Dann stirb doch selber

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4. Szene
Klara

Die Zielstrebigkeit, mit der sie versucht haben, ihre Karriere zu zerstören, grenzte beinahe schon ans Selbstmörderische! Mit diesen Worten wurde ich unehrenhaft von München nach Passau versetzt. Natürlich stand es so nicht in meinen Akten, aber ein Brandmal hatte ich trotzdem. Entsorgt ins Grenzgebiet! Menschlich noch immer schwer enttäuscht, schob ich die Papiere auf meinem Schreibtisch zusammen.

Leicht war es mir nicht gefallen, München zu verlassen, doch dann kam mir eine andere Katastrophe zu Hilfe. Passau wurde vom Frühjahrshochwasser heimgesucht. Leise konnte ich mein Zimmer beziehen, dankbar dafür, dass mich kaum einer zur Kenntnis nahm und ich in Ruhe meine Wunden lecken durfte.

Inzwischen hatte ich das alte Polizeipräsidium in der Ludwigstraße lieben gelernt. Alte Häuser hatten für mich schon immer etwas ganz Besonderes. Ich mochte das Knarzen der Dielenbretter und die leicht zugigen Fenster. Die hohen Räume gaben mir ein Gefühl von Freiheit; Erker und Rundbögen sprachen für Phantasie. Der übervolle Schreibtisch war eine Herausforderung, der ich mich gewachsen fühlte und schnell nachkam. Das einzige, was mich manchmal traurig stimmte, war die heruntergekommene Pension, in der ich schlief. Die Hoffnung, irgendwann einmal wieder in meiner schönen Wohnung in München zu leben, hatte ich noch nicht völlig abgeschrieben, obwohl doch eigentlich alles dagegen sprach.

Obermüller schlurfte über den Gang, riss mich aus meinem Selbstmitleid und zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Er war ein hinreißender Kollege, wenn er auch manchmal nicht gleich verstand, worum es eigentlich ging. Bei einer ausgiebigen Streckübung beschloss ich, mir noch einen letzten Kaffee und damit etwas Abwechslung zu gönnen.

Ich steckte eine Münze in den Automaten im Erdgeschoss und sah zu, wie der Kaffee in meinen Becher tröpfelte. Obermüller stand mit dem Kollegen Wegerbauer an einem der kleinen Bistro-Tischchen und hatte mir seinen Rücken zugewandt. Zwischen ihnen qualmte eine Zigarette im Aschenbecher. Seit ich München verlassen hatte, versuchte ich, sozusagen als selbst auferlegte Strafe, mir das Rauchen abzugewöhnen. Mal hatte ich mehr, mal weniger Erfolg.

„Ich kann’s immer noch nicht fassen, der hat den einfach an den Pfeiler klatschen lassen!“ Obermüllers Körper wurde von einem Schauer geschüttelt. Vorsichtig nippte ich an meinem Kaffee. Der Automat hatte es mal wieder zu gut mit mir gemeint.

Wegerbauer war ganz auf seinen Kollegen fixiert. „Eigentlich müssten wir noch einmal zu der Freundin, ich hab richtig Angst, die war ja so was von fertig. Wenn ich an ihren Schrei denke, kriege ich eine Gänsehaut!“

Obermüller nickte. Er war schon ewig hier, wie er mir kürzlich bei einem Bier im Hemingway´s erzählt hatte. Als geographische Einführung hatte er mich an alle wichtigen Punkte der Stadt geführt und versucht, mich unter den Tisch zu trinken. Aber so leicht, wie sich das manche Männer vorstellen, ist es bei mir nicht.

„Ich weiß nicht, was ich täte, wenn einer meine Frau so an einen Betonpfeiler drücken würde.“

Mit einem schmalen Plastiklöffel rührte ich den Zucker um, trank erneut und musste husten.

„Ah, Kollegin Eibel!“, begrüßte mich Obermüller und schenkte mir ein gefälliges Grinsen. Dabei könnte ich schwören, dass nichts zwischen uns passiert war.

„Frau Fertigmann!“, ergänzte Wegerbauer und nickte mir zu. Für Doppelnamen hatten die beiden ebenso wenig übrig wie für Gesetzesbrecher. Obermüller war bekannt dafür, dass er nach einer Schlägerei auch schon mal zwei auf einen Streich zur Vernehmung brachte. Fein ging er dabei nicht vor, aber das verdienten sie seiner Meinung nach auch nicht. Ich konnte mir also gut vorstellen, was er wohl mit dem Autofahrer machen würde.

