Der kleine Herr Carl

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Aus der Reihe: Maestro-Carl-Reihe #2
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Die Mühen der Ebene

Festen Schrittes eilte der kleine Herr Carl zum Klavier seiner neuen Lehrerin. Er schwang sich auf den Klavierstuhl und deutete dabei an, dass er die Schöße eines vermeintlichen Fracks nach hinten streift. Dann griff er behände in die Tasten und spielte aus dem Stegreif einen kleinen Ausschnitt seines beachtlichen Repertoires, welches inzwischen von „Nun danket alle Gott“ bis zu einer sehr gewagten Fassung der „Ode an die Freude“ reichte. Die Mutter blickte mit großem Stolz auf ihren Sprössling, die Lehrerin ließ ihn ein paar Minuten gewähren. Sie applaudierte nach dem Auftritt des kleinen Herr Carl sogar ein wenig. Doch das alles änderte nichts daran, dass für den kleinen Herrn Carl nun der Ernst des Lebens begann. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass Klavierspielen nicht nur aus Klavierspielen besteht, dass sogar die gelungenste Klimperei ausschließlich nach Gehör für eine Klavierlehrerin eine grobe Fahrlässigkeit darstellt. Jedenfalls hat die Kantorenwitwe Herta den kleinen Herrn Carl in den nächsten Monaten gezwungen, sehr viele Noten zu schreiben, so viele Noten, dass sein kleines Notenheft gar nicht ausreichte, sondern ein zweites und drittes Notenheft gekauft werden musste. Als schließlich das vierte Notenheft vollgeschrieben war, ist die erste Lehrerin des kleinen Herrn Carl am Ende mit ihrem Latein gewesen. Sie behauptete, dass er nun in die Musikschule gehen müsse. Bei seinem letzten Besuch stellte der kleine Herr Carl seiner Lehrerin noch eine Frage, die ihn schon lange bewegte. Das Klavier der alten Dame hatte zwei Löcher an der Frontseite und der kleine Herr Carl wollte wissen, warum. Frau Herta sagte verschmitzt: „So sieht ein Klavier aus, wenn es richtig in Schuss ist.“ Dann hat sie dem kleinen Herrn Carl erklärt, dass das Klavier im Krieg einmal wortwörtlich in die Schusslinie geraten ist. Die Einschusslöcher stammten von Gewehrkugeln.

Tante Lotte

Maestro Carl umgibt sich gern mit älteren Damen. Manche Menschen finden das seltsam. Das ist es aber keineswegs. Jedenfalls nicht, wenn man die Gründe für diese Vorliebe kennt. Und die liegen in der frühen Kindheit. Familie Carl war sehr christlich. Deshalb war der junge Vikar des Ortes ebenso häufig zu Gast bei Carls, wie ein halbes Dutzend frommer Kirchenfrauen, deren Haare streng nach hinten gekämmt und zu einer Zwiebel zusammengesteckt waren. Dank dieser allerorts als Glaubenszwiebeln bekannten Kirchenfrauen wurde in der Familie Carl sehr viel über Gott und die Welt geredet. Vor allem über Gott. Weil Kirchenfrauen schon aus Glaubensgründen immer liebe Menschen sind, haben sie der Familie Carl in der Not gern unter die Arme gegriffen. Freilich gab es keine materielle Not im Hause Carl, aber manchmal war Hilfe doch nötig. Vor allem, wenn der kränkliche Vater Carl sich aus gesundheitlichen Gründen nicht um den kleinen Herrn Carl kümmern konnte. In solchen Fällen kümmerte sich eine Kirchentante um den Carl'schen Nachwuchs. Es gab für den kleinen Herrn Carl also Tante Ida, Tante Herta, Tante Martha, Tante Traudel und Tante Lotte. Auf die Kirchentanten war Verlass, denn sie waren sehr bodenständig. Sie kochten nicht nur für den kleinen Herrn Carl, sondern sorgten auch dafür, dass er vor dem Essen gründlich betete. Sie brachten ihn zum Klavierunterricht, sorgten aber auch dafür, dass er beizeiten die Lieder aus dem Gesangsbuch der evangelisch-lutherischen Landeskirche vollständig auswendig lernte. Weil Vater Carl sehr oft darnieder lag, war der kleine Herr Carl ohne seine Kirchentanten gar nicht denkbar. Er liebte sie alle, und doch war für ihn nicht Kirchentante gleich Kirchentante. Die Tanten Ida, Herta, Martha und Traudel waren sich gleich. Sie waren lieb, aber sie waren eben auch ehrlich. Zu ehrlich für den kleinen Herrn Carl, denn was immer passierte, sie berichteten es den Eltern. Immer! Leider passierten dem kleinen Herrn Carl oftmals Dinge, die die Eltern nichts angingen. Wenn er zum Beispiel eine Kirchentante als Bettlakengespenst verkleidet erschreckte, dann war das eine Sache zwischen dem kleinen Herrn Carl und der Kirchentante. Wenn er versehentlich die Milch verschüttete, mit Steinchen nach Passanten warf oder sich Schokolade aus der Anrichte stibitze, dann ging das die Eltern nichts an. Tante Lotte wusste das. Nur Tante Lotte wusste das! Deshalb hat Tante Lotte immer dicht gehalten. Und deshalb ist Maestro Carl bis heute auf der Suche nach einem Ersatz für Tante Lotte.

