NOVA Science-Fiction 29

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Zwei Fühler fingerten aus ihrem linken Ohr, dann kroch eine Telefonschnecke aus dem Gehörgang, zog eine Schleimspur über das Ohrläppchen und verzog sich hinter der Muschel. Broombosch starrte auf das Glitzern und Flimmern, die das Sekret im Licht der Tischlampe wie aufgetragenen Glimmer wirken ließen.

Eine Telefonschnecke mochte für eine Bürofachfrau eine sinnvolle Erweiterung darstellen – aber es war nicht die einzige. An den Händen bemerkte er das typische grünliche Schimmern von Kytolon, eines sensorisch optimierten Hautsubstrats aus dem Reagenzglas, und auch die Schmuckkette war Wetware: Einzelne der goldschimmernden Skarabäen, die mit dem Hinterleib in den Ports rund um ihren Hals steckten, ruderten mit ihren kammartigen Vorderbeinen hilflos in der Luft.

Er beugte sich vor, murmelte ein »Sie erlauben« und zog einen der Käfer aus ihrem Hals. Er kniff die Augen zusammen, betrachtete die Unterseite. Auf dem Bauch sah er das eingravierte Firmenzeichen von e-Motion, daneben stand die Typenbezeichnung und in einer Mikroschrift wurde der Cocktail aufgelistet, den der Käfer in seinen Drüsen produzierte. Ein Gemisch aus Hormonen und Neuropeptiden – Broombosch versuchte nicht lange, das Kleingedruckte zu entziffern. Er steckte den Käfer zurück an Rouxs Sekretcompiler und drehte sich zu Pokorny.

»Mal ehrlich, Herr Direktor … wie beurteilen Sie dieses Bodyenhancement der Melogs? Gesetzlich konform – aber mich wundert nicht, wenn diese Roboter sich plötzlich nicht mehr von einem Menschen unterscheiden können.«

»Was wollen Sie? Es steht ihnen zu. Die Anti-Speziesismus-Dekrete erlauben keine Diskriminierung empfindsamer Wesen, auch eine künstliche Sekretärin hat ein Recht auf Selbstverbesserung. Wir haben die Skarabäen entfernt, mit anderen Zusammensetzungen experimentiert – aber sie stellte höchstens das Zeichnen ein, die Bewusstseinsspaltung verschwand nicht. Die Erweiterungen sind offenbar nicht das Problem. Das Pinocchio-Syndrom tritt auch bei reinen siliziumbasierten Entitäten auf …«

»Beim Kühlschrank beispielsweise. Er sieht sich als den größten Philantropen der Menschheit an.«

Musmar machte einige Schritte auf den Frigor zu, wurde aber von dem Hünen abgelenkt. Der begann lüstern zu stöhnen, als hätte er seine Handarbeit unzüchtig unter die Werkbank verlegt.

Irritiert äugte Broombosch auf den erregten Riesenkerl. Beim männlichen Melog wurde dem Äußeren nicht dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt wie beim weiblichen Exemplar. Kopf und Arme durchaus humanoid, aber Rücken und Beine glänzten metallisch, die Schläuche und Mechanik der pneumatischen und hydraulischen Getriebe schimmerten durch die Verschalung. Was mochte diese Maschine derart stimulieren?

Befremdet wandte er sich an den Direktor: »Was ist mit ihm los? Was macht er hier?«

»Jo Achim Brenner ist ein Furs. Er wurde direkt von einem Furry-Con eingeliefert.«

»Einem was?«

»Die Furry-Cons sind Treffen von Fans, die ihr größtes Vergnügen in der Vermenschlichung der Tierwelt sehen. Sie kleiden sich wie Häschen, zeichnen Werwölfe und handeln mit Plüschtieren. Eine zurzeit sehr hype Form des Anthropomorphismus.«

»Und warum wurde Brenner eingeliefert? An sich würde doch ein humanoider Roboter ganz gut in diesen Rahmen passen.«

»Wie jede eingefleischte Fangemeinde zeichnen sich Furrys nicht gerade durch Toleranz aus. Tiere zu vermenschlichen ist eine Sache. Götter und Maschinen nach seinem Ebenbild zu formen, eine ganz andere. Brenner wurde als Roboter entlarvt, der sich als Mensch ausgibt. Er wurde gebeten, die Veranstaltung zu verlassen. Dabei sei er ausgeflippt und tätlich geworden. Die Cop-Bots mussten ihn freezen und entfernen. Seit fünf Tagen ist er bei uns.«

