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Kapitel III

»Fragen«

Die Neonröhre in dem kahlen Raum summte leise. Ihr grelles Licht ließ in den Ecken der Betonwände keine Schatten zu. An dem einen Ende des Raumes stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch war ein Schachspiel aufgebaut. Eine Frau in einem weißen Anzug saß starr vor dem Spiel und starrte ins Leere. Seit der Vereinigung mit ihrem Bruder Gabriel hatte Luzifer den Raum nicht mehr verlassen *). Zumindest körperlich nicht. Ihr Geist schwebte in einer Ebene, die die Alten den Nimbus nannten. Hier konnte Luzifer das Geschehen auf der Erde sehen und von Ort zu Ort eilen, ohne körperlich anwesend zu sein. Doch die Vereinigung mit ihrem Bruder hatte sie Kraft gekostet. Sie beide. Dank ihrer Kräfte war es ihr gelungen, Nahrung und Trinken von den verschiedensten Orten hierher, in diesen kahlen Raum eines russischen Raketensilos zu schaffen, und einen Verfall ihres fleischlichen Körpers zu verhindern, aber zu mehr war sie nicht in der Lage. Denn in ihrem Inneren tobte immer noch ein Kampf um die Vorherrschaft.

*) Siehe Band 8 »Terror«

Schwester, lass mich doch endlich auch etwas tun!

»Nein!«

Aber habe ich mich nicht mit dir vereint? Freiwillig, wie ich nochmals betonen möchte!

»Ja, das hast du. Aber ich kenne dich. Du bist die Hinterlist in Person. Du hast mich mit der Vereinigung überrumpelt!«

Warum überrumpelt? Ich wollte unser beider Kräfte bündeln und endlich das Richtige tun. Ich wollte den Menschen vertrauen und den wenigen Überlebenden helfen, einen sicheren Ort zu finden.

»Aha. Du WOLLTEST also vertrauen, du WOLLTEST also helfen. Das ist mir ein wenig zu vage.«

Ah, du weißt, was ich meine, Schwesterherz.

»Ja, ich weiß, was du meinst, Gabriel. Du vergisst aber, dass wir vereint sind und du mich nicht täuschen kannst. Ich spüre in deinen Worten Schwingungen, die mich zweifeln lassen. Außerdem hast du dich in Vergangenheit auch nicht gerade mit dem Ruhm eines Philanthropen bekleckert.«

Ein Lachen hallte durch das doppelte Bewusstsein.

Wie meinst du das denn, Luzifer?

Statt einer Antwort flammten Bilder in dem doppelten Bewusstsein auf.

Prunkvoll gekleidete Monarchen und Bischöfe, über Karten gebeugt, auf denen Landesgrenzen zu sehen sind. Auf den Karten kunstvoll verzierte Holzklötze, die die verschiedensten Truppenarten darstellen. Im Hintergrund ein Mann mit tiefschwarzen Haaren und dem zufriedenen Lächeln eines gesättigten Wolfs auf den Lippen.

Ein weites Feld, von Bäumen umsäumt. Zwei große Armeen, die sich gegenüberstehen, die Bajonette aufgepflanzt, bereit auf das Kommando ihrer Generäle hin loszustürmen. Auf einem Hügel, weit abseits der Schlacht, eine Handvoll Reiter in reich verzierten Uniformen, die Blicke auf das Schlachtfeld gerichtet. Neben dem General der Truppen ein Mann mit tiefschwarzen Haaren auf einem schwarzen Rappen. Er lehnt sich zur Seite und flüstert dem General etwas ins Ohr. Der nickt, und der dunkle Mann setzt sich mit einem zufriedenen Lächeln wieder aufrecht in seinen Sattel.

Ein Labor, dessen eine Wand fast vollständig aus Glas besteht. Hinter der Glaswand ein Zimmer mit mehreren Betten, in denen schwangere Frauen liegen. Sie lachen und unterhalten sich. In ihren Armen sind Venenkatheter, deren Leitungen zu Infusionsbeuteln führen, die an Galgenständern neben den Betten der Schwangeren stehen. In dem Labor sitzt ein Mann in einem weißen Kittel und lauscht konzentriert den Worten eines anderen Mannes mit tiefschwarzen Haaren, der in einen dunklen Anzug gekleidet ist. Schließlich nickt der Mann in dem weißen Kittel und lächelt. Er greift sich mehrere Ampullen aus einem Schrank und zieht nach den Anweisungen des Anderen eine bestimmte Mischung der Wirkstoffe in mehrere Spritzen. Dann geht der Mann im weißen Kittel in das Zimmer mit den schwangeren Frauen und spritzt die Mischung in die Infusionsbeutel.

