Julia Fabriosa hatte ich noch nicht ganz eingegeben, da stürzte das Programm ab. Verdammt, seit wir das neue Datenprogramm benutzen, ging so viel schief. Ich versuchte es noch zwei Mal, dann gab ich auf. Immerhin war Sonntag.

Im Hemingway´s war wenig los. Ich hatte gehofft, Obermüller zu treffen. Obwohl ich verheiratete Männer in der Regel mied. Sie jammerten gern und waren dann doch satt von ihren Familien. Aber allein der Gedanke an ihn zeigte mir, dass es an der Zeit war, mir mal wieder einen richtigen Kerl ins Bett zu holen. Egal, was die alte Schachtel dazu meinte. Also setzte ich mich an den Tresen und bestellte ein Bier, und weil dann noch immer kein richtiger Mann in Sicht war, noch eines.

Montag 19.8.
13. Szene
Magdalena

Gleich nach dem Erwachen begann ich Harry zu vermissen. Meine Hand wanderte ruhelos über das Kissen neben meinem, und um nicht noch mehr zu leiden, stand ich auf, nahm meine Vitamintabletten und spülte sie mit einem Glas Orangensaft hinunter. Dann ging ich ins Schlafzimmer und wählte aus meiner dezent-schicken Bürokluft ein besonders trostlos graues Kostüm. Einerseits schien es mir völlig unmöglich, unter Menschen zu gehen, andererseits brauchte mich mein Chef dringend. Automatisch griff ich nach der dazugehörigen Unterwäsche. Sie war ebenfalls dunkelgrau und bestand aus feiner Spitze, der Tanga zeigte viel Haut, und der BH gab meinen Brüsten eine knackige Form. Dazu gehörten dunkelgraue Strümpfe mit einem Rosentattoo an der rechten Fessel. Harry gefielen solche Dinge, sie machten ihn ganz verrückt! Ich setzte mich auf die Bettkante, betrachtete die feine Wäsche in meiner Hand und dachte daran, was passiert war, als ich sie das letzte Mal trug.

„Na, wen willst du denn heute um den Verstand bringen?“ Harry war quer über das Bett zu mir gekrabbelt und hatte mich von hinten umarmt. Vorsichtig schaute ich mich um. Ich hatte das Gefühl, seine Hände wanderten in diesem Moment ganz leicht über meinen Körper und hinterließen einen heißen Schauer auf meinem Rücken. Ein Versprechen, das er für gewöhnlich einlöste.

... Als ich an diesem Abend heim fuhr, war ich vollauf zufrieden. Mein Chef hatte mir seine Privatrechnungen zum Buchen gebracht; das hatte er noch nie getan, er zeigte mir damit, wie viel Vertrauen er in mich setzte. Stolz hatte ich mich an die Arbeit gemacht, auch wenn es mich zwei Stunden meines Feierabends kostete. Auf der Treppe erst spürte ich wieder meine Müdigkeit. Wie wunderbar wäre es jetzt, die Schuhe von den Füßen zu kicken und in einer Wanne voll duftenden Schaumes zu versinken, malte ich mir aus und steckte den Schlüssel ins Schloss. Dann erschrak ich! Ich hatte noch keine Zeit gehabt, ihn umzudrehen, da öffnete sich die Tür bereits von innen. Aus dem Dunkel heraus ergriff mich eine Hand und zog mich hinein. Vor Schreck ließ ich meine Tasche fallen. Eine zweite Hand legte sich mir auf den Mund und brachte mich mit einem drohenden „Schsch!!!“ zum Schweigen. Gehorsam folgte ich. Der Mann war groß und kräftig und wusste genau, was er wollte. Mit geübten Fingern band er mir ein Tuch um die Augen, zog mir Jacke und Rock aus und führte mich ins Wohnzimmer. Ich fühlte mich schutzlos und gleichzeitig erregt. Es war eine wunderbare Mischung. Auf einmal blieb er stehen und drückte mich hinunter auf die Knie. Reglos wartete ich ab. Ich hörte das Rascheln von Stoff und das Öffnen eines Reißverschlusses, dann spürte ich eine zarte Berührung auf meinen Beinen und gleich darauf das heftige Schnalzen meiner Strumpfbänder. Meine Anspannung wuchs, bis ich an den Schultern gepackt und grob auf die Sitzfläche eines Stuhles gedrückt wurde. Vor Schreck und Lust schrie ich auf, spürte den Übergriff und ...

Tief Luft holend versuchte ich mich wieder zu beruhigen. Mit weit geöffneten Augen saß ich noch immer auf dem Bett, die zarte Wäsche in der Hand, und versuchte verzweifelt, meine Erinnerung abzuschütteln. Ach Harry, dachte ich, wie soll ich nur ohne dich weiterleben?

