Die Wölfe von Pripyat

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11Der Blitz schlägt immer zweimal ein

Im Jahr 1016 des Konsuls

Kein Signal.

Beim ersten Donner sackte Jacqueline in sich zusammen und weigerte sich weiterzugehen. Gruber fing sie auf. Der magere Gruber zerrte die ebenso magere Jackie an den Armen hoch, die Erdanziehungskraft entschied diesen Kampf zweimal, bevor er Jackie beim dritten Versuch endlich auf die Beine stellte. Sie wirkten in dieser Entfernung wie zwei tanzende Skelette. Sie hatten pünktlich die Regenmäntel angezogen. Gruber hatte den Wetterplan immer im Blick.

Emma war hinter den anderen hergestolpert, irritiert von den Geräuschen des Waldes, die so viel lauter und näher waren als dieser weit entfernte Donner, der Jackie niedergestreckt zu haben schien. Es glitchte, dachte sie, wie Jackie sagte, und hörte gar nicht mehr auf. Als schrie der Wald auf sie ein, so kam sich Emma vor. Sie durfte die anderen nicht aus den Augen verlieren, die Form eines Baumes und die Form eines Menschen waren in der Dunkelheit für sie einerlei. Sie stapfte, beständig testend, ob der moosige Boden sie auch trug, auf die beiden zu. Gruber hievte Jackie auf einen Baumstumpf: »Fräulein Jacqueline, wir müssen weiter«, sagte er und tatsächlich hob sie den Kopf. Natürlich, dachte Emma, würde Jackie auf ihre eigene Anachronismus-Macke reagieren. Gruber war wohl auch nicht der Dümmste. Jackie zerrte immer noch den schweren Rucksack mit sich herum, mit dem Sack Reis, den sie gestohlen hatte, als sei es ein Schatz. Sie betastete ihre Wangen. Stress schien bei ihr Pickel zu verursachen. Warum man ihr das nicht weggecrispert hatte, verstand Emma nicht. Jackie wanderte dahin, als wüsste sie genau, wo es langgeht, als könnte sie jeden Zweig auch in mondlosesten Nächten sehen.

Die Nadeln fuhren Emma ins Gesicht, sie kniff die Augen zusammen und fand Halt an einem Baumstamm. Sie war die Bewegung auf nachgiebigem Boden nicht gewohnt, so wie sie die ständigen kleine Stiche in die Wangen nicht gewohnt war. Erst jetzt, da sie endlich angehalten hatten, konnte sie sich umsehen. Jackie saß vor ihr, Gruber kümmerte sich um sie, über ihnen war ein wütender Himmel, aber Potz konnte sie nicht sehen. Sie drehte den Kopf, um festzustellen, ob er nicht doch an der Peripherie ihres Gesichtsfeldes auftauchte, irgendwo in den Augenwinkeln, wo alles schon so verschwommen war, aber egal, was sie fokussierte, es stellte sich als Baum heraus.

Jacqueline schüttelte den Kopf. »Du musst weitergehen«, sagte Gruber ihr immer wieder, aber sie schüttelte ohne Unterbrechung den Kopf: »Ich kann Sie nicht hören«, wiederholte sie. Emma wankte auf die beiden zu. Sie erkannte Gruber kaum, aber Jackie flimmerte manchmal, als zuckten Muster auf ihrer Haut, die wie kleine Tiere dahintanzten.

»Was ist mit ihr?«, drehte sich Gruber nun zu Emma und seine Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie zuckte mit den Schultern: »Ich kenne sie erst seit gestern.« Emma hatte sich nie mit Lichtkindern befasst, warum sollte sie jetzt damit anfangen? Wenn es nach ihr ginge, könnte man die alle im Lager lassen. Die waren nicht lebensfähig.

»Als Jurij Gagarin aus dem Himmel stürzte, sprang Laika kläffend auf ihn zu«, begann Jackie. Und Gruber versuchte ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen: »Schauen Sie mich an, Fräulein Jacqueline«, Gruber war ein sanftmütiges Tier. Emma fand gerade mehr Wut in sich. Sie wusste nicht, warum sie mitgegangen war, warum sie die Flucht eingefädelt hatte, warum sie nicht darauf bestanden hatte, dass es einen vernünftigen Plan geben sollte. Vor ein paar Stunden hätte sie einfach wieder umdrehen können und niemand hätte es bemerkt. Sie hätte umdrehen können, ihre Zeit absitzen und so tun, als sei nichts gewesen.

Sie hatte erwartet, bald wieder ein Funksignal zu bekommen, nachdem sie das Lager verließen. Ein derart großes Gebiet ohne Empfang hatte sie nicht erwartet.