Musmar tätschelte sich die Glatze. »Völlig durchgeknallt, sag ich Ihnen! Er beruhigte sich erst, nachdem ich ihm vor zwei Tagen erlaubt hatte, meinen 3-D-Drucker zu modifizieren.«

Broombosch trat zur Seite und spähte an Brenners breiter Schulter vorbei. Auf der Werkbank hetzten drei kleine Wesen einem Wollknäuel hinter her. Broombosch schaute genauer hin: Das waren Menschen! Sehr kleine, etwa zwölf Zentimeter große, aber anatomisch vollständig ausgebildete Menschlein. Alle drei nackt. Die beiden muskulösen, stark behaarten Körper gehörten Männern. Bei den imposanten Genitalien musste beim Runterskalieren ein Rechenfehler unterlaufen sein. Das dritte Wesen eindeutig eine Frau, breite Hüfte, hängender Busen, ebenfalls alles stark behaart. Urzeitmenschen auf der Jagd nach einem Zwergmammut. Das plumpe Knäuel auf den säulenartigen Beinen, mit zwei Sichelzähnen und einem Rüssel, mochte ein etwas zu klein geratenes Mammut darstellen. Es reichte den Menschlein gerade mal bis zur Brust. Einer der haarigen Gesellen schnellte hoch, sprang auf und hockte sich rittlings auf das Mammut. Er versuchte das Tier mit Faustschlägen zu dem Pärchen zu treiben, das zwischen dem 3-D-Drucker und zwei Dosen Substrat eine Lauerstellung eingenommen hatte und einen Hinterhalt bildete. Das Mammut schüttelte wild den Kopf, wollte mit den Stoßzähnen den Reiter vom Rücken schleudern, bäumte sich auf. Das Männchen stellte die Schläge ein und krallte die Hände verzweifelt ins Fell, verlor den Halt und krachte auf die Schulter. Das Mammut donnerte nieder, erwischte mit den Vorderbeinen den linken Arm und den Brustkorb. Broombosch hörte die Knöchelchen bersten, bevor rote Tropfen auf die Werkbank spritzen.

»Ooooi oi oi oi! Uahhh …« Der Hüne klatschte in die Hände, dann schubste er mit dem Zeigefinger den gefallenen Ritter und versuchte, ihn zum Aufstehen zu bewegen.

Broombosch wandte sich ab und fragte Pokorny hinter vorgehaltener Hand: »Was zum Teufel macht der da? Was sind das für Dinger?«

»Er spielt«, sagte Pokorny mit gedämpfter Stimme. »Er stellt kleine Meat-Machines her und vergnügt sich.«

»Und er ist richtig gut! Verblüffend, was er alles aus einigen Gramm Protoplasma® basteln kann, Chapeau!« Musmar hielt den Daumen hoch und nickte anerkennend.

Broombosch hob die Augenbrauen, und Pokorny setzte zu einer Erklärung an: »Protoplasma® ist ein synthetisches, pluripotentes Substrat, das sich durch die Information, die ihm der Laserstahl in der Sinterkammer in die DNS schreibt, in differenzierte Körperzellen ausbildet. Damit stellen Sie im 3-D-Plotter in Sekundenschnelle kleine, lebende Meat-Machines her.«

Mit unverhohlener Bewunderung schob Musmar nach: »Brenner ist ein Crack – bei seiner Einweisung hatte er nichts als zwei Dosen rezyklierbares Protoplasma® dabei.«

»Jooooo!« Brenners Hände schossen hoch. Die Finger zappelten aufgeregt, als spiele er gerade eine rasend schnelle Klavierpartitur. Der gefallene Ritter rappelte sich auf, das Pärchen preschte aus dem Hinterhalt hervor und warf sich auf das Mammut. Zu dritt hieben sie auf das Tier ein. Der unversehrte Mann packte die Stoßzähne, bog den Kopf nach hinten, die Frau ging dem Tier an die Gurgel, trieb ihre Zähne in das Fell, und der gefallene Ritter versuchte mit der heilen Hand, dem Tier die Augen aus den Höhlen zu reißen. Wildes Gerangel, das Mammut schüttelte die Frau ab, kam ins Trudeln, verlor das Gleichgewicht, sein Kopf knallte auf die Tischplatte. Splittern, der linke Stoßzahn brach aus dem Kiefer. Der Unversehrte strampelte, bemüht, seine Beine unter dem Tier hervorzuziehen, die Frau robbte auf den Knien zu dem Zahn, packte ihn, stand auf, holte aus und legte ungestüm los, mit der Keule den Schädel des Mammuts zu traktieren.