Energisch legte ich die Sachen in die Schublade zurück und wählte etwas Schlichteres. Alles andere wäre jetzt unpassend gewesen.

Autofahren erschien mir an diesem Morgen als zu große Bedrohung; darum beschloss ich, den Bus zu nehmen. Bei einem letzten Blick in den Spiegel sah ich: Mein Anblick war grässlich. Die Augen zierten dunkle Ringe, die Wangen waren eingefallen und meine Hautfarbe in ein fahles Grau getaucht. Meine Mundwinkel zuckten, und obwohl ich es zu unterdrücken versuchte, gelang es mir nicht, was mich zusätzlich ärgerte.

Als ich das Firmengelände erreichte, kam mir Sepp entgegen. Er war unser Hausmeister.

„Es tut mir ja so leid, Magdalena! Und ich wollte Ihnen nur sagen, wenn Sie mal Hilfe brauchen, bin ich immer für Sie da!“ Ein wenig linkisch reichte er mir die Hand. Ja, sagte ich in Gedanken, mir tut es auch sehr leid.

Tapfer öffnete ich die große Glastür und ging an den Vitrinen mit den Ausstellungsstücken aus der Produktion vorbei. Sie waren neu gestaltet und erinnerten mich an futuristische Handschellen, was sie aber sicher nicht waren.

Am Empfangsschalter saß Jutta Ackermann. Sie schien sehr beschäftigt, und das war mir nur recht. Vielleicht konnte ich mich ungesehen in mein Büro schleichen, vielleicht ... sie sah auf, strich ihre Haare hinter die Ohren und lächelte aufmunternd.

„Magdalena, wie schön! Ich hab dem Chef gleich gesagt: Du lässt uns nicht im Stich.“ Sie kam um den Tresen herum und drückte mich kurz an ihre mütterliche Brust.

„Ach weißt du, daheim halte ich es nicht aus, alles erinnert mich an Harry.“ Noch einmal drückte Jutta fest zu.

„O ja, das kann ich gut verstehen.“ Mitfühlend schaute sie mich an. „Es ist alles so furchtbar, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Wieder drückte sie mich an ihr großes Herz, und mir blieb nichts anderes übrig, als hilflos mit den Schultern zu zucken.

 

Jutta ließ mich los und hielt lediglich meine Hände noch in den ihren. Mir war zum Heulen.

„Wie konnte so was nur passieren?“

Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. „Ich weiß es nicht“, hauchte ich, und dann riss ich mich hastig von ihr und diesem Gespräch los, nuschelte eine Entschuldigung, lief kopflos in mein Zimmer, schlug die Tür hinter mir zu und lehnte mich von innen mehrere Minuten lang dagegen. Wie konnte so was passieren? Sie suchen einen dunkelgrünen Sportwagen, hatte die Kommissarin gesagt. Ich stieß mich von der Tür ab und schaute aus dem Fenster auf den Firmenparkplatz. Dort gab es keinen dunkelgrünen Sportwagen. Ich griff nach der Messinggießkanne, um die Blumen auf dem Fensterbrett zu gießen und mich abzulenken. Mein Arbeitstag hatte begonnen. Ich holte den Schlüssel für meinen Schreibtisch aus der Tasche, öffnete meine Kostümjacke und setzte mich hin. Vornüber gebeugt verstaute ich meine Handtasche in der untersten Schublade. Während ich ein paar Notizen von der vergangenen Woche sortierte, begann mein Kopf wieder frei zu werden.

Arbeit, Müßigkeit und Ruh schließt dem Arzt die Türe zu! Ein Lieblingsspruch meiner Mutter. Endlich hatte er Geltung. Zumindest, bis Stella kam.

„Mein Beileid, und das ist vom Chef!“ Achtlos knallte sie mir einen Packen Papiere auf den Schreibtisch. Empört drehte ich mich um. Wie fast immer trug sie ein buntes Shirt, heute mit Ärmel, und ein kurzes Flatterröckchen. „Du sollst dich gleich mal drum kümmern, meinte er!“

„Danke“, sagte ich höflich.

„Na, schau es dir erst mal an.“ Sie zeigte auf den Stapel.

„Ich meinte dein Beileid“, antwortete ich kühl.

„Ach so ja. Geht’s dir gut?“ Gleichgültig schaute sie mich an.

„Na klar!“, behauptete ich, oder hatte sie gedacht, dass ich ausgerechnet vor ihr das große Plärren inszenieren würde?