„Guten Abend Kollegen, gibt’s Probleme?“

Obermüller reckte sich. „Nun ja, eigentlich nicht, aber wir überlegen gerade, ob unser Fall nicht viel besser in den Händen einer Frau aufgehoben wäre!“

Er warf Wegerbauer einen beschwichtigenden Blick zu. In die Hände einer Frau gehörten eigentlich nur schmutzige Kaffeetassen, Schreibarbeiten und ein unbefriedigter Willi, aber das meinte er sicher nicht. Abwartend schaute ich ihn an. Der Kaffeeduft reizte mich. Langsam trank ich noch einen Schluck und hakte mich dann mit meinem freien Arm bei Obermüller unter. Er hatte einen Körper wie ein Kleiderschrank, bestimmt würde sich, wenn er dabei war, keiner trauen, seiner Frau auch nur ins Gesicht zu husten.

„Na, dann schildert mir mal die Fakten!“, forderte ich, während wir in sein Zimmer zurückschlenderten.

Wegerbauer schlüpfte vor uns hinein und suchte auf seinem Schreibtisch herum. „Der Unfall passierte gestern Abend gegen 21 Uhr auf der Straße von Passau nach Regen. In Höhe Patriching fuhr ein blauer Van gegen einen Betonpfeiler. Die Kühlerhaube wurde völlig eingedrückt, der Fahrer muss sofort tot gewesen sein. Wir haben einen Zeugen, der aussagte, dass ein grüner Sportwagen direkt hinter dem Verunglückten herfuhr und ihn kurz vor dem Pfeiler von der Straße abgedrängt hat.“

Wegerbauer sah Obermüller erwartungsvoll an. Der nahm ihm das Blatt aus der Hand und fasste weiter für mich zusammen.

„Es gibt keine Hinweise, dass etwas gestohlen wurde, und der Zeuge schien mir auch nicht wirklich glaubwürdig. Er sagte, er hätte es ja nur von hinten gesehen, aber da sei der Sportwagen wirklich geil hergerichtet gewesen.“ Obermüller sah auf das Blatt mit der Zeugenaussage: „...ausladende Kotflügelverbreiterungen, einen großen Heckflügel, Heckenschürze mit weiß laudierten Alugittern und einem Doppelrohrauspuff. Das Nummernschild hat er sich leider nicht gemerkt!“

Ich hatte schon davon gehört, konnte es aber nicht verstehen. Ausgerechnet im ländlichen Bereich, wo so viele Bodenunebenheiten sind, motzen sich die Kerle ihre Autos auf. Sie investierten ihre ganze Kohle in die Schlitten und würden nie auf die Idee kommen, sie freiwillig zu demolieren.

Ich nahm das Blatt und las alles noch einmal selbst durch. Der Zeuge gab an, dass der Wagen richtig brutal von der Straße abgedrängt worden sei, er hielt es für Vorsatz. Warum sollte das jemand tun, noch dazu auf einer so befahrenen Straße, er musste doch davon ausgehen, gesehen zu werden? Ich legte das Blatt zurück.

„Was habt ihr bis jetzt unternommen?“

„Die Leiche ist bei der Obduktion, das Auto bei der Spurensicherung, und die vage Beschreibung ging als Fahndung raus!“

„Auf jeden Fall sollten wir mit der Freundin reden. Wenn es aus Rache geschah, dann hat sie das Auto ja vielleicht schon mal irgendwo gesehen!“

Obermüller sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. „Aus Rache, wie kommst du denn darauf?“

„Ein anderes Motiv für eine solche Tat fällt mir momentan leider nicht ein.“

„Aus Rache!“, wiederholte Wegerbauer ungläubig und sah Obermüller an. „Natürlich, sie hat recht!“