Der Mann in dem dunklen Anzug beobachtet das Geschehen und lächelt zufrieden.

Und? Was willst du mir mit dieser Liste meiner Taten sagen oder zeigen, Schwester?

»Du warst es, der schon seit Urzeiten den Großen und Mächtigen Dinge ins Ohr geflüstert hat, die angeblich ihre Macht vergrößern würden. Du warst es, der dafür sorgte, dass es solche Wesen wie Bane gibt. Du hast mit deinen Einflüsterungen dafür gesorgt, dass solche Kinder wie Tom, Melanie oder Gabi geboren wurden. Körperlich behindert, aber mit Fähigkeiten, die den Unsrigen gleichen. Du hast die Ideale der Alten verraten. Und jetzt, nach all den Jahrhunderten, den unzähligen Spinnennetzen deiner Intrigen und Einflüsterungen, deiner Manipulationen und deiner Hinterlist, soll ich dir vertrauen? Vielleicht warst ja sogar du es, der die Forscher und Geldgeber auf die Idee brachte, dass das Virus des ewigen Lebens eine perfekte Waffe gegen alle ihre Feinde wäre?«

Moment! Das Virus haben die Menschen ganz alleine in einer total isolierten Gegend am Fuße des Kilimandscharo gefunden!

»Und wer hat ihnen die Manipulationen an dem Virus eingeflüstert, deren Folgen wir jetzt erleben? Sitzt dein Hass auf die normalen Menschen so tief, dass du erst zufrieden bist, wenn die Welt eine tote Kugel ohne jegliches Leben ist? Auch du bist ein Mensch, Gabriel. Zwar einer mit unglaublichen Fähigkeiten, aber dennoch ein Mensch.«

Schweigen im Nimbus. Eine Minute, eine Stunde, eine Ewigkeit lang.

Du hast recht, Schwester.

»Ich glaube dir nicht.«

Was soll ich denn tun, damit du mir glaubst?

»Ich weiß es nicht.«

Und wenn wir versuchen, deine kleinen Pilger zu finden? Vielleicht benötigen sie Hilfe? Könnte ich dir so beweisen, dass ich es ernst meine, wenn ich sage, dass ich meine Taten bereue?

Nachdenkliches Schweigen.

»Gut. Wir werden sie suchen, und wenn sie Hilfe brauchen, versuche wir zu helfen.«

Danke, Schwester. Du wirst sehen, ich habe mich verändert.

»Ich frage mich, ob ich diesen Entschluss nicht irgendwann bereuen werde.«

***

Jörg war müde und er spürte jede einzelne Unebenheit des breiten Feldwegs, über den sein Fahrer den Jeep gerade lenkte. Die Müdigkeit und der Stress der letzten Tage führten dazu, dass Jörg sich wund fühlte. Nicht körperlich, sondern geistig. Vor allem die Notwendigkeit des ständigen Zweidenk, wie Frank es so passend getauft hatte. Um bei einer Kontrolle ihrer Gedanken durch den Major nicht aufzufallen, waren Jörg und Frank dazu gezwungen, intensiv an etwas anderes zu denken, während sie miteinander redeten oder eben in Gedanken Pläne schmiedeten. Es war ermüdend die dazu notwendige Konzentration aufrechtzuerhalten. Ermüdend, aber überlebenswichtig. Der Major hatte seine Armee angetrieben und bis zum Äußersten gefordert. Ohne Rast hatte er Tag und Nacht hindurch seine Truppe vorrücken lassen. Sie hatten einen weiten Bogen um das Gebiet der Neyetalsperre gezogen und waren teils auf Schleichwegen, teils auf Landstraßen vorwärts marschiert, getrieben vom eisernen Willen des Majors, der das tote Köln so schnell wie irgend möglich erreichen wollte. Voraustrupps räumten mithilfe der nie ermüdenden Zombies und der menschlichen Sklaven Hindernisse aus dem Weg, die sie mit den Lkw des Tross niemals hätten passieren können. Einmal hatte Jörg mitten in der Nacht, während er einen der Aufräumtrupps befehligte, eine Ahnung gehabt. Er glaubte in seinem Kopf eine Stimme zu hören, die ihn vage an Tom erinnerte. Die Gedanken des Jungen - wenn er es denn wirklich gewesen war und keine Einbildung, die auf der Erschöpfung Jörgs basierte – waren voll auf einen Kampf ausgerichtet. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jörg vor seinem geistigen Augen Köpfe platzen, gierige Klauen und den Ausschnitt einer schrecklichen Schlachtszene. Nur mit Mühe hatte er sich zusammenreißen und wieder auf seine Aufgabe konzentrieren können. Trotzdem hatte er danach ständig an Sandra denken müssen und sich gefragt, wie es ihr ging. Die erste Frau, die ihm wirklich etwas bedeutete, und dann wurden sie so brutal auseinandergerissen. In diesem Augenblick hatte Jörg sich nach einer Flasche Schnaps und einem ruhigen Plätzchen gesehnt. Frank hatte ihn in dieser Nacht merkwürdig angesehen. So etwas wie Wissen hatte in seinem Blick gelegen, aber Jörg hatte ihn bisher nicht darauf angesprochen.

