Der kleine Herr Carl

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Aus der Reihe: Maestro-Carl-Reihe #2
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Der kleine Herr Carl
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Cristina Zehrfeld

Der kleine Herr Carl

Als der Maestro noch ein Lausebengel war

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das musikalische Umfeld

Drum singe, wem Gesang gegeben

Kräha

Die musikalische Früherziehung

Die Grundlage für Geniales

Nochmal, nochmal!

Kurze Beine

Die Mühen der Ebene

Tante Lotte

Die Leibchen

Carlinchen

Die Musikschule

Ein neuer Versuch

Der kleine Herr Carl macht sich einen Jux

Die Haifischstory

Das Leben ist ein Spiel

Mittel und Wege

Der Ballerino unter den Musikern

Die Eltern greifen ein

Der Einzug in den Olymp

Die Rangliste

Die Westreise

Nächtliche Ausflüge

Kompromisse

Eine Ära geht zu Ende

Die Sympathisanten des Schicksals

Auf einem alten Schinkel

Rodeo

Buntmetall

Das Durchgangszimmer

Vogelschrey

Schwarz-Weiß-Malerei

Orgel, Orgel und nochmals …

Haustiere

Die ehrenwerten Gründe

Der Paradiesvogel

F6

Heimat

Siamesische Zwillinge

Die Versuchung

Je preiser ein Meister gekrönt wird

Das Protestkonzert

Der Stufe-Fünf-Fan

Die Bergkirche in Oybin

Palast und Bergkirche

Die Vergnügungssucht der Beifahrer

Der Handstreich

Der herzförmige Leberfleck

Die Avancen des Parteisekretärs

Der ABV, dein Freund und Helfer

Die Sekte

Die großzügige Frau Wilhelmine

Frau Wilhelmine schwindelt

Grüß Gott

Ausstudiert

Was Konzertbesucher sich so vorstellen

Ein Konzerthaus für Herrn Carl

Impressum neobooks

Das musikalische Umfeld

Über die Herkunft und die frühe Kindheit von Maestro Carl ist nicht viel bekannt. Immerhin steht in reichlich neunundneunzig Prozent der Publikationen über ihn, dass er aus einem traditionsreichen, musikalischen Umfeld stammt. Nun behauptet freilich fast jeder Musiker, dass er aus einem musikalischen Umfeld stammt. Das will nichts heißen. Bei Maestro Carl ist diese Behauptung jedoch keine leere Floskel, sondern eine tiefe Wahrheit. Maestro Carls Mutter spielte in ihrer Jugend Akkordeon, sein Vater spielte Mundharmonika, seine Tante hatte ein Klavier in der guten Stube stehen, sein Opa mütterlicherseits hatte einen Kanarienvogel, der die Melodie von „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ fehlerfrei pfeifen konnte, und die Großmutter war in der Familie die begnadete Spielerin der ersten Geige. Zweifellos wären die Carls schon viel früher zur Elite der musikalischen Überflieger aufgestiegen, wenn sie sich nicht nebenbei noch um ihren Broterwerb hätten kümmern müssen. Doch die Großeltern des kleinen Herrn Carl waren eben vor allem angesehene Betreiber einer Drogerie, und seine Mutter hat eine kaufmännischen Ausbildung absolviert. Danach ist sie ganz groß ins Käsegeschäft eingestiegen. Zuerst hat sie sich einen Tilsiter geangelt – also keinen Tilsiter Käse, sondern einen Mann aus Tilsit. Und wegen ihres untrüglichen Gespürs für Harmonien hat sie sich danach sofort einen Job bei der örtlichen Molkerei gesucht. Also fast sofort. Zuerst hat sie noch zwei Kinder bekommen. Zuerst den kleinen Herrn Carl und später das Carlinchen. Wie alle Eltern hatten die Carls große Pläne mit ihrem Nachwuchs: Die Kleinen sollten weltberühmt werden. Außerdem sollten sie tanzen - und zwar nach der Pfeife ihrer Eltern. Nichts Außergewöhnliches also, sondern genau das, was alle Eltern von ihren Sprösslingen erwarten.