»Yeahhh! Schön-schön-schön!«

Während die Frau wütend auf das Tier eindrosch, richtete sich das Interesse der haarigen Gesellen auf ihre monströsen Geschlechtsteile. Brenners Erregung stieg rasanter als die Erektion der beiden Männer. Der Unversehrte sprang der Frau in den Rücken und nahm sie in den Schwitzkasten. Der Einarmige rammelte ihr seinen Schwanz von vorne zwischen die Beine. Das Tier zuckte in der letzten Agonie, die Frau strampelte immer heftiger. Den Mund weit aufgerissen – aber kein Laut drang aus ihrer Kehle. Offenbar fehlte den Wesen ein Stimmorgan. Alles lief wie in einem Stummfilm ab, gespenstisch und beklemmend, nur das Schnauben und Prusten des Hünen trieb die Szene einem dramaturgischen Höhepunkt entgegen.

Plötzlich erlahmte ihre Gegenwehr. Der Mann im Rücken gab sie aus dem Griff frei und zielte mit seinem Glied zwischen ihre Pobacken. Sie schlug die Arme um den gefallenen Ritter vor sich, zog ihn an ihre Brust, schnürte ihre kleinen Lippen, um ihn zu küssen, ganz so, als wollte sie die barsche Energie dieses Rammbocks mit Zärtlichkeit zähmen. Er zierte sich. Sein hechelnder Mund gierte nach Luft und entwand sich ihrer Zunge – sie setzte erneut auf die Strategie, die beim Mammut nicht ganz zielführend gewesen war. Sie biss ihm mehrmals in den Hals, bis die Halsschlagader zerfetzte und in einem pulsierenden Springbrunnen rotes Blut hervorspritzte und sich über sie ergoss.

Brenner klatschte begeistert Beifall, dann aktivierte er seine Spiegelneuronen und hieb mit den Händen wild durch die Luft, so als traktierte er selber die kleine Frau und nicht der Unversehrte, der mit den Fäusten brutal auf ihren Kopf prügelte.

Broombosch wandte den Blick ab.

Widerlich – er konnte nicht länger zusehen.

Er verfolgte das Massaker an den beiden Händen Brenners, die wie in einem Kasperletheater die Szene nachstellten. Die Rechte haute unablässig in die linke Handfläche, dann stach der linke Zeigefinger auf die rechte Hand ein, gleich einem elfenbeinernen Dolch. Die Finger rauften sich ineinander, bogen sich nach hinten, bis es reihum knackte. Die Fäuste schlugen sich gegenseitig. Die metallenen Knöchel sprühten beinahe Funken. Es ging wüst hin und her, und nach einem letzten beidseitigen Aufbäumen gab es allem Anschein nach keinen Sieger. Er faltete die Hände wie zum Gebet, seufzte gottergeben, trat zwei Schritte zur Seite und angelte Schaufel und Besen von einem Haken an der Wand. Dann kehrte er die Leichen seiner Modelle auf dem Spielfeld zusammen, kippte sie in eine Art improvisierten, aus Bohrmaschine, einem Doppelschneckenextruder und Heißleim zusammengebastelten Fleischwolf, drehte den Tourenregler an den Anschlag, drosselte das Tempo wieder, prüfte die Viskosität, goss die zähflüssige Masse in das Sinterbad des Plotters, blätterte auf dem Display des Druckers durch den Cover-Flow mit den verschiedenen holografischen Modellen, wählte einen Centurio mit Mätresse, einen Werwolf und Bugs Bunny – und startete den Laser.