Sie hätte umdrehen können, anstatt hier mitten im Wald zu stehen, kurz vor einem Gewitter. Zwischen lärmendem Rascheln, Scheuern und Knacken, den Zweigen, die auf sie einschlugen, Windgeheul und einer Irren, die irgendeinen Mist über die alte russische Raumfahrt erzählte. Wen interessierte schon Geschichte? Sie stand endlich stabil genug, um ihre Hand von der Rinde des Baumes zu nehmen, nahm zur Kenntnis, dass ihre Hand klebte, und hätte Gruber und Jackie am liebsten angebrüllt, aber sie wusste natürlich, dass es weder Jackies noch Grubers Schuld war, dass sie nur getan hatten, was Potz sagte. Sie hätte einfach ein anderes Datum zur Entlassung einstellen sollen. Sie könnte sich schwarzärgern. Sie biss sich schon wieder auf die Zunge. Und sie konnte Jackie plötzlich verstehen. Vielleicht war es ja doch das Vernünftigste, zu kapitulieren. Einfach stehen zu bleiben und zu warten, bis sie wieder eingesammelt würden. Es war ja egal. Was können sie denn schon groß mit dir machen? Die Zeit im Lager verlängern? Sie waren ja alle noch minderjährig. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wo sie in der echten Welt hinsollte.

Gruber kniete sich vor Jackie: »Fräulein Jacqueline, wir müssen weitergehen. Erinnern Sie sich? Wir gehen nach Osten. Hören Sie, Fräulein Jacqueline? Nach Osten, bis wir die Goldene Stadt gefunden haben.« Jackie hing an Grubers Lippen, und einen Augenblick lang war es ganz still zwischen beiden, da rief Jackie: »Ich kann Sie nicht hören!« – »Schschsch! Die Goldene Stadt«, redete Gruber erneut auf sie ein und wieder starrte sie auf seine Lippen: »Kein Lager, nur wir und die idealen Gegebenheiten. Die Geisteszuflucht.«

Emma schnaubte: »Goldene Stadt?« Ein Verschwörungstheoretiker. Das hat gerade noch gefehlt. Trifft eine Irre einen Verschwörungstheoretiker im Wald. Emma hatte von der Goldenen Stadt und dem Goldenen Reich gehört. Wie alle davon gehört hatten. Weit weg von der Toleranzunion. Eine Erfindung von ein paar Irren, die ja achsogeheim ist und achsoschwer zu finden, kurzum: die nicht existierte. Der geheime Standort des Paradieses. Alle Angaben waren etwa so belastbar wie damals, als Menschen sich nicht impfen ließen, oder glaubten, die Erde erwärme sich nicht. Oder war es umgekehrt? Dass die Menschen sich impften und die Erde abkühlte? Sie wusste es nicht mehr. Manche glaubten das heute noch. Wir leben noch, also gibt es keine Klimaveränderung, dabei hatte der Log die Temperatur geregelt.

»Jede Zeit hat ihren Hoffnungsort«, flüsterte Jackie vor sich hinstarrend, als könnte sie Emmas Gedanken lesen.

Gruber hielt Jackies Gesicht zwischen den Händen und redete auf sie ein, ruhig und monoton, von den allumfassenden Verbindungen und immer wieder Namen einstreuend von Kopftätigen, die doch längst nicht mehr lebten, die man nicht gespeichert hatte, als die Legende der Goldenen Stadt das erste Mal aufkam. So etwas gibt es heute gar nicht mehr, geschweige denn die Sicherungen der Originale.

»Und jeden Abend ein heißes Bad«, sagte Gruber. Jackie war ruhig, sie schien abzuwarten, bis er tatsächlich fertig gesprochen hatte. Zumindest rief sie nicht mehr, dass sie ihn nicht hören könne. Wieder rollte ein Donner durch den Wald, aber Jackie blieb ganz ruhig, als hätte sie dieses Donnern gar nicht wahrgenommen, und lächelte weiter Gruber an. »Das muss«, lächelte sie. Wenn sie diesen Unsinn gehört hatte und auch noch glaubte, dann war sie noch verrückter, als Emma gedacht hatte. Was manche sich so in ihren Köpfen zusammenrendern.

»Es ist, nebenbei bemerkt, gar nicht so unwahrscheinlich, vom Blitz getroffen zu werden«, begann Jackie mit ihrer schwebenden Stimme, »auch wenn man sich das erst mal vorstellen muss, dass der Blitz von all den Stellen auf diesem Planeten, wo er einschlagen könnte, ausgerechnet meinen Körper wählt. Auch wenn er natürlich nicht wirklich wählt, sondern zufällig zu mir kommt. Den Zufall stört es nicht, nennt man ihn Schicksal. Es ist wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als bei einem Terrorakt zu sterben. Dieser Berg dort hinten wird gewiss einmal die Woche vom Blitz getroffen.« Emma blickte in die Richtung, in die Jackie schaute, konnte aber nur Bäume sehen. Und mit denen, dachte sie, hat Potz mich hier alleine gelassen.