Drum singe, wem Gesang gegeben

Es ist noch nie ein Meister vom Himmel gefallen. Auch Maestro Carl ist nicht unmittelbar als Meister vom Himmel gefallen. Allerdings ist er eben ein Genie, und ein Genie wird man nicht so nach und nach. Ein Genie ist man sofort, also gleich mit der Geburt, oder man kann das vergessen. Der kleine Herr Carl war sofort ein Genie. Seine ersten musikalischen Lorbeeren hat er sich deshalb bereits aus der Kinderkutsche heraus verdient, und das ging so: Die Eltern des kleinen Herr Carl waren enorm stolz auf ihren Nachwuchs und haben den Knaben deshalb gern und oft durch die Straßen ihres Heimatortes Kräha geschoben. Zur musischen Anregung des Kindes haben sie dabei gern Kinderlieder vor sich hin gesungen. Obwohl sie ja nun schon sehr musikalisch waren, sind ihre Gesänge nicht von so hoher Qualität gewesen, wie der kleine Herr Carl es manchmal zu Hause vom Plattenspieler gehört hatte. Bei Familie Carl wurden immerhin Aufnahmen mit den Wiener Sängerknaben, den Regensburger Domspatzen, den Dresdner Kruzianern und den Leipziger Thomanern aufgelegt. Damit konnten die Eltern des kleinen Herr Carl stimmlich nicht mithalten. Der kleine Herr Carl war also unzufrieden mit dem Kulturprogramm, welches ihm auf Ausfahrten geboten wurde. Ein anderes Kind hätte seinen Unwillen vermutlich durch herzerweichendes Greinen zum Ausdruck gebracht, aber der kleine Herr Carl war schon als kleines Kind ein Weltverbesserer. Weil er aus dem Kinderwagen heraus die Welt nun nicht unmittelbar verbessern konnte, verbesserte er wenigstens die Misstöne seiner Eltern. Wenn Vater oder Mutter Carl also ein falscher Zungenschlag unterlief, stimmte der kleine Herr Carl das Lied von vorn an und sang es den Eltern vor. Diese begriffen jedoch nicht, dass das Kind ihnen nur eine musikalische Unterweisung gab. Stattdessen riefen sie alle verfügbaren Passanten heran, damit diese sich das Wunderkind anhören sollten. Als der kleine Herr Carl das Lied „Hänschen klein“ fertig gesungen hatte, stimmte die Mutter „Ri-ra-rutsch“ an. Natürlich traf sie die Töne wieder nicht genau, weshalb der kleine Herr Carl ihr das Lied glockenklar vorsang. Es folgten noch „Der Bi-Ba-Butzemann“, „Es geht eine Zipfelmütz“ und „Lirum, Larum Löffelstiel“, und selbstverständlich kam aus dem winzigen Mund des kleinen Herr Carl kein falscher Ton. Inzwischen standen etwa 50 Passanten um die Kinderkutsche herum, die nun frenetisch applaudierten. Der kleine Herr Carl war zuerst überrascht. Als der Beifall kein Ende nehmen wollte, fand er das allerdings ziemlich albern und schrecklich ermüdend. Er hat also die Augen zugemacht und ist sofort eingeschlafen. Deshalb hat es an jenem Tag keine Zugabe gegeben.

 

Kräha

Es ist keine Schande, wenn Sie noch nie von Kräha gehört haben. Die reizvolle Heimatstadt des kleinen Herrn Carl gehört zu den kleinsten Städten Deutschlands. Dies, obwohl sie sich in den letzten Jahren mehrere Nachbardörfer einverleibt, und damit gehörig aufgeplustert hat. In Kräha hat das Töpfern eine lange Tradition. Außerdem wurde seit jeher viel Landwirtschaft und ein bisschen der Abbau von Granit betrieben. Nicht zu vergessen natürlich die Molkerei, in der Mutter Carl die Buchhaltung mustergültig erledigte. Interessant ist immerhin, wie der Ort zu seinem Namen gekommen ist. Offiziell wird behauptet, dass sich der Name der Stadt von der Schwarzen Krähe ableitet, einem rechten Nebenfluss der Elbe, der südlich der Stadt entspringt. Weil der kleine Herr Carl jedoch schon immer ein begnadeter Historiker war, versuchte er bereits seit frühester Kindheit, mit diesem Irrtum aufzuräumen. Auch mir hat er die wirklich wahre Geschichte der Namensgebung erzählt, und zwar wie folgt: Kräha wurde im Jahr 1248 urkundlich erwähnt, 1383 bekam der Ort das Stadtrecht verliehen. Zu jener Zeit herrschten mittelalterliche Zustände, denn es war die Zeit des Übergangs vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter. An demokratische Verhältnisse war noch nicht zu denken, auch nicht bei der Vergabe von Ortsnamen. Ein weiser Mann hat also damals selbstherrlich festgelegt, dass der Ort nach dem ersten Vogel benannt werden sollte, der sich auf der mächtigen Linde auf dem Marktplatz niederließ. Man musste lange warten, denn der Trubel und das Gedränge waren groß. Keiner wollte das Ereignis verpassen. Beinahe hatte sich schließlich eine Elster auf dem Baum niedergelassen. Doch weil die Menschenmenge ein wenig zu früh in Begeisterung ausbrach, drehte der schöne Vogel ab. Der Rat der Weisen beschloss, dass eine Beinahelandung nicht zählte und die Menschen mussten weitere zwei Stunden warten. Die Spannung ließ sich nicht mehr steigern, deshalb waren die meisten schließlich eingeschlafen, als sich endlich eine alte, zerzauste Krähe auf der Linde niederließ. Nicht alle waren wirklich zufrieden. Immerhin wären Spechta, Wendehalsa oder Kauza auch sehr schöne Ortsnamen gewesen.