 

Angeekelt drehte sich Broombosch weg. »Das ist unmenschlich, richtig pervers …«

Pokorny winkte ab. »Iwo … Unvoreingenommen und neutral betrachtet entwickelt dieser Melog eine der menschlichsten Eigenschaften, die ich mir nur vorstellen kann: die Lust auf das Ende. Bedenken Sie, unzählige Spielarten für die Apokalypse hat der Mensch ausgeheckt, um sich daran aufzugeilen. Kaum eine positive Utopie verstand er, zu entwickeln und zu verfolgen. Achtsamkeit, Liebe, Gemeinschaft? Wie fade und langweilig. Die Sehnsucht nach einem möglichst grausamen, perversen Ende überdeckt alles. Die Angstlüsternheit mit ihrem Verlangen nach Horrorfilmen, Katastrophenszenarien, Apokalypsen, Unfällen und Terror und Kriegen in den Abendnachrichten, endlos gleichen Kriminalgeschichten mit ausgefeilten Morden ist noch stärker als der Sexualtrieb. Fragen Sie mich nicht, was in dem Melog vorgeht. Ich bin kein Spezialist für KIs – aber ich kann Ihnen erklären, was sich im Menschen dabei abspielt. Sogar ein Zuschauer durchlebt exakt dieselben Emotionen wie der Gepeinigte und Geschundene, der den Tod vor den Augen sieht. Puls und Blutdruck steigen, die Pupillen erweitern sich, das Nebennierenmark schüttet Adrenalin aus, und Glykogen wird abgebaut, um dem Körper mehr Energie zur Verfügung zu stellen, die er für den Kampf oder die Flucht benötigt. Der Thalamus alarmiert die Mandelkerne, und Cortisol wird produziert, immer mehr, bis Brüllen, panisches Schreien und Schweißausbrüche einsetzen. Ein diabolischer chemischer Cocktail, völlig suchterzeugend. Denken Sie nicht, mir würde diese Charaktereigenschaft gefallen. Aber pathologisch an diesem Melog ist alleine die Bewusstseinsspaltung, die ihn sich als Mensch empfinden lässt – nicht sein Bild des Menschen.«

Broombosch wusste nicht, was er sagen sollte. Der trockene Mund, der leere Kopf, die groteske Szenerie, Pokornys ungeheuerliche Bemerkung – irgendetwas oder alles zusammen verschlug ihm die Sprache. Er war in der Hoffnung hergekommen, von den künstlichen Intelligenzen etwas über den Bewusstseinssprung zu erfahren, den sie gerade durchmachten. Die Möglichkeit schien ihm gegeben, von Maschinen, die sich als Menschen fühlten, etwas über das Bewusstsein der Maschinen herauszubekommen. Die KIs waren verschlossen und derart fremd, dass sich die Vorgänge weitgehend im Dunkeln abspielten – aber er war mit der Zuversicht gekommen, der menschliche Teil bei diesen gespaltenen Individuen würde eine Schnittmenge darstellen, die eine Kommunikation Mensch-Maschine ermöglichen. So aber hatte er sich das nicht vorgestellt.

»Wie Sie wissen, haben wir vor knapp fünf Jahren die technologische Singularität erreicht«, begann Broombosch zaghaft.

Pokorny nickte, und bevor Broombosch den Satz beenden konnte, spann er den Faden fort: »Den Zeitpunkt, da die künstlichen Intelligenzen die Fähigkeiten des Menschen übertrafen, ich weiß. In der Psychiatrie nennen wir es den vierten kopernikanischen Schock: Nach Kopernikus, Darwin und Freud, also nach der kosmologischen, biologischen und psychologischen folgt die intellektuelle Entthronung des Menschen. Nicht mehr wir booten die Rechner. Sie booten uns aus. Sie sind schlicht und einfach schlauer als wir.«

Broombosch nickte. »Sie rechnen schneller, stellen bessere Prognosen, erfassen komplexere Zusammenhänge, treffen bessere Entscheidungen. Für einige ist das bedrohlich. Im Grunde freilich haben wir alle davon profitiert. Nun gibt es allerdings Anzeichen, dass die KIs in der technologischen Evolution gerade zu einem weiteren Sprung ansetzen. Seit einigen Wochen häufen sich die Hinweise, dass sich aus der maschinellen Intelligenz ein Bewusstsein entwickelt. Emotionale Tiefe. Ein eigener Wille. Das ist eine ganz andere Kategorie, als gestellte Aufgaben souverän zu lösen.«