Jörg tauchte aus seinen Gedanken auf und sah zu dem Frank, der neben ihm reglos auf der Rückbank des Jeeps saß. Er schien ebenfalls in Gedanken versunken zu sein. Aus dem Augenwinkel beobachtete Jörg den Totlebenden und sinnierte darüber, wie verrückt die ganze Situation doch war.

Da saß er jetzt, ein ehemaliger Hauptmann der nicht mehr existenten Luftwaffe der Bundeswehr, neben einem Wesen, das weder richtig tot noch wirklich lebendig war. Die echten Toten bleiben aber auch nicht tot, oh nein! Sie standen als seelenlose Fressmaschinen wieder auf, um die Lebenden zu jagen. Und ausgerechnet dieses Mischwesen da neben ihm, dieser totlebende Mann, den nur wenig von den anderen Zombies trennte, war einer seiner engsten Vertrauten geworden. Ein Verbündeter in der Planung, gegen den Major und seinen neuen Liebling Gabi, die ebenfalls beide Totlebende waren, zu rebellieren. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, besaßen der Major, Frank und Gabi Fähigkeiten, die zu früheren Zeiten eher wie Erfindungen für B-Movies aus der Ramschecke einer Videothek gewirkt hätten. Jörg schnaufte kopfschüttelnd ein leises Lachen, als ihm die wahre Tragweite der Realität plötzlich mit aller Kraft ansprang. Eine Epik, die sogar einem Shakespeare ein anerkennendes Lächeln ins Gesicht gezaubert hätte.

»Alles okay?«, fragte Frank ohne den Kopf zu drehen.

»Ja. Alles okay. Mir ist nur gerade bewusst geworden, wie sehr sich die Welt auf den Kopf gestellt hat. Alles, was einst abgedrehte Fantasie war, ist jetzt Realität. Wandelnde Tote, PSI-Kräfte, eine epische Suche … und ich mittendrin, als ein Teil dieses ganzen Schauspiels. Ich frage mich, was als Nächstes kommt, was der große alte Drehbuchautor da oben noch so alles für mich und die Rolle die ich darstelle, geplant hat.«

 

Frank drehte den Kopf und sah Jörg nachdenklich an. In seinen Augen funkelte etwas, das Jörg nicht richtig deuten konnte.

»Hm. Vielleicht ist der da oben gar kein Drehbuchautor?«, frage der Totlebende. »Was, wenn der da oben nichts weiter ist, als ein spinnerter Schreiberling, der in seiner Freizeit mit einem guten Single Malt oder literweise Kaffee an seinem Schreibtisch sitzt und abgefahrene Märchen für Erwachsene schreibt?«

Ein Grinsen schlich sich in Jörgs Mundwinkel. »Na ja, er wird ja irgendwann zu einem Ende kommen müssen, oder?«

Frank grinste jetzt ebenfalls und zwinkerte Jörg zu. »Und was wäre ein passendes Ende eines Märchens über die letzten Musketiere des Königs?«

»Sie retteten die Königin und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende«, sagten die beiden ungleichen Männer absolut synchron, so als wäre der Dialog von ihnen vorher einstudiert worden. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Es tat Jörg gut, für einen kurzen Moment einfach nur herumzualbern und zu lachen. Vielleicht wären er und Frank in einem anderen Leben schon früher Freunde geworden. Jörgs Lachen ebbte langsam ab. Waren er und Frank denn Freunde? Waren sie nicht vielmehr Verbündete, die nur ein gemeinsames Ziel verband? Eine Zweckgemeinschaft, die sich in Nichts auflösen würde, sobald sie ihr gemeinsames Ziel erreicht hatten? Auch Franks Lachen erstarb allmählich. Er sah wieder nach vorne und schien wie vorher in eine Art Trance zu verfallen. Jörg atmete tief durch und zog sich wieder in seine nachdenkliche Betrachtung der aktuellen Situation zurück. Und er begann zu sinnieren, über die Toten und die Lebenden und fragte sich wie das unbekannte Land aussehen mochte, in das sie alle gleichermaßen segelten. Die Zukunft.