Die musikalische Früherziehung

Man kann gar nicht früh genug mit der musikalischen Ausbildung von Kindern beginnen. Singen, Tanzen, Instrumentenkunde, Notenlehre und das Spielen auf Orff-Instrumenten für Kinder ab vier Jahren gelten ja längst nicht mehr nur in den oberen Gesellschaftsschichten als völlig selbstverständlich und unverzichtbar. Allerdings war das, was heute als musikalische Früherziehung in aller Munde ist, zur Kinderzeit des kleinen Herr Carl keinesfalls die Regel. Entweder ein Kind hatte Glück und wurde in eine musikalische Familie hineingeboren, oder es blieb sein Leben lang ein musikalischer Depp. Der kleine Herr Carl hatte Glück. Wie schon erwähnt, war seine Familie hochmusikalisch, aber darüber hinaus hatte Vater Carl ein sensationelles Konzept der musikalischen Früherziehung. Also seine Mundharmonika hat Vater Carl selbstverständlich nicht zum frühkindlichen Missbrauch durch den kleinen Herr Carl hergegeben. Angeblich wollte er eine Missbildung der noch in der Entwicklung befindlichen Zähne verhindern. Stattdessen hat er ein Glockenwerk in das Türmchen des Carl'schen Wohnhauses eingebaut, welches der kleine Herr Carl zu jeder vollen Stunde erklingen lassen durfte. Der junge Musiker nutzte das weidlich. Erst recht, als er mitbekam, dass in der Nachbarschaft einige missgünstige Musikbanausen wohnten. Da das Glockenspiel bis in die übernächste Straße zu hören war, wurde damit bereits die wichtigste Voraussetzung für das professionelle Musizieren gelegt: Dem kleinen Herrn Carl wurde schon im zarten Alter von zwei Jahren bewusst, dass er von Gott geschaffen ist, um für ein großes Publikum zu musizieren.

Die Grundlage für Geniales

Freilich lässt sich auf dem stündlichen Betreiben eines Glockenspieles keine wirklich tragfähige Karriere aufbauen, selbst dann nicht, wenn dieses Glockenspiel bis in die übernächste Straße zu hören ist. Deshalb hat der kleine Herr Carl die musikalische Herausforderung gesucht. Das wurde auch Zeit, denn inzwischen war er schon drei Jahre alt. Nun allerdings ging es richtig los. Die Voraussetzungen waren prächtig, denn nun durfte der kleine Herr Carl auf dem Klavier seiner Tante herumklimpern. Nicht nur hin und wieder, sondern jederzeit. Mutter Carl hat den kleinen Herrn Carl sogar dazu ermuntert, diese Möglichkeit möglichst ausschweifend zu nutzen, und zwar weil sie ihre Schwester, die Tante des kleinen Herrn Carl, nicht recht leiden konnte. Mutter Carl hoffte, dass sie ihre Schwester mit dem permanenten Geklimper in den Wahnsinn treiben könnte. Das hat allerdings nicht geklappt, weil der kleine Herr Carl schon nach kurzem Probieren die herzallerliebsten Melodien spielte. Das war ein großes Glück für die Tante, aber das Unglück der Cousine, die recht eigentlich zum Üben auf dem elterlichen Instrument verdonnert war: Der kleine Herr Carl hatte sie binnen weniger Tage überflügelt. Dies, obwohl er erst drei, die Cousine aber bereits dreizehn Jahre alt war. Aus Gram ist die bewusste Cousine (eine Tochter der Tante) vom Balkon des Hauses gesprungen und hat sich dabei beide Beine gebrochen. Ihr Klavierspiel ist davon kein bisschen besser geworden. Allerdings ist sie wenig später völlig dem Wahnsinn verfallen. Sie hat ihre Klavierausbildung an den Nagel gehängt, ist in die größte und renommierteste psychiatrische Einrichtung der Deutschen Demokratischen Republik umgezogen und hat sich dort wenig später mittels Selbstverbrennung vom Leben nach dem Tode befördert. Eine sehr traurige Geschichte aus der Kindheit des Maestro Carl, die der Meister dennoch sehr gern erzählt, denn die Cousine hat mit dieser heroischen Tat bewiesen, dass es in der Familie des Maestros definitiv massive psychische Störungen gab. Für Maestro Carl ein schier unglaublicher Glücksumstand, denn der innerfamiliäre Wahnsinn, so ist er überzeugt, macht das Genie überhaupt erst möglich.