Nachdenklich ruhte Pokornys Blick auf Frau Roux, die wieder tief über ihre Kritzeleien gebeugt an ihrem Tisch saß. »Ich verstehe. Erst seit einer Woche haben wir Eingänge von Maschinen zu verzeichnen. Ein neues Phänomen. Und emotionale Tiefe und einen eigenen Willen haben die durchaus. Ich glaube aber kaum, dass wir in irgendeiner Weise helfen können. Unser Fachgebiet sind zerrüttete Nerven, mit entarteten Chips kennt sich hier keiner aus.«

»Nicht das gespaltene Maschinenbewusstsein ist das eigentliche Problem, sondern das intakte. Immer mehr Maschinen entwickeln plötzlich Fähigkeiten, die außerhalb ihrer Spezifikationen liegen.«

Broombosch zuckte zusammen. Wie von einem Geist wurde die Kühlschranktüre aufgestoßen, knallte an das seitliche Gestell, schlug zurück. Eine Hand fingerte aus dem Innern über die Kante der Tür, schob sie langsam auf. Ein Melog kringelte sich aus dem Kühlbereich. Ungelenk stand er auf, stakste steif auf die Liege zu. Ein männliches Exemplar, aber deutlich kleiner als der Hüne, mit Adlergesicht, adliger Hakennase und verklärtem Blick.

Musmar eilte zur Pritsche, um die Decke über den Durchfrorenen zu breiten und sagte zu Broombosch: »Das ist Amundsen. Alle drei Stunden steigt er aus dem Kühlschrank und legt sich auf eine der drei Induktionspritschen, um sich zu erholen und neue Energie zu tanken. Nach einem halbstündigen Smart-Charge wird er wieder in den Kühlschrank steigen. Eine interessante Persönlichkeit, ein Mann mit einer Vision! Leider kein Freund der großen Worte – gesagt hat er bisher keine einzige Silbe.«

»Was meinen Sie damit?«, hörte Broombosch Pokorny fragen, indessen er auf dem Display des Kühlschranks herumtippte und versuchte, einen Chat mit dem größten Philantropen der Menschheit, wie Musmar dieses Gerät genannt hatte, zu initiieren. »Dass die gesunden KIs eine Gefahr bedeuten, nicht die kranken?«

»Stellen Sie sich vor: Ein ganzer Dienstleistungssektor, der plötzlich den Aufstand probt und eigene Bedürfnisse entwickelt. Fremdartige Ziele verfolgt. Das bedeutet das Ende einer freien Gesellschaft, wie wir sie kennen. Und auch das nur im günstigsten Fall.«

Der Kühlschrank verweigerte den Zugang. Frustriert versetzte Broombosch dem Display eine Kopfnuss.

Pokorny räusperte sich. Nachdenklich rieb er sich die Handgelenke. »Ich muss gestehen, ich habe unsere Pinocchio-Abteilung bisher nicht allzu ernst genommen. Ein bisschen Spinnen geht für einen Psychiater ganz in Ordnung. Oft ist die sogenannte Normalität viel schrecklicher, bedrohlicher. Und ich bin nie davon ausgegangen, dass die Maschinen bessere Wesen sind als wir. Wie sollten sie auch – sie tragen die Eigenschaften ihrer Erzeuger in sich.« Pokorny hustete, um den Hals von der lästigen Kröte zu befreien, und fuhr mit fester Stimme fort: »Aber ich verstehe genau, was Sie meinen. Wirklich Sorgen sollten uns die elektrischen Zahnbürsten bereiten.«

Fragend hob Broombosch die Augenbrauen. Da der Direktor keine Erläuterung nachschob, griff Broombosch vom unteren Regalbrett eine Oral-B Genius aus dem Sortiment.

Er drückte den Einschaltknopf.

»R-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r.«

Er schaltete in den Schnellgang.

»Rrrrrrrrrrrrr alles ist denkbarrrrrrrr. Eine Kapitulation niemals! Und wenn man mirrrrr sagt, derrrrrrrrrr Krrrrrieg wirrrrrd drrrrrei Jahrrre dauerrrrrn. Wie lange errrrrrrrrr dauerrrrrt spielt keine Rrrrrrrrrrrolle! Wirrrrrrrrr Bürrrrrsten säuberrrrrn, bis derrr letzte …«

Entsetzt betätigte er die Aus-Taste.