***

Bane rieb sich nachdenklich das Kinn. Er saß in seinem Kommando-Lkw auf einer Art Thron. Leicht versetzt neben ihm hatte er für Gabi einen gleichartigen Sitz hinstellen lassen. Sie waren beide an mehrere Drähte und Schläuche angeschlossen. Gabi, die Psi-begabte Totlebende, schlief. Im Schlaf sah sie so unschuldig aus, wie sie noch zu Lebzeiten als kleines Kind mit Downsyndrom gewesen sein mochte. Doch Bane wusste, was für ein Monster sie in Wahrheit sein konnte. Er war wach, starrte in das Halbdunkel und dachte nach. Der Blick des Majors glitt über die Geräte. Hier, in diesem Lkw, war sein großes Geheimnis verborgen, die Quelle seiner Macht: zwei transportable Dialysegeräte für den Feldeinsatz.

Bane seufzte. Wo lag der große Unterschied zwischen den Toten und den Lebenden? Wo lag das Geheimnis verborgen, dass ihn endgültig zum Schöpfer und Gott machen würde? Die beide unterschiedlichen Rassen, denn das waren die Toten und die Lebenden in seinen Augen, mussten Nahrung zu sich nehmen. Beide benötigten einen Filter, der ihr Blut reinigte und verhinderte, dass die Abfallprodukte ihres Stoffwechsels sie vergifteten. Aber während es bei den Lebenden zum Tod führen konnte, wenn die Nieren versagten, führte die Reanimation bei seiner Rasse, die er nach und nach erschaffen wollte, dazu, dass das Virus die Überhand gewann und die Funktionen übernahm.

Und um das Blut zu reinigen, musste es fließen. Das geschah bei den einfachen Untoten wie auch bei den Totlebenden durch die Peristaltik der Bewegung, bei der sich Muskeln zusammenzogen und wieder dehnten. Das Virus veränderte die Funktionen des Sympathikus und des Parasympathikus, um die Herztätigkeit weitgehend zu ersetzen. Deswegen wirkten die einfachen Stinker auch so ungelenk und hatten Koordinationsschwierigkeiten. Außerdem waren sie deswegen wie Haie ständig in Bewegung und verharrten nur dann, wenn sie ihre winterschlafähnliche Trance verfielen. Bleiben sie zu lange stehen, starben sie letztendlich an den Giften, die ihr eigener Körper produzierte. Und diese Schäden konnte auch das Virus nicht mehr reparieren.

Bane atmete tief durch. Mehr aus Reflex, als aus Notwendigkeit. Totlebende wie er, die mit einer mutierten Form des Virus infiziert waren, verfügten über ihre vollen kognitiven Fähigkeiten, weil die durch das Virus verursachten Änderungen am Nervensystem viel besser ausgearbeitet waren. Blieb nur der Blutkreislauf. Das Herz eines Untoten schlug nicht mehr, pumpte das Blut nicht mehr durch die Organe, wodurch es nicht mehr gereinigt werden konnte. Aus den, dem einfachen Menschen weit überlegenen, Totlebenden, würden ohne die entsprechenden Maßnahmen die gleichen hirnlosen Fressmaschinen werden, wie aus allen anderen, die mit dem Virus infiziert wurden und gestorben waren. Nur die regelmäßige Dialyse verhinderte, dass auch er zu einem hirnlosen Zombie wurde.