Sonntag 18. 8.
5. Szene
Magdalena

Benommen schreckte ich hoch, es hatte an der Wohnungstür geklingelt, und obwohl die Vorhänge zugezogen waren, sah ich, dass es bereits hell war. Sylvia war gestern noch einmal da gewesen, um mich mit Tabletten zu füttern, die mir die Nacht erträglich machen sollten. Sie wirkten wirklich wunderbar, aber sie machten mich auch träge und nahmen mir die Wahl meiner Gedanken. Ich beschloss, sie nicht mehr zu nehmen. Noch einmal klingelte es an der Tür. Verschlafen sah ich auf den Wecker. Wer mochte mich so früh an einem Sonntagmorgen sprechen? Ich schwang die Beine aus dem Bett und fiel beinahe über einen großen braunen Pulli. Harrys Pulli, und er roch einfach wunderbar nach ihm. Schwerfällig hob ich ihn auf und drückte ihn kurz an mich. Er war selbstgestrickt und Harry hatte ihn die Kratzbürste getauft, nachdem er endlich fertig war. Trotzdem trug er ihn oft und gern. Ich legte ihn aufs Bett und schlurfte zur Tür. Harry hatte im Traum gesagt, ich solle gut auf mich aufpassen. Warum träumte ich so etwas?

Im Gang warf ich einen kurzen Blick in den Spiegel. Mein Anblick war fürchterlich und in meinem ganzen Bekanntenkreis gab es nur eine Frau, die wohl niemals in einem solchen Zustand an die Tür gegangen wäre. Julia. Ihre Wohnung lag zwischen Sylvias und unserer. Sie war sozusagen die Pufferzone. Sonst wären zwei völlig konträre Welten aufeinander gestoßen. Julia imponierte mir, weil sie die vorurteilsfreieste Frau war, die ich kannte, und vollkommen tolerant gegenüber allen Andersartigkeiten ihrer Mitmenschen. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, und außerdem war Julia gestern schon einmal hier gewesen. Und gestern sah ich bestimmt keinen Deut besser aus als heute. Es läutete abermals.

„Ich komme!“, rief ich und kämmte mir die Haare eilig aus dem Gesicht. Während ich die Bürste hinlegte, öffnete ich mit der freien Hand die Tür. Ich erblickte eine Frau, die ganz sicher nicht Julia war, obwohl Julia wirklich sehr wandlungsfähig sein konnte. Die Frau trug eine weite Palazzohose und ein weißes Shirt, vermutlich aus Seide. Ihre Haare waren kinnlang und gewellt. Über der Schulter hing eine Handtasche. Verlegen strich ich meine Haare hinter die Ohren. Sie sah so taufrisch aus.

„Hauptkommissarin Klara Eibel-Fertigmann!“ stellte sie sich vor und hielt mir einen Ausweis entgegen. „Frau Morgenroth, ich würde gerne noch einmal mit Ihnen über den Unfall sprechen!“ Abwartend blieb sie im Türrahmen stehen.

Ich nickte. „Gehen Sie nur durch!“ bat ich und versuchte, während ich ihr folgte, vergebens, mein ausgebleichtes Nachthemd ein wenig in die Länge zu ziehen.

Sie mochte Mitte Vierzig sein und ging sehr aufrecht. Ob sie sich vorstellen konnte, dass ich vor lauter Sehnsucht nach Harry mit seinem dicken kratzigen Pulli ins Bett gegangen war?

 

Auf dem Esstisch lagen einige Fotoalben herum, die ich hastig schloss. Es ging sie nichts an.

„Entschuldigen Sie bitte das Durcheinander!“, sagte ich schlicht und räumte die Sachen ins Regal zurück, dann bot ich ihr einen der Tigersessel vor dem Kamin an.

„Geht es Ihnen heute wieder etwas besser?“, fragte sie und sah mich abschätzend an. Um sie zufrieden zu stellen, nickte ich.

„Okay!“, befand die Kommissarin, griff in ihre Handtasche und zog einen Notizblock heraus. Dabei fiel ein Bild auf den Boden. Es war ein schlechter Schnappschuss, so ein Bild hätte ich von Harry niemals mit mir herumgetragen. Sie klappte den Block auf und sah mich an.

„Es war kein Zufall, dass Harry Kaufmann an diesem Brückenpfeiler starb!“ Entsetzt sah ich sie an. Wie konnte sie mir das so ruhig an den Kopf werfen. „Wir haben einen Zeugen, der aussagte, dass das Auto hinter Ihrem Freund sehr dicht aufgefahren ist und ihn von der Straße abgedrängt hat. Das Auto war ziemlich markant, und ich dachte mir, Sie würden es vielleicht kennen.“

Die Kommissarin lehnte sich zurück und ließ ihre Hände bewundernd über die hölzernen Pranken gleiten. Dann erzählte sie mir etwas von Alufelgen und Heckschürzen.