Nochmal, nochmal!

Das ganze schöne Genie nützt nun leider rein gar nichts, wenn es nicht in die rechte Bahn gelenkt wird. Das ist das schwierigste Unterfangen überhaupt, denn es muss ja das richtige Instrument gefunden werden. Es ist kaum abzuschätzen, wie viele mittelmäßige Trompeter es gibt, die bei richtiger Wahl des Instrumentes ganz herausragende Triangelspieler geworden wären. Wie viele erbärmliche Geiger blieben der Welt erspart, wenn sie beizeiten begriffen hätten, dass recht eigentlich die Balalaika ihrem Genius gerecht geworden wäre. Natürlich muss ein kleines Genie sich rechtzeitig dezidiert äußern, wenn es eine solche Verheerung vermeiden will. Der kleine Herr Carl hat das in vorbildlicher Weise getan, und zwar am Heiligabend zur Christvesper in der Kirche. Der kleine Herr Carl hat sich das Krippenspiel mit wachsender Neugier angeschaut, er hat bei der langatmigen Predigt bedächtig mit dem Kopf geschüttelt, und beim Einsammeln der Kollekte hat er so getan, als ob er schläft. Als allerdings die Orgel spielte, war er ganz Ohr. Als das Instrument verstummte, rief der kleine Herr Carl laut und vernehmlich durch die Kirche: „Nochmal, nochmal.“ Alle Besucher wendeten ihre Köpfe zu dem Rufer hin. Mutter Carl hat wegen dieser ungeplanten Aufmerksamkeit einen hochroten Kopf bekommen. Vater Carl hat sich abgewendet und so getan, als ob er nicht dazugehört. Der kleine Herr Carl allerdings hat sich auf Mutters Schoß gestellt, er hat dreimal in die Hände geklatscht und erneut gerufen: „Nochmal, nochmal.“ Zum Zeitpunkt dieses denkwürdigen Vorfalls war der kleine Herr Carl noch immer drei Jahre alt.

Kurze Beine

Selbstverständlich wollte der kleine Herr Carl umgehend seine Orgelkarriere beginnen. Er ist sofort nach der Christvesper auf die Orgelempore gestürmt und hat die Orgelbank erklommen. Doch er wurde völlig überraschend in seinem Eifer gestoppt. Nicht von der Mutter, auch nicht vom Vater, ja nicht einmal vom Kantor. Doch wie er so auf der Orgelbank saß, musste der kleine Herr Carl mit Entsetzen feststellen, dass er mit ausgestreckten Armen nur beinahe an die Tastatur heranreichte. Und wie sehr er sich auch reckte und streckte: Seine Füße kamen nicht ans Pedal, sie baumelten hilflos in der Luft. Der kleine Herr Carl konnte seinem Instrument nicht den leisesten Ton entlocken. Er war den Tränen nahe, als Papa Carl ihn von der Orgelbank hob, doch weil sich die Eltern das schöne Weihnachtsfest nicht verderben lassen wollten, versprachen sie ihrem Sohn, dass er schon bald eine echte Klavierausbildung bekommen würde. Das war unklug, denn wichtige Dinge hat Maestro Carl noch nie vergessen, auch nicht, als er noch der kleine Herr Carl war. Deshalb hat er seine Eltern ab der Christvesper jeden Tag gefragt, ob es heute mit dem Klavierunterricht losgeht. Insgesamt hat er sie vierhundertundsiebenunddreißig Mal gefragt. An jedem dieser vierhundertundsiebenunddreißig Tage hat er sich am Klavier seiner Tante auf den versprochenen Unterricht vorbereitet. Dann endlich war es so weit: Ein paar Tage nach seinem fünften Geburtstag hat die Mutter den kleinen Herrn Carl zu seiner ersten Klavierlehrerin gebracht. Frau Herta war eine Grundschullehrerin, deren musikalisches Können auf der Tatsache beruhte, dass ihr längst verstorbener Gatte einst als Kantor gearbeitet hatte. Der kleine Herr Carl hatte ein kleines Ledermäppchen mit einem Liederbuch, einem Notenheft und mehreren Stiften dabei. Außerdem hatte er eine große Portion Eifer im Gepäck und den festen Willen, die Klavierlehrerin Herta mit seinem Genius zu beeindrucken.