Der exzentrische Maestro Carl

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Aus der Reihe: Maestro-Carl-Reihe #1
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Der exzentrische Maestro Carl
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Cristina Zehrfeld

Der exzentrische Maestro Carl

Skurrile Begegnungen mit einem Genie

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Begegnungen mit Maestro Carl

2. Wichtige Antworten auf unwichtige Fragen

3. Es gibt kein falsches Leben im richtigen Leben

4. Geschüttelt. Nicht gerührt.

5. Fahrstuhl zum Schafott

6. Die Perlen des Soprangesangs

7. Einhundertfünftausendeinhundertzwanzig Anrufe im Jahr

8. Die Live-Aufnahme in St.

9. Besuch bei Freunden

10. Maestro Carl setzt Zeichen

11. Maestro Carl komponiert

12. Der Cousin des Schwagers der Managerin

13. Es gibt keinen Anstand mehr

14. Vorm Konzert

15. Kleine Anleitung zur Beifallsbekundung

16. Von nördlich nach südlich von Leipzig

17. Im Glockenturm

18. Umzug nach R.

19. Die Grenzen des Multitaskings

20. Das Navigationsgerät

21. Nur dreihundertzwanzig Besucher

22. Unumstößliche Wahrheiten

23. Liebe Konzertbesucher!

24. Der freie Tag

25. Mit freundlichen Grüßen

26. Die Freundin des Maestros

27. Zwei Steinways

28. Die heilende Wirkung der Musik

29. Beim Wunderheiler

30. Das Stille Gebet

31. Der Tag, an dem der Maestro mich vergaß

32. Im Rosengarten

33. Wahre Größe

34. N.

35. Wai gait?

36. Thüringer Klöße

37. Bei Rot musst du warten, bei Grün darfst du starten

38. Der Flur

39. Die Weihnachtskrippe

40. Das Lagerfeld-Syndrom

41. Von der Redekunst

42. Erstes Zitat: Die Antwortverweigerungsantwort

43. Zweites Zitat: Der Lateiner

44. Drittes Zitat: Reden können sie alle

45. Hausfrauen- und sonstige Qualitäten

46. Das wäre etwas für mich!

47. Wie man sich bettet

48. Valentinstage

49. Die Verschwendung

50. Verliebt, verlobt ...

51. Riechen Sie mal!

52. Der Autokauf

53. Isoldes Liebestod

54. Wie ich mich mit Maestro Carl über Maestro Carl unterhielt

55. Die Carl’sche Philosophie des Absurden

56. Die Negation der negierenden Negation

57. Wie Maestro Carl meinen astrologischen Horizont erweiterte

58. Nehmen Sie’s mit

59. Der Tag, an dem ich nicht mit zum Konzert gefahren bin

60. Der undankbarste Job der Welt

61. Moritzburg bei Nacht

62. Wie ich mich endgültig mit Maestro Carl überworfen habe

63. „Der Name ist ein Stück des Seins und der Seele.“ (Thomas Mann)

64. Maestro Carl ist tot, es lebe der Maestro!

Impressum neobooks

1. Begegnungen mit Maestro Carl

Maestro Carl ist ein Genie. Er ist der beste Organist, den die Welt je gesehen hat, allerdings auch der verrückteste. Deshalb ist es in Kreisen des musikalischen Establishments strengstens verboten, den echten Namen von Maestro Carl auch nur zu erwähnen. Zuwiderhandlungen werden soweit ich weiß mit dem Tode bestraft. Wer den Namen nicht vorsätzlich, sondern nur versehentlich in den Mund genommen hat, kommt unter Umständen mit einer abgeschnittenen Zunge davon. Das hat mir jedenfalls ein Herr ohne Zunge auf einen Zettel geschrieben.

Mein erstes Gespräch mit Maestro Carl führte ich in der Pause eines Konzertes in der D.-er Kirche. Das Gespräch dauerte fünfundzwanzig Minuten und damit länger als die ursprünglich auf zehn Minuten angesetzte Pause. Ich war in dieser Zeit die allerbeste Freundin des Maestros und seine uneingeschränkte Vertrauensperson. Nach diesen fünfundzwanzig Minuten kannte ich den Maestro besser als meine Großmutter. Ich wusste mehr Details über seine Gesundheit als sein Arzt. Ich kannte seine finanziellen Verhältnisse besser als meine eigenen. Der Maestro hatte mir sein Vertrauen geschenkt. Er hatte seine Sorgen und Nöte mit mir geteilt. Nur ein verschämter Blick in meinen Ausweis hat mich davon überzeugt: Nein, wir sind noch keine vierzig Jahre miteinander verheiratet.