Die Leibchen

In jenem Jahr, als der kleine Herr Carl geboren wurde, hat sich Ernest Rice aus dem USBundesstaat North Carolina eine segensreiche Erfindung patentieren lassen: Er hatte Strumpf und Unterhose kombiniert und damit die moderne Strumpfhose erfunden. Strickstrumpfhosen für Kinder wurden sehr schnell so beliebt, dass selbst im kleinen Örtchen Kräha alle Kinder welche trugen. Alle, außer dem kleinen Herrn Carl. Im Hause Carl war man neumodischen Dingen gegenüber nicht besonders aufgeschlossen. Mutter Carl, aber auch die Kirchentanten hatten daran maßgeblichen Anteil. Sie fanden, dass Strumpfhosen Firlefanz sind. Deshalb durfte der kleine Herr Carl nur das tragen, was seine Mutter und die Kirchentanten noch aus ihren eigenen Kindertagen liebten und schätzten: Das Leibchen, ein Oberteil, welches mit Strumpfhaltern, heute zumeist Strapse genannt, an den Strümpfen befestigt wurde. De facto ein sehr unpraktisches und unbequemes Kleidungsstück, denn die Strapse kratzten, und im Winter fror der kleine Herr Carl sich das nackte Stückchen Haut zwischen Leibchen und Strumpf blau. Kein anderes Kind in ganz Kräha ahnte auch nur im Entferntesten, wie unbehaglich das Tragen von Leibchen und Strapsen war, denn alle trugen ihre Strumpfhosen und gaben damit tüchtig an. Obwohl der kleine Herr Carl es nun prinzipiell sehr schätzte, wenn er sich aus der breiten Masse heraushob, war er mit den Leibchen arg unglücklich. Das allerdings gab er anderen Kindern gegenüber nicht zu. Nun wäre der kleine Herr Carl nicht der kleine Herr Carl, wenn er aus seinen fürchterlichen Leibchen nicht das Beste gemacht hätte. Es hat ein Weilchen gedauert, aber am Ende trug er sie mit großer Würde. Das war der Zeitpunkt, als er das Wort Retrolook erfunden hatte.

Carlinchen

Bis zum Alter von fünf Jahren war der kleine Herr Carl der unumstrittene Mittelpunkt der Familie Carl. Das ist kein Wunder, denn der kleine Herr Carl ist unter einem besonders glücklichen Stern geboren: Er ist ein Sonntagskind, er ist im Sternzeichen Steinbock geboren, und (man höre und staune) nach dem chinesischen Horoskop kam er im Jahr des Holz-Schafs zur Welt. Über solche Dinge hat sich Maestro Carl schon als kleines Kind seine Gedanken gemacht. Deshalb hat er sich einst als Steppke auf die Wiese gestellt, an einen Holzpflock angebunden und so lange geblökt, bis Mama Carl ihm ein großes Himbeereis gebracht hat. Mama Carl hätte dem kleinen Herrn Carl alles gebracht, denn Mama und Papa Carl liebten ihren Sohn viel mehr als sie sich selbst oder sich gegenseitig liebten. Sie hatten einen solchen Narren an dem kleinen Kerl gefressen, dass sie mehr von dieser Sorte Glück haben wollten. Sie unternahmen also diesbezügliche Anstrengungen, und sie hatten Erfolg. Jedenfalls ziemlichen Erfolg. Ihr zweites Kind kam leider nicht an einem Sonntag, sondern an einem Samstag im Vorwonnemonat April zur Welt, aber dafür war an jenem Tag Vollmond, und das ist ja auch nicht wenig. Der kleine Herr Carl hatte also Konkurrenz bekommen. Diese Konkurrenz war ein Mädchen. Es wurde Carlinchen gerufen und übernahm in der Familie die dankbare Rolle der Prinzessin.