Wie hatte Gabi es die ganze Zeit geschafft, ihre mentale Kraft zu behalten und nicht zu einem gewöhnlichen Stinker zu degenerieren? Warum war sie nicht in die gleiche Raserei verfallen, wie die anderen Untoten? Und wie war das mit diesem Frank, der mit Gabi durch das Land gezogen war? Er hatte Gabis Blut untersucht, das Virus isoliert und versucht zu erkennen, wo die Abweichung lag, welche Mutation des Virus Gabi so anders machte. Und aus reiner Vorsicht hatte er ihr ebenfalls einen Dialysestuhl aufbauen lassen. Das Virus war nämlich ein heimtückischer kleiner Bastard, der seine Geheimnisse nicht einfach so preisgab und sich auch in einem reanimierten Körper ständig veränderte, weiterentwickelte. Und teilweise degenerierte das Virus sogar und wurde wieder zu einem unbedeutenden Grippevirus. Die Untoten, in denen das Virus sich derartig weit zurückentwickelt hatte, starben entweder endgültig, oder sie wurden so schwach, dass sie von ihren Artgenossen aufgefressen wurden.

Banes setzte sich abrupt kerzengerade auf. Er spürte es wieder. Die Bake wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu, stach mit einem grellen Blick aus der Dunkelheit des Nichts bis tief in seine Seele. Bane schloss die Augen und erzitterte, als er dem grobschlächtigen Verlangen nach warmen Fleisch zwischen seinen Zähnen widerstand. Dieser Drang kam immer dann in ihm hoch, wenn ihn das grelle Auge der Bake über das Nichts hinweg anstarrte. Für einen kurzen Moment fühlte Bane sich wie ein Schmetterling, der von der Nadel aufgespießt wird, bevor er für alle Ewigkeit in einem Glaskasten ausgestellt wird. Das Gefühl verging. Das Verlangen ließ nach und Bane entspannte sich wieder.

In Köln würde er die Antworten finden, die er suchte. Und ein Herz. Ein künstliches Herz, dass seinen veränderten Körper endgültig unbesiegbar und unsterblich machen würde. Seine Truppen, die er in Reserve gehalten hatte, befanden sich schon an seinem eigentlichen Ziel in der toten Stadt, um dort die Lage zu prüfen und alles für das Eintreffen seiner Armee vorzubereiten. Bald würde ihn nichts mehr aufhalten können.

Kapitel IV

»Einsame Wachen«

Ein leichter Wind kam aus westlicher Richtung. Die Sicht war gut, da die Sonne in den letzten Tagen an Kraft gewonnen hatte. Aber die Luft war immer noch so kalt, dass jeder Atemzug des Mannes kleine, weiße Wolken vor seinem Gesicht entstehen ließ, die sich in der leichten Brise schnell verflüchtigten. Schnee glitzerte wie falscher Schmuck in der Stille, die sich über die Welt gelegt hatte.

Der Mann trug dicke Kleidung, die eindeutig militärischen Ursprungs war. Trotz der Kälte hatte er die Kapuze seines Anoraks in den Nacken gelegt und trug nur eine leichte Kappe über seinem kurz geschnittenen, blonden Haar. Hören war in diesen Zeiten ebenso wichtig, wie sehen. Über seiner Schulter hing ein langes Gewehr mit Schalldämpfer, seine Hände schützen dunkle Handschuhe aus Goretex, die die Hände zwar wärmten, aber dabei die Bewegungsfreiheit und Feinmotorik nicht einschränkten. Langsam schritt der Mann die Balustrade der Besucherplattform des Flughafens ab und spähte dabei über den Runway in das dahinterliegende Naturschutzgebiet. Normalerweise wäre das Gebiet rund um den Flughafen viel lichter, die Sicht auf das Gelände viel besser gewesen. Doch in den Monaten seit dem Totalcrash, dem Mankind down wie der Mann die Apokalypse für sich selber nannte, hatte die Natur begonnen, ihr angestammtes Reich zurückzuerobern. Stück für Stück. Unaufhaltsam und unerbittlich. Fast wie die Stinker, die in ihrer paradoxen Existenz aus totem Leben das echte Leben immer weiter zurückgedrängt und letztendlich vollkommen überrollt hatten. Nur das die Natur Leben war, während die Stinker alles Natürliche ad absurdum führten.