Einen Blick auf die Uhr musste ich nicht werfen. Das taten ja bereits die Leute um uns herum, die mich inzwischen zunehmend verärgert musterten. Ich wusste also nur zu gut, dass alle auf Maestro Carl und mich starrten, denn das Konzert hätte bereits vor fünfzehn Minuten weitergehen sollen. Aber obwohl Maestro Carl fast alles kann, konnte er sich damals doch nicht mit mir unterhalten und gleichzeitig die zweite Hälfte des Konzertes spielen. Deshalb mussten wir unser vertrautes Gespräch an dieser Stelle jäh unterbrechen.

Ich habe Maestro Carl inzwischen öfter gesehen. Und dabei ist mir eine ungeheuerliche Vermutung zur Gewissheit geworden: Den Maestro kennt man in der ersten Sekunde, oder man kennt ihn niemals. Mit jeder zusätzlichen Begegnung rückt der Maestro ein bisschen mehr in die Ferne. Mit jedem Gespräch wird er fremder. Ich bin sicher: Wenn ich ihn nur noch wenige Mal auf der Straße treffe, werde ich mir seines Namens nicht mehr ganz sicher sein.

2. Wichtige Antworten auf unwichtige Fragen

Maestro Carl ist ein viel beschäftigter Mann. Immer hat er extrem wichtige Dinge zu tun. Immer hat er Dinge zu tun, die keinen Aufschub dulden und deren Unterlassung unweigerlich zum Untergang der Welt, vermutlich sogar zur Auslöschung des Universums führen würden. Maestro Carl ist sich dessen bewusst. Deshalb lamentiert er ganz fürchterlich, wenn er mit Sachen behelligt wird, die womöglich gar nicht lebensnotwendig und unaufschiebbar sind. Er kann, so sagt Maestro Carl, seine Zeit nicht mit irgendwelchen Nebensächlichkeiten vertrödeln.

 

Als ich mich mit einer äußerst wichtigen Frage an ihn wenden wollte, überlegte ich deshalb erst lange hin und her. Doch schließlich entschied ich, dass es wichtig genug war. Ich griff zum Telefon, und ich hatte enormes Glück. Ich erreichte den Maestro, und er nahm sich Zeit für mich. Allerdings ist der Maestro ein sehr höflicher Mensch. Er ist keiner, der einfach eine kurze Antwort gibt, und dann schnell wieder auflegt. Wir pflegten also zunächst etwas Konversation. Wir kamen von einem zum anderen, vom anderen zu etwas ganz anderem, und schließlich verplauderten wir uns etwas.

Wie ernst Maestro Carl unser Telefonat nahm, kann man daran ermessen, dass er während unseres Gesprächs drei andere Anrufer auf einen späteren Rückruf vertröstete. Bei einem weiteren telefonischen Störenfried beendete er nach einer Viertelstunde das Gespräch mit dem Hinweis darauf, dass er noch einen Gesprächspartner am anderen Telefon hat. Mich!

Auch die Entgegennahme eines Postpaketes und die Einweisung eines Monteurs an einem tropfenden Wasserhahn beendete unser Gespräch nicht.

Nach zwei Stunden und zehn Minuten verabschiedeten wir uns, und ich legte auf. Wir hatten über alles gesprochen. Über fast alles. Den Hörer noch in der Hand, bemerkte ich überrascht: Eine Antwort auf meine Frage hatte ich nicht bekommen. Natürlich nicht, denn ich war gar nicht dazu gekommen, meine Frage zu stellen. Mehr noch: Inzwischen konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr entsinnen, was ich Maestro Carl hatte fragen wollen.