„Was soll das sein?“, fragte ich irritiert.

„Das Auto war hergerichtet, und da jeder, der etwas fürs Herrichten übrig hat, sein Auto ganz individuell verschönert, ist es fast so gut wie ein Nummernschild!“

„Tut mir Leid, ich kenne niemanden, der sein Auto herrichtet!“

„Schade!“

Ja, schade, dachte ich. Harry war von einer blonden Frau abgelenkt worden, deshalb ist er an einen Brückenpfeiler gefahren, aber das werde ich ihr um nichts in der Welt sagen.

Wieder strich sie über die Holzpranken.

„Sie sind wunderschön!“ Ich nickte, ihre Nägel waren mit einem leichten Rosaton gestrichen und fein gefeilt.

„Gibt es vielleicht jemand, der sich an ihm rächen wollte? Wie war das Umfeld, in dem er sich bewegte, ist er womöglich in schlechte Gesellschaft geraten?“

Jetzt reichte es mir aber. Was wollte diese Frau eigentlich von mir? Ohne zu antworten ging ich ins Schlafzimmer, wollte mich anziehen, wollte meine Ruhe dabei haben.

Auf dem Fliesenboden folgten mir ihre Schritte; kalt und hart.

Ich ergriff das erstbeste Sweatshirt und zog es mir über den Kopf. Als ich durch den Ausschnitt war, stand sie ganz dicht vor mir. Ich roch ihr Parfum und ich roch den kalten Rauch, den sie aus allen Poren verströmte. Sie war aufgeregt, sie schwitzte!

„Hatte Harry Kaufmann Geheimnisse vor Ihnen? Versuchte er etwas zu verbergen, benahm er sich ungewöhnlich, war er vielleicht über etwas besorgt?“ Heftig bombardierte sie mich mit ihren Fragen.

„Besorgt?“

„Oder erfreut? Ja, hatte er in letzter Zeit besonderen Grund zur Freude? Gab es irgendetwas, das Ihnen merkwürdig vorkam?“

Natürlich hatte er Grund zur Freude, natürlich war er manchmal besorgt; nur ging sie das nichts an! Ich sagte es ihr, vielleicht um eine Spur freundlicher. Dann ging ich ins Bad, um mich zu kämmen. In dem Moment spürte ich zum ersten Mal ein heftiges Jucken in der Kniekehle. Verstohlen begann ich zu kratzen, aber es wurde dadurch nur noch schlimmer.

„Sie haben einen verdammt tollen Ausblick von hier oben!“ Sie stand schon wieder hinter mir und sah aus dem Fenster. Von unserer Wohnung aus konnte man die ganze Stadt überblicken. „Das ist sicher nicht ganz billig.“ Sie ließ ihren Blick über die in Marmor gefasste Badewanne wandern.

„Nein!“, sagte ich und überlegte, wie viel so eine Kommissarin wohl verdiente. Sollte ich sie danach fragen? Vielleicht steckte sie ja in Zahlungsschwierigkeiten und wollte Harry jetzt etwas andichten, um eine Gehaltserhöhung durchzusetzen!

„Wir fahnden bereits nach dem grünen Sportwagen, aber wenn Sie etwas wissen, wäre es wirklich besser, Sie sagen es uns!“

Für eine zierliche Frau hatte sie ganz schön große Ohren. Damit ich dich besser hören kann! Ich nickte ihr zu; die Grundvoraussetzung für gute kriminalistische Arbeit war ein gutes Gehör. Man musste in der Lage sein, Feinheiten herauszuhören.

„Frau Morgenroth!“, begann sie erneut, aber ich blieb störrisch, was sollten diese ganzen Fragen, Harry war beliebt, es gab niemanden, der ihm etwas zuleide tun wollte.