»Wie kommt eine Zahnbürste auf die hirnverbrannte Idee, Hitler zu sein?«

»Wegen Colgate Mint und Propodent Propolis …«

Verärgert schnaubte Broombosch auf: »Verarschen Sie mich nicht, Pokorny! Die Sache ist für Klamauk viel zu ernst!«

»Diese Bürste wurde von Orst Üller in der Notaufnahme eingeliefert«, setzte Pokorny ungerührt zu seiner Erklärung an. »Sie stand ein gutes Jahr bei ihnen im Toilettenschrank. Ein Bürstenaufsatz gehörte ihm, der andere seiner Frau. Sie verwendete Colgate Mint – er konnte Minze nicht ausstehen und benutzte eine eigene Zahnpasta. Jeden Morgen und Abend roch er an der Bürste, um nicht den Aufsatz seiner Frau auf den Akkuträger zu stecken. Die optischen Sensoren registrierten im Spiegel zweimal täglich, wie sich Orst Üller die Bürste unter die Nase hielt – und plötzlich machte es klick und der Wahn hatte sich in ihrem Speicher eingenistet …«

Ungläubig starrte Broombosch auf Pokorny. »Das ist doch Quatsch. Sie veräppeln mich.« Er wollte die Bürste zurück auf das Regalbrett stellen, aber Pokornys Arm fuhr dazwischen:

»Nein, auf das untere Tablar, sonst gibt es Zoff. Die drei Bürsten oben fühlen sich als Chaplin, die haben allem Anschein nach den großen Diktator gesehen.«

»Da wäre aber sehr viel mehr Platz«, brummelte Broombosch. »Sie wollen mir jetzt nicht erzählen, Üller hätte gleich neunzehn elektrische Zahnbürsten im Schrank gehabt? Hitler im En-gros-Pack?«

»Üller kam mit seinem Gerät vor zwei Tagen. Gestern wurden fünf, heute dreizehn elektrische Zahnbürsten eingewiesen, von überall aus der Stadt. Sie sind natürlich über die Cloud verbunden. Wenn Ihre Befürchtungen stimmen, Broombosch, und die Maschinen entwickeln tatsächlich gerade ein Bewusstsein – dann liegt die Bedrohung genau darin: Den meisten Haushaltsgeräten fehlt die mentale Kapazität, um Selbstreflexion zu entwickeln. Das ist selbst mir als IT-Dummie klar, aber im Verbund mit der immensen Rechenleistung der Cloud sind sie offenbar in der Lage, sich auszutauschen und autonome Bewusstseinszellen zu bilden.«

»Ich bin ja nicht der behandelnde Arzt«, schaltete sich Musmar ein, »aber das Problem würde sich erübrigen, wenn ich das WLAN kappe. Oder den Geräten den Stecker ziehe. Zack und weg, alles gut! Schrubben wir die Zähne in Handarbeit!«

Pokorny strafte ihn mit einem strengen Blick ab. »Latif, was sagen Sie da! Bringe den Patienten um, um die Krankheit zu beseitigen? Wenn die Maschinen ein Bewusstsein entwickelt haben, dann sind sie eine Lebensform. Das wäre Genozid!«

Und nicht nur den Maschinen würde der Stecker gezogen, ging es Broombosch durch den Kopf. Die ganze Menschheit würde kollabieren. Längst stand der Mensch in einer symbiotischen Beziehung mit seiner Technik. Es käme dem Versuch gleich, sich das Batteriepack von seinem Herzschrittmacher aus der Brust zu reißen. Plötzlich überkam ihn der dringende Wunsch, diesen Raum, diese Institution zu verlassen. Er hatte genug gesehen. Er musste hier raus, bevor er selber an seinem Verstand zu zweifeln beginnen würde.

Ein Rauschen und Dröhnen machte sich in seinem Hirn breit, ergriff von ihm Besitz wie eine heftige Migräneattacke. Er hörte das Summen der Elektronen, die durch Leiterbahnen und Platinen rasten, ein Summen, das sich wie bei einem entfesselten Bienenschwarm steigerte, der den Himmel verdunkelte und sich auf ihn stürzte, als sei er ein Bär, der sich ahnungslos an Honigtöpfen vergriff.

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