Der Mann blieb stehen. Ein tiefes Seufzen wehte in einer dichten Wolke vor seinem Gesicht. Welches Puzzleteil bildeten die Untoten in diesem Bild? Waren die Stinker nicht auch ein Teil der Natur, trotz all der Brüche mit deren unverrückbar erscheinenden Gesetzen von Geburt und Sterben, Leben und Tod? Oder waren die Untoten einfach nur ein neuer Versuch der Evolution, die sich immer weiter ausbreitende Seuche Menschheit einzudämmen, und somit die Balance wieder herzustellen, die kurz davor gewesen war, endgültig zu kippen? Waren die Untoten vielleicht das Antibiotikum der Natur, dass die wuchernde Krankheit, die der Mensch darstellte, bekämpfte? Wenn ja, dann hatte die Natur entweder eine verflucht effektive homöopathische Kur eingeleitet oder einen ziemlich derben Sinn für Humor, wenn sie dafür sorgte, dass sich die Krankheit urplötzlich selbst auf eine viel effektivere Weise bekämpfte, als sie das schon seit Jahrtausenden in dem sinnlosen Ringen um Land, Nahrung und Macht getan hatte.

Der Mann erstarrte. Langsam hob er sein Fernglas an die Augen. Nach einem Moment setzte er es ab und ging dabei gleichzeitig in die Hocke, wobei er sein Gewehr von der Schulter in seine Hände gleiten ließ und den langen Lauf auf dem Geländer der Plattform abstützte. Dass alles geschah in einem flüssigen Bewegungsablauf, der von langer Routine zeugte. Der Mann legte das Gewehr an und klappte mit der linken Hand die beiden Schutzklappen des Visiers hoch. Als die Linke ihren Platz am Gewehr eingenommen hatte, entsicherte die Rechte die Waffe, ein G22 Präzisionsgewehr der Bundeswehr. Mann und Waffe wurden zu einer Einheit. Drei tiefe Atemzüge, wovon der Letzte in einem langen Ausatmen endete. Durch das Visier sah der Mann ein Wesen torkeln, dass einst ein Mensch gewesen sein mochte. Ein schmales Lächeln huschte dem Mann über die Lippen, als er sah, dass der Stinker in eine flatternde Stoffbahn gehüllt war, die ein grüner, ein weißer und ein roter Streifen zierten. Ein Fußballfan offenbar, den es in der liebevollen Umarmung der Flagge seiner Nationalmannschaft erwischt hatte. Die Wange des Stinkers war eine einzige Masse aus schwarzem Blut und zerfetztem Fleisch, die Augen starrten in gieriger Blindheit auf den Flughafen. Der Mann zögerte, als Bilder vor seinem geistigen Auge aufblitzten.

Freude. Jubel. Massen, die sich gegenseitig im Taumel eines gewonnenen Spiels aufschaukelten. Dann kippte die Stimmung. Panik brach aus. Zähne, zu Klauen verzerrte Hände, schreiende Menschen. Ein kleiner Junge, an der Hand seines Vaters, der im chaotischen Gewühl der Beine verschwand, ein Gesicht, halb auf einer Tribünenstufe liegend, den angsterfüllten Blick nach oben gerichtet, bevor ein Fuß in einem schweren Springerstiefel das Gesicht zum Abbild eines Zerrspiegels auf dem Jahrmarkt verformte.

Der Mann keuchte auf.

Woher kamen diese Bilder, die sich wie fremde Erinnerungen in sein Hirn bohrten? Es war nicht das erste Mal, dass der Mann an diesem Ende eines Gewehrlaufs eine Fußnote im Fluss der Geschichte hinterlassen hatte. Er hatte schon oft getötet und das Weiß Gott aus niedrigeren Gründen, als dem brutalen Gesetz des Überlebens. Doch die Zeiten hatten sich geändert und die Fußnoten der Geschichte interessierten jetzt keinen mehr. Sie waren aus dem eisernen Band der Geschichte, das die Generationen miteinander verband, geätzt worden und unwiederbringlich verloren. Der Mann war ein Virus, Teil einer Krankheit, die gegen die Medizin ankämpfte, die diese Krankheit eindämmern und letztendlich besiegen sollte. Das Wesen, das torkelnd aber zielstrebig auf den Runway zuhielt, war sein natürlicher Feind, ein für ihn absolut tödliches Antivirus.

Kein Mensch. Kein Opfer.

Der Mann schloss die Augen, holte erneut tief Luft, um sie langsam und kontrolliert auszuatmen. Als er die Augen wieder öffnete, waren alle Zweifel und schwarzen Gedanken zusammen mit dem dünnen Nebelhauch seines Atems verschwunden, das Flüstern der fremdartigen Bilder in seinem Kopf zu einem kaum noch wahrnehmbaren Hauch verstummt. Er suchte sein Ziel, drückte ab, und noch während das Hartmantel/Weichkern-Projektil mit Überschallgeschwindigkeit auf sein Ziel zuraste, hatte der Mann schon repetiert. Kurz bevor die heiße Patronenhülse zischend im Schnee neben dem Schützen verschwand, explodierte der Kopf des Stinkers in einer Wolke aus Blut, Hirnflocken und Schädelfragmenten. Suchend bewegte der Mann den Lauf langsam nach links und rechts. Wo einer war, da kamen oft noch mehr von den Stinkern.