3. Es gibt kein falsches Leben im richtigen Leben

Eines Tages hatte ich völlig unerwartet die wunderbare Möglichkeit, mit Maestro Carl zu einem seiner Konzerte zu fahren. Mir lief ein eiskalter Freudenschauer über den Rücken. Ich habe diese unverhoffte Chance ohne zu zögern ergriffen, denn es ist eine der höchsten Ehren, die einem Menschen zuteil werden kann. Als ich in das Auto des Maestros einstieg, war ich unglaublich von mir beeindruckt. Ich war mit Maestro Carl unterwegs! Ich durfte für ein paar Stunden das Leben dieses genialen Mannes teilen. Das erlebt nicht jeder, deshalb wollte ich nun jede dieser wertvollen Minuten voll und ganz auskosten. Für ein paar gemeinsame Minuten mit Maestro Carl würde jeder vernünftige Mensch auf Erden einen Brad Pitt oder einen George Clooney im Regen stehen lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Gegen die Leuchtkraft von Maestro Carl waren das ja nur kleine, kaum erwähnenswerte, vergängliche Sternschnuppen. Und nun (ich habe es schnell durchgerechnet) war ich für mindestens fünfeinhalb Stunden mit Maestro Carl unterwegs. Zwei Stunden Hinfahrt, zwei Stunden Rückfahrt und dazu noch das Konzert, und ich war sozusagen die persönliche Begleitung des Maestros. Unglaublich!

Als wir schon weit, sehr weit gefahren waren, fragte mich Maestro Carl mit sanfter Stimme: „Ach, habe ich Ihnen überhaupt schon gesagt, dass wir heute nicht zurückfahren? Wir werden in E. übernachten.“ Nein, er hatte es mir nicht gesagt. Aber was soll’s. Nun wusste ich es ja. Gut, ich war auf eine mehrtägige Reise nicht vorbereitet. Ich hatte nichts, rein gar nichts eingepackt. Keinen Laptop, keinen Fotoapparat, keine Sonnenbrille, kein Moskitonetz, nicht einmal genügend Geld. Von Wechselwäsche oder einer Zahnbürste ganz zu schweigen.

Doch das alles war völlig unerheblich, denn ich war die Reisebegleitung des einmaligen, außerordentlichen Maestro Carl. Allerdings übernachteten wir dann eben nicht nur die nächste Nacht in E., sondern die übernächste Nacht dann eben auch gleich noch in K.. Ich war also tatsächlich mit Haut und Haar in der großen, weiten Welt des Glamours angekommen. Ich führte drei Tage lang das unglaubliche Leben eines weltgewandten Bohemiens.

So etwas geht nicht spurlos an der heimatlichen Enge eines normalen Sterblichen vorüber. Und ich bin ein normaler Sterblicher. Zu Hause hatte deshalb mein Anrufbeantworter während meiner Abwesenheit längst wegen Überfüllung schließen müssen. Mein Kater Wollmütz hat Asyl bei einer Nachbarin beantragt (Das Bewilligungsverfahren war bei meiner unvermuteten Rückkehr noch nicht ganz durch). Die Lokalpresse hat mehrere, fest eingeplante Artikel nicht von mir bekommen, so dass zwei Ausgaben beinahe mit sehr viel Freiraum für Notizen erschienen wären. Außerdem haben zwei meiner besten Freunde eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgegeben. Aber wie wenig Bedeutung hat das alles: Ich durfte mit Maestro Carl zu einem seiner Konzerte fahren.

4. Geschüttelt. Nicht gerührt.

Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Besondere Menschen auch. Maestro Carl ist ein besonderer Mensch. Deshalb erfordert seine Anwesenheit immer besondere Maßnahmen. Manche Leute wollen das nicht sofort einsehen. Ich selbst hatte auch meine liebe Not. Ich wusste es vorher nicht, aber in vielen Dingen bin ich ein hoffnungsloser Opportunist, ein Jasager, ein linientreuer Dulder.

Mein Weltbild hat jedoch deutliche Risse bekommen, als ich Gelegenheit hatte, Maestro Carl öfter zu erleben. Die grundlegende Lebensmaxime des Maestros hat sich mir schließlich bei einem der zahlreichen gemeinsamen Gaststättenbesuchen erschlossen. Anfangs waren mir die sehr aufwändigen Bestellrituale des Maestros etwas unangenehm gewesen. Ich bin auch in diesem Punkt sehr bieder. Wenn ich etwas essen will, dann bestelle ich, was auf der Karte steht, und basta. Wenn auf der Karte Reis mit Thunfisch angeboten wird und Spagetti mit Bolognese, dann nehme ich entweder Reis mit Thunfisch oder Spagetti mit Bolognese. Maestro Carl würde so schlicht nicht denken. Er würde überlegen, ob eventuell Reis mit Bolognese nicht die bessere Variante ist, oder vielleicht Reis mit Spagetti. Deshalb habe ich während solch eines Gaststättenbesuchs, genauer während des Bestellrituals begriffen: Nichts auf Gottes weiter Welt ist für Maestro Carl unabänderlich. Dies gilt für ihn in allen Lebenslagen. Ganz besonders aber gilt es für Speisekarten.