Die Musikschule

Da der kleine Herr Carl nicht mehr der Einzige, sondern nur noch der Große unter den Kindern war, musste er seine Position innerhalb der Familie nun durch Leistung festigen. In Sachen Liebreiz kam er an die kleine Prinzessin nämlich nicht heran. Da kam es ihm gelegen, dass die Klavierlehrerin Herta ihm eine Empfehlung für eine höhere musikalische Ausbildung ausgestellt hatte. Gut gerüstet mit den vier vollgeschriebenen Notenheften und einem Repertoire, welches neben den inzwischen staunenswerten Improvisationskünsten auch drei Dutzend mittelschwere Stücke der sogenannten Klavierliteratur umfasste, stellte sich der kleine Herr Carl in der Musikschule zu Kamenz vor. Er legte seine säuberlich beschriebenen Notenhefte vor und spielte ein paar Stücke vom Blatt. Der Mimik des Prüfers ließ sich nicht entnehmen, was er von dem Vorspiel hielt. Deshalb improvisierte der kleine Herr Carl ungefragt noch eine geschlagene Viertelstunde über die Melodie des Chorals „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Danach drehte er sich fragend nach dem kahlköpfigen Herrn Klavierlehrer um. Dessen Miene ließ nichts Gutes ahnen. Doch der kleine Herr Carl ließ sich davon nicht einschüchtern. Er wusste von seinem Vater, dass an so einer Musikschule die Profis arbeiten, Menschen mit einem untrüglichen Gespür für junge Talente, die sich nichts sehnlicher wünschen, als begabte Nachwuchsmusiker unter ihre Fittiche zu nehmen, Lehrer, denen nicht ihr eigener Ruhm, sondern nur das Glück und der Erfolg ihrer Schüler am Herzen liegt. Der kleine und der große Herr Carl warteten also gespannt auf das Urteil des Profis. Der Lehrer atmete schwer, schüttelte den Kopf und sagte mit Leichenbittermiene zu Vater Carl: „Also so leid es mir tut, aber ihren Sohn können wir hier nicht unterrichten. Er ist völlig unmusikalisch. Vielleicht sollte er es lieber mit Fußball versuchen.“

Ein neuer Versuch

Nachdem der kleine Herr Carl wegen Unmusikalität von der Musikschule abgelehnt worden war, herrschte große Aufregung im Hause Carl. Vater Carl war fassungslos und suchte im Lokalblatt nach den Trainingszeiten der Fußballer. Mutter Carl war empört und wollte sich beim Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht beschweren. Carlinchen war verstimmt, weil sie zum ersten Mal seit ihrer Geburt nicht im Mittelpunkt stand. Der kleine Herr Carl aber stand hoch erhobenen Hauptes da, stampfte energisch mit den Füßen auf und sagte mit fester Stimme: „Pah, die haben doch keine Ahnung.“ Nachdem es der kleine Herr Carl vehement abgelehnt hat, sich das Fußballtraining der D-Jugend wenigstens spaßeshalber einmal anzuschauen, suchten seine Eltern nach einer Alternative zur Musikschule. Sie wurden dort fündig, wo per definitionem die Nächstenliebe zu Hause ist: In der Kirche. Der hochangesehene Kantor Bierthal in Kamenz konnte es weder mit seinem Gewissen noch mit seinem Portemonnaie vereinbaren, einen willigen Novizen abzulehnen, sei er auch noch so unbegabt. Deshalb hat er den kleinen Herrn Carl trotz aller berechtigter Bedenken als Schüler angenommen. Selbstredend entgingen Bierthal die eklatanten musikalischen Mängel seines Schülers nicht. Um seiner Musik die größtmögliche Emotionalität und Tiefe zu verleihen, hatte der kleine Herr Carl aus eigenem Empfinden heraus stets Dinge in die Musik hineininterpretiert, die nicht in den Noten standen. Da wurde hier mal eine winzige Verzögerung, da eine hauchzarte Beschleunigung eingeschleust, da wurde die Lautstärke geringfügig differenziert oder einzelne Noten akzentuiert, obwohl das gar nicht im Notenblatt stand. Freilich machten diese sorglosen Hineininterpretationen beim kleinen Herr Carl immer etwas her, aber sie waren eben falsch und deshalb mussten sie dem Kind ausgetrieben werden. Kantor Bierthal hat sich darum vorbildlich bemüht, indem er den kleinen Herrn Carl immer und immer wieder Taktarten und Taktfolgen hat üben lassen. Schon bald konnte der kleine Herr Carl exaktere Rhythmen anschlagen als jedes handelsübliche Metronom. Wenn er wollte. Aber er wollte eben nicht.