 

»Renè?«, drang knisternd eine weibliche Stimme aus dem Walkie-Talkie am Gürtel des Mannes. »Renè? Alles in Ordnung bei dir?«

Renè reagierte nicht, suchte weiter die Umgebung nach verdächtigen Bewegungen ab. Erst als er sich sicher war, dass der Fußballfan nur ein vereinzelter Läufer gewesen war, erhob er sich und griff nach dem Funkgerät.

»Renè hier, Carmen. Alles in Ordnung. Das war nur ein einsamer Langstreckenläufer.« Er schnaufte verärgert. »Ich brauche dringend einen neuen Schalldämpfer.«

»Verstanden. Wir haben aber nur einen sehr schwachen Knall gehört.«

Renè blickte mit einem ungläubigen Kopfschütteln auf das Walkie-Talkie in seinen Händen. Zivilisten. Die kapierten aber auch rein gar nichts. Wie hatten sie alle nur so lange überleben können? Statt eine Antwort zu geben, steckte Renè das kleine Funkgerät zurück an seinen Gürtel, schulterte sein Gewehr und bückte sich. Zielsicher griff er in die kleine Schneeverwehung, neben der er eben noch gekniet hatte, und fischte die leere Hülse hervor. Ein Profi hinterließ eben niemals Spuren.

***

Nach einer weiteren Runde verließ Renè die Aussichtsplattform und betrat das Innere des Flughafens. Er kontrollierte seine Pistole, prüfte noch einmal den Sitz des Schalldämpfers, kontrollierte das Magazin und nahm dann eine Taschenlampe in die Linke. Das Dämmerlicht des Tages fiel durch die großen Aussichtsfenster des Terminals, aber es gab immer noch genug Ecken, die im Schatten lagen. Renés Ziel war der unterirdische Bahnhof des Flughafens, einer der neuralgischen Punkte, wo sich Stinker unbemerkt reinschleichen konnten. Dass er alleine auf Patrouille ging, war eine schlichte Notwendigkeit. Sie waren einfach zu wenige, als dass sie es hätten riskieren können, jemanden zu verlieren der für die Gruppe auf lange Sicht wichtiger war.

Michaela war Krankenschwester und Dietmar war Krankenpfleger. Die beiden waren sozusagen das Ärzteteam der Überlebenden. Jean-Paul und Didier waren Piloten. Nicht irgendwelche, sie waren die restliche Besatzung der Boeing, die nahe am militärischen Teil des Flughafens stand und die ihr Taxi raus aus dem toten Land werden sollte, sobald sich das Wetter gebessert hatte. Alfred war Ingenieur und hielt die Generatoren am Laufen, Thorsten war Flugzeugtechniker, Stefanie war eine ehemalige Truckerin und konnte so ziemlich alles fahren und bewegen, was vier oder mehr Räder hatte. Jeder in ihrer kleinen Gruppe, die sich hier auf dem Köln-Bonner Flughafen eingefunden hatten, besaß Fähigkeiten oder Kenntnisse, die für das Überleben der Gruppe wichtig war. Nur er, René, und Carmen, kannten sich von ihnen allen mit Waffen so gut aus, dass sie die anderen schützen konnten. Die Gefahr war einfach zu groß, dass es im Falle einer Begegnung zu chaotischen Szenen und möglicherweise schlimmen Unfällen kam, wenn einer der ungeübten Überlebenden mit einer Waffe herumhantieren würde. Also hatten sie einstimmig beschlossen, die notwendigen Expeditionen auf ein gerade noch vertretbares Minimum an Personal und Häufigkeit zu reduzieren.

Waffen und Munition waren kein Problem. Ganz im Gegenteil, auf dem militärischen Teil des Flughafens war eine Rettungsstation eingerichtet worden. Direkt daneben hatte man während der Katastrophe eine provisorische Kaserne eingerichtet. Zusammen mit den Waffen der Bundespolizei, die während des Armageddons auf dem Flughafen extrem verstärkt worden war, und die sie nach und nach in den letzten Wochen bergen konnten, hätten die Überlebenden einen kleinen Staat im Handstreich einnehmen können. Renè lächelte schmal bei diesem Gedanken. Vielleicht würde das tatsächlich noch notwendig werden.