Eine Speisekarte ist für den Maestro keine Übersicht, welche Speisen in einem Lokal angeboten werden, sie ist ein Vorschlag. Sie ist prinzipiell kein akzeptabler Vorschlag, aber immerhin einer, über den zu reden der Maestro willens ist.

Nicht willens ist er, etwaige Vorlieben des Kochs auszulöffeln. Deshalb stellt der Maestro sein Menü prinzipiell selbst sorgfältig zusammen. Von dem einen Gericht die grünen Klöße, vom anderen die vegetarische Soße, vom dritten schließlich die Erbsen. Er bestellt Linseneintopf ohne Speck, Zwiebelsuppe ohne Zwiebeln und flambierte, alkoholfreie Banane. Bei Maestro Carls ausschweifender Recherche zur exakten Herkunft etwaig angepriesener Waldpilze ist schon mancher Kellner völlig grundlos dem Wahnsinn verfallen.

Neulich hat Maestro Carl zu meiner Überraschung ganz einfache Rühreier bestellt. Fast ganz einfache Rühreier. Ich dachte trotzdem, dass das nicht klappt. Aber er hat sie bekommen, seine Rühreier. Dies, trotz der ausdrücklichen Anweisung: Ich hätte sie gern geschüttelt, nicht gerührt.

5. Fahrstuhl zum Schafott

Maestro Carl ist ein gläubiger Mensch. Deshalb will er dem Himmel ganz nahe sein und muss ganz weit oben wohnen. Wenn es eine Anhöhe in der Stadt gibt, muss das Haus des Maestro auf dieser Anhöhe stehen. Wenn das Haus siebzehn Etagen hat, kann des Maestros Wohnung in keiner Etage unterhalb der ACHTZEHNTEN Etage liegen. Das Haus, wo ich ihn besuchte, hatte vier Etagen. Eine Treppe führte nicht in diese schwindelerregende Höhe. Dafür gab es eine Klingel inklusive Sprechanlage. Dort nahm ich die Anweisung des Maestros entgegen: „Kommen Sie zum Fahrstuhl.“

Kein Problem. Ich hatte den Hausflur auf der verzweifelten Suche nach einer Treppe bereits inspiziert. Ich wusste um den Fahrstuhl, und ich wusste, dass ich ihn nicht in Gang zu setzen vermag, weil für das Betreiben ein Fahrstuhlschlüssel vonnöten ist. Ich ging also zum Lift und wartete. Ich lief hin und her, und her und hin. Es dauerte. Vermutlich hatte der Maestro überraschend noch einen Anruf bekommen und konnte nicht weg, dachte ich, obwohl der Maestro sonst während eines Telefongesprächs freilich immer im Haus unterwegs ist. Manchmal geht er auch in die Pizzeria gegenüber während eines Gesprächs und wundert sich über die nachlassende Qualität der Verbindung.

Ich war gerade wieder ein ganzes Stück hergelaufen, als der Fahrstuhl ruckelte. Ich lief schnell hin. - Er war nicht angekommen. Er war abgefahren. Jetzt wartete ich direkt vor der Fahrstuhltür, denn der Maestro musste jeden Moment kommen. - Dachte ich. Aber er kam nicht. Erst zehn Minuten später, als ich bereits wieder mit Hin- und Herlaufen beschäftigt war, polterte des Maestros Stimme empört. „Wieso stellen Sie sich nicht in den Fahrstuhl?“ In den nächsten Minuten begriff ich, dass die Anweisung, „kommen Sie zum Fahrstuhl“, nicht mehr und nicht weniger beinhaltet, als: „Gehen Sie zum Fahrstuhl, treten Sie hinein und beten Sie, dass ich den Fahrstuhl samt Insassen in mein Reich rufe.“ Öffnen lässt sich die Fahrstuhltür nämlich ohne Spezialschlüssel. Alle Gäste des Maestro begreifen das sofort. Alle außer mir, denn ich lebe sonst ja nicht in der großen Welt, sondern in einem kleinen Dorf. Selbst in den wenigen, in den Himmel ragenden Zweigeschossern unseres Ortes sind Fahrstühle einfach nicht üblich. Deshalb war dieses Ereignis erst meine zweite Berührung mit einem Fahrstuhl. Die erste hatte ich im Dorfkino. Gezeigt wurde damals der Krimi „Fahrstuhl zum Schafott“.