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich doch bitte an!“ Auf ihrer Karte stand: Klara Eibel-Fertigmann, ihre Adresse und die Durchwahlnummer ihres Büros. Dann ging sie allein Richtung Wohnungstür. Wir hatten nur eine, sie würde sich also nicht verlaufen, und ich hatte sowieso nicht die Kraft, ihr zu folgen. Reglos blieb ich am Waschbecken und wartete auf das Zuschlagen der Tür, das Zeichen, dass sie endlich weg war. Doch stattdessen stand sie plötzlich wieder vor mir und fragte: „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wo Harry Kaufmann an diesem Abend hin wollte?“

6. Szene
Magdalena

Hatte ich nicht! Obwohl ich mir diese Frage in den letzten Stunden immer wieder gestellt hatte. Nun saß ich am Esstisch, den Kopf in die Hände gestützt, starrte auf die Obstschale und dachte über Harrys letzte Fahrt nach. Hatte er mit ihr im Hof Halt gemacht oder war sie erst dort eingestiegen? Blond war eine Haarfarbe, die Millionen von Frauen trugen.

Am Morgen war Harry wie immer in sein helles Sakko geschlüpft und hatte sich noch einmal im Spiegel gemustert. Wie sehe ich aus, hatte er gefragt, und ich hatte ihm lachend bestätigt, dass ich keinen besser aussehenden Mann kennen würde.

„Auch nicht deinen Chef?“

„Auch den nicht.“ Es war rührend, wenn er den Eifersüchtigen spielte.

Mit dem silbernen Koffer war er davongefahren; wie immer, alles wie immer, und doch ... Ich nahm einen Apfel und warf ihn von einer Hand in die andere. Wie beim Tennis, von rechts nach links, von links nach rechts, von rechts nach links. Harry hatte am Wochenende an dem großen Tennisturnier in seinem Club teilnehmen wollen.

Das Klopfen an der Tür erschreckte mich. Der Apfel fiel aus meiner Hand, knallte mit einem satten Plopp auf den Boden und rollte weiter bis zum Kamin. Zweimal lang, zweimal kurz, Sylvias Zeichen. Mühsam erhob ich mich, seit Freitag fühlte ich mich nur noch müde und ausgelaugt. Hatte keine Kraft mehr, um irgendetwas sinnvoll anzupacken.

„Hast du deine Tabletten genommen?“ Es war tatsächlich Sylvia, und sie hatte noch nicht mal die Tür hinter sich zugemacht. Ich schüttelte den Kopf, sie verdrehte die Augen und zupfte nachdenklich an ihrem Hals. „Warum nicht?“, fragte sie schließlich.

„Sie machen mich matschig.“ Ich sah zu dem Apfel, der immer noch vor dem Kamin lag, „und sie nehmen mir die Möglichkeit, sinnvoll zu denken!“

„Es geht nicht immer alles logisch zu im Leben!“ Sylvia rieb sich die Arme, sie schien zu frieren. Ich hob den Apfel auf und legte ihn in die Obstschale zurück. Harry hatte sie gern gegessen, mir waren sie zu sauer.

„Warum hast du ihn hergebracht, er ist Urologe und hat überhaupt keine Ahnung!“

Sylvia setzte ihr Krankenschwesterlächeln auf.

„Was glaubst du wohl, was wir auf der Urologie so den ganzen Tag erleben? Da kommen nicht nur alte Herren, die Probleme beim Pinkeln haben, da geht es wirklich lebensnah zu, viel interessanter als auf der Gyn!“ Die alte Leier!

„Schon!“, antwortete ich vorsichtig, um mir nicht auch noch die neueste Geschichte irgendeines Sexbesessenen anhören zu müssen, der es mit dem Staubsauger versucht hat und sein bestes Stück anschließend wie Wackelpudding zum Verbinden bringen musste.

„Aber ich wollte auch keinen Gynäkologen! Ich wollte einen Menschen, der alles wieder ungeschehen macht!“

Sylvia ging zielstrebig ins Schlafzimmer. Verwundert schaute ich ihr nach. Die hellrote Radlerhose, die sie sich an diesem Tag auf die Hüften gezwängt hatte, saß ein wenig straffer als sonst, was natürlich auch an unserer Gemeinschafts-Waschmaschine liegen konnte, denn auch das T-Shirt hatte enorm an Farbe verloren und ließ nur noch schwer die einst bunten Blockstreifen erahnen. Ich sollte mit meiner Wäsche in nächster Zeit vorsichtiger umgehen, vielleicht war ja der Thermostat kaputt. Als sie zurück kam, hielt sie das kleine braune Glas mit den bunten Pillen in der Hand, die schon die letzte Nacht neben meinem Bett zugebracht hatten.