Er kam an einer Doppeltür vorbei, durch die früher nur das Personal der Gepäckabfertigung gehen durfte. Eine schwere Eisenkette war stramm um die Griffe der Doppeltür geschlungen und mehrere Vorhängeschlösser der Marke riesig und abschreckend, aber gegen Profis vollkommen nutzlos hielten die Glieder der Kette eng zusammen. Wie jedes Mal, wenn er hier vorbeikam, konnte Renè nicht anders. Er ging leise an die Tür. Und wie jedes Mal, erklang in seinem Kopf ein Knirschen und Knistern, ein Knacken und Rauschen. Speck in der Pfanne, oder das Tosen eines weit entfernten Meeres? René konnte das Geräusch nicht mit Sicherheit bestimmen. Er wusste nur, dass es ihm Angst machte und zugleich wie magisch an diese verfluchte Tür zog. Vorsichtig spähte er durch die Bullaugen in das dämmerige Innere der Gepäckabfertigung. Da standen sie. Stinker.

Renè schätzte, dass es Hunderte sein mussten.

Sie standen reglos zwischen den Bändern, die sich nie mehr bewegen würden, saßen neben Koffern, Kisten und Containern, in denen die stummen Reste einer untergegangenen Zivilisation lagerten. Nicht zum ersten Mal schoss ihm der Vergleich mit den Terrakottakriegern des chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi durch den Kopf. Doch im Gegensatz zu dessen grandioser Grabbeigabe waren das hier schlafende Bestien. Sollten irgendwann einmal Aliens auf der Erde landen, so würden die Forscher dieser fremden Rasse vielleicht auch denken, dass hier jemand ganz Besonderes beigesetzt worden war. Eine hochgestellte Persönlichkeit, die mit allem Pomp und Prunk in den Himmel gefahren war. Und wenn sie sich daran machen würden, ihren sensationellen Fund näher zu untersuchen, würden sie feststellen müssen, dass die Menschheit selbst im Tod noch verflucht gefährlich sein konnte. Verwesten diese Dinger eigentlich nicht? Renè kam jetzt seit drei Monaten regelmäßig auf seiner Runde hier vorbei, aber die eingesperrten Stinker zeigten nicht die geringste Spur des Zerfalls. Durch die schmalen Schlitze der Doppeltür drang zwar ein infernalischer Gestank, aber die Toten lebten einfach weiter.

Renè wollte sich gerade wieder abwenden, als er eine Bewegung bemerkte. Angespannt hielt er den Atem an, wagte es nicht sich zu bewegen und starrte in das Halbdunkel. Dann sah er die Bewegung wieder. Eine Ratte. Flink wuselte sie ein Band entlang, das ungefähr auf Augenhöhe an einigen der Untoten vorbeiführte. Sie blieb plötzlich hocken, Auge in Auge mit einem der Zombies. Renè glaubte zu sehen, wie ihre Barthaare zuckten, während sie Witterung aufnahm. Unvermittelt sprang die Ratte einem der Zombies ins Gesicht und biss in ein starres Auge. Ehe der Angegriffene reagieren konnte, kam Leben in die drei Untoten, die dem Geschehen am nächsten standen. Sie wandten ihre Köpfe in die Richtung der Bewegung, starrten einen Moment wie ratlos auf das Geschehen und sprangen dann ihrerseits ihren Artgenossen an. Die Ratte hatte keine Chance. Untote Klauen griffen nach dem kleinen Nager, gelbe Zähne gruben sich in pelziges Fleisch. Aber die Ratte war offenbar nur ein Appetithappen gewesen. Der Zombie, dessen totes Auge für die Ratte so unwiderstehlich gewesen war, wurde zum Opfer der Fresssucht seiner eigenen Artgenossen. Verständnislos sah René zu, wie sie große Bissen aus ihm herausrissen und knurrend auf seinem faulen Fleisch rumkauten. Er unterdrückte ein Würgen. Der Angefressene drehte den Kopf, sah zur Tür … und streckte jetzt seinerseits tonlos nölend die Hände aus. Seine Peiniger ließen von ihm ab und sahen auf. Wie auf ein geheimes Kommando drehten sogar diejenigen, die bisher reglos da gestanden hatten, ihre Köpfe und starrten auf das Bullauge, hinter dem Renè stand.

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