 

Der kleine Herr Carl macht sich einen Jux

Eigentlich hätte der kleine Herr Carl dem Kantor Bierthal aus Kamenz sehr dankbar sein müssen, denn der hatte ihn vor dem musikalischen Niemandsland bewahrt. Doch mit der Dankbarkeit haperte es bei dem genialen Kind. Zwar kam der kleine Herr Carl zuverlässig zu den Unterrichtsstunden, und sein Eifer beim Üben ließ auch keineswegs nach, aber was ihm fehlte, war ein angemessener Gehorsam. Obwohl zum Beispiel Bierthal mit Engelszungen auf ihn einredete, obwohl er ihm immer wieder eintrichterte, dass es für jedes Stück einen, und zwar nur einen einzigen sinnvollen und folglich von jedem Schüler zu übernehmenden Fingersatz gibt, versuchte der kleine Herr Carl immer aufs Neue, vom erwiesenermaßen Besten abzuweichen und seine eigenen Ideen umzusetzen. Er behauptete sogar stur und steif, jeder müsse das so machen, wie er es am besten kann, und dass jeder Mensch eben anders sei. Einmal brachte der kleine Herr Carl mit seinem Eigenwillen seinen Lehrer in besonderem Maße in Rage: Der kleine Herr Carl war sieben Jahre alt, als er für die nächste Unterrichtsstunde die F-Dur-Invention von Johann Sebastian Bach einstudieren sollte. Diese Hausaufgabe, welche für eine geschlagene Woche reichen sollte, war dem kleinen Herrn Carl eindeutig zu gewöhnlich. Er überlegte, wie er seinen Lehrer überraschen könnte und spielte das Stück zu Hause in allen Tonarten durch. Schließlich entschied er sich dafür, Herrn Bierthal mit der Version der F-Dur-Invention in Fis-Dur zu beglücken. Bei diesem lieb gemeinten Versuch musste der kleine Herr Carl leider feststellen: Auch bei Kantor Bierthal aus Kamenz haperte es tüchtig mit der Dankbarkeit.

Die Haifischstory

Kunst ohne Phantasie ist wie ein Haifisch ohne Zähne. Doch in diesem Punkt ist Maestro Carl zum Glück seit jeher reichlich gesegnet. Schon als Kind konnte er jederzeit aus dem Stegreif die unglaublichsten Dinge erfinden. Und das nutzte er nicht nur beim Musizieren, sondern wenn es nottat auch im Alltag. Und es tat oft not. Einmal war der kleine Herr Carl beim Pfarrer Christopher in seiner Heimatstadt Kräha zu Gast. Christopher war ein großer Tierfreund. Deshalb hütete er nicht nur in der Gemeinde seine Schäfchen, sondern hegte und pflegte auch privat zu Hause einige Geschöpfe Gottes. Unter anderem hatte er ein Aquarium mit Neonfischen. Weil Christopher die Fische liebte, aber auch, weil seine Frau einen ausgesprochenen Reinlichkeitsfimmel hatte, war das Aquarium immer blitzeblank. Nie war die minimalste Wassertrübung zu sehen, nie hatte auch nur eine einzige winzige Alge eine Überlebenschance. Niemals vorher hatte der kleine Herr Carl ein so klinisch reines Aquarium gesehen. Deshalb war er für einen Moment derart verblüfft, dass er den Pfarrer fragte: „Können diese Fische fliegen?“ Christopher verneinte das lachend. Beim zweiten Hinsehen sah der kleine Herr Carl nun auch, dass Wasser im Aquarium war und am Rand sogar einige Luftbläschen aufstiegen. Doch sein Irrtum wurmte ihn enorm. Deshalb behauptete er stehenden Fußes: „Das hätte mich auch gewundert. Ich habe nämlich zu Hause einen Haifisch, und der kann auch nicht fliegen.“ Der Pfarrer wollte das nicht glauben, also dass ein Haifisch nicht fliegen kann schon, aber nicht, dass der kleine Herr Carl einen Haifisch hat. Deshalb sagte er mit erhobenem Zeigefinger: „Du schwindelst doch, ihr habt ja gar kein Aquarium.“ Von dieser kleinkarierten Krümelkackerei hat sich der kleine Herr Carl nicht einschüchtern lassen. Mit hoch erhobener Stupsnase hat er behauptet: „Mein Haifisch schwimmt in der Badewanne.“

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