„Weißt du“, erklärte sie mir behutsam, „so auf die Schnelle ließ sich niemand finden, der über diese Fähigkeiten verfügt hätte, deshalb hielt ich es für das Beste, meinen Chef anzurufen! Der hatte sowieso Dienst und maulte nicht lange herum, weil er an einem Freitagabend noch mal seine Freizeit unterbrechen musste!“ Ich nickte. Das war ein Grund, das konnte ich einsehen!

„Na siehst du, so gefällst du mir schon besser! Und jetzt nimm bitte deine Tabletten, sie haben dir gestern geholfen und sie werden es auch jetzt tun!“ Wieder hielt sie mir eine Hand voll hin, und wieder schob ich sie weg.

„Nein, wirklich nicht, ich muss noch über einiges nachdenken!“

„Ach!“ Sylvia ließ ihre Hand sinken und sah mich erwartungsvoll an.

„Heute Morgen war eine Polizistin bei mir. Sie meinte, Harry sei von einem hergerichteten Auto von der Straße gedrängt worden. Ich kann das einfach nicht glauben, ich meine, es sah vielleicht so aus, aber das macht doch niemand!“

„Das hat sie mir auch erzählt. Und sie scheint auch noch ganz andere Sachen zu wissen!“

„Sie war bei dir?“

„Ja, und sie wollte wissen, ob Harry noch andere Frauen hatte.“ Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und grinste ziemlich blöd.

Meine Kniekehle juckte. „Nein! Du hast Nein gesagt, stimmt’s? Was sollte Harry auch mit einer anderen Frau!“ rief ich aufgeregt und wartete auf ihre Zustimmung.

„Ja, weißt du ...“, druckste Sylvia verlegen herum.

„Sylvia!“ Meine Stimme wurde vor lauter Aufregung einige Oktaven höher, und das hörte sich sogar für meine eigenen Ohren nicht sehr angenehm an.

„Was soll das, du weißt so gut wie ich, dass Harry mir treu war, er hätte nie...“ Mir liefen die Tränen übers Gesicht, und ich fügte kleinlaut hinzu, „er hätte wirklich nie!“

Sylvia ließ mich gewähren, legte lediglich die Stirn in Falten und dachte wohl, dass ich von allein dahinter kommen musste.

„Nun mach schon!“ Sie hielt mir erneut das Glas vors Gesicht, das durch meinen Tränenschleier wie eine bunte Mischung aus Geleefrüchten aussah, und forderte mich mit einer Kopfbewegung zum Zugreifen auf.

„Nein!“, schrie ich. „Ich will jetzt sofort wissen, was du ihr gesagt hast!“

Sylvia ließ mich mit meinem Wutausbruch stehen; es hatte geklingelt.

„Gut, dass du kommst, wir brauchen dich dringend, ich glaube, es bahnt sich eine Katastrophe an!“

Sie hatten leise gesprochen, aber ich hatte es trotzdem verstanden. Mein Gehör war kriminalistisch absolut tauglich. Leider!

Sylvia ließ Julia den Vortritt, was durchaus verständlich war. Wie ein frischer Wind tänzelte sie in den Raum und nahm alles durch ihre Persönlichkeit ein. Sie trug einen tief ausgeschnittenen schwarzen Body und einen mit roten Rosen bedruckten Wickelrock, der sich bei jedem Schritt weit öffnete. Dunkle Locken legten sich um ihr süßes Gesicht. Ich stand immer noch da, unfähig mich zu rühren. Was sollte Harry mit einer anderen Frau, er hatte doch mich?

Als sich unsere Blicke trafen, schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Hey, Kleines, was machst du für ein Gesicht, davon geht die Welt nicht unter. Einen Mann wie Harry hat man nun mal nicht für sich allein, der will bewundert werden!“

„Julia!“

„Ich weiß ja gar nicht, ob da was war, ich sah sie mal im Gang, komischerweise dachte ich, du wüsstest es. Ich hielt dich für tolerant.“

Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und hoffte, es läge vielleicht daran, auf keinen Fall wollte ich als zickig gelten. Vorsichtig griff ich nach der Sessellehne. Dann wurde es dunkel, und bevor ich endgültig das Bewusstsein verlor, hörte ich noch Julia sagen: „Du hast ihn doch am besten gekannt!“