Emma kniff die Augen zusammen. Da waren kein Mondlicht, keine Stadt, keine Straßenlaternen, nur entferntes Wetterleuchten. Als schwebte es hoch oben über ihnen. Die ersten Tropfen fielen.

So standen sie da, zu dritt, und Emma fühlte sich überfordert, hier in Ermangelung von Alternativen die Rolle der Erwachsenen zugewiesen zu bekommen. Mit Dumm und Taub im Wald. Emma rieb sich die Augen. Dumm, Taub und Blind. Wären sie nicht davongelaufen, dann könnte sie jetzt im Bett liegen und ihre Augen könnten sich ausruhen. Davongelaufen, ein Wort für kleine Kinder.

»Alle Kirchtürme haben Blitzableiter«, geisterte Jacquelines Stimme weiter, »sie vertrauen darauf, dass der Blitz immer und immer und immer wieder einschlagen wird, bis ans Ende aller Zeiten. Dass ein Blitz nie zweimal an einem Ort einschlagen würde! Welch ein Irrtum! Warnschilder auf hochliegenden Wanderwegen werden gemalt. Und dieser Berg dort hinten wird gewiss einmal die Woche vom Blitz getroffen.«

Jackie war also nicht gerade einsatzbereit. »Was sie mit ihr gemacht haben, ist auch nicht gesund«, murmelte Gruber. Damit hatte er immerhin recht: So eine jämmerliche kleine Elfe bekam man selten zu Gesicht. Gruber stand nahe bei ihr und schaute Emma erwartungsvoll an, bevor er wieder zu Boden blickte. Das glaubte sie zumindest, bis es hinter ihr knackte und Potz wieder auftauchte, und Emma begriff, dass der Blick ihm gegolten hatte. Potz, der einfach so wieder da war, als wäre nichts gewesen, und sich vor sie schob, sich vor ihr aufbaute, als gehörte ihm der Wald.

»Wir hatten das nicht geplant. Wir hatten nicht geplant, im Regen durch den Wald zu marschieren, der Regen war angekündigt, der Regen selbst war das einzig geplante, genaugenommen hatten wir überhaupt keinen Plan. Wir hätten vorher besprechen sollen, wohin wir gehen«, begann Emma, aber er reagierte nicht darauf, sondern beugte sich zu Jackie hinunter und schlug sie. Das Donnergeräusch war nun wesentlich näher und Emma spürte einen Regentropfen wie einen schmerzhaften Stich, als Potz’ Handfläche auf Jackies Wange traf: »Reiß dich zusammen, Jackie.« Jackie starrte ihn an. »Sie glaubt, sie sei gerade vom Blitz getroffen worden, sie glaubt, sie ist taub von dem Knall, und sie glaubt, dass sie ihre Beine nicht spürt«, sagte Emma und fügte an: »Sie ist nicht aktuell vom Blitz getroffen worden.« Er hielt Jackie am Kinn. »Wie oft schlägt der Blitz ein?«, fragte er sie. »Mindestens zweimal«, murmelte sie, und er scheuerte ihr noch eine, während der Regen laut auf die Bäume herunterplatzte. Jackie stand endlich auf, stülpte ihre Jeansjacke von hinten über den Kopf und torkelte in Richtung einer mächtigen Tanne, um nicht noch nasser zu werden. Gruber und Potz folgten ihr. Sie begann, in ihrem Rucksack zu wühlen. Alle hatten Regenmäntel eingepackt.

 

»Wo bist du gewesen?«, stieß Emma Potz mit der Faust in die Seite. Zwar war seine Methode, Jackie zu behandeln, ihr höchst suspekt, aber sie war trotzdem heilfroh, dass er wieder hier war. »Musste mich orientieren«, nuschelte er, während er sich auf den Boden hockte und in einen Müsliriegel biss.

»Wir hätten planen sollen, wohin wir zuallererst gehen«, sagte Emma bestimmt.

Potz grinste: »Gibt doch einen Plan.«

Sie baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf: »Erhell uns bitte.«

»Zuallererst gehen wir nach Südosten.« Er bemerkte ihre Irritation: »Das ist dort, wo der Berg ist. Wir warten nur den gröbsten Regen ab. Bei einem Gewitter wird uns dort niemand suchen. Der Berg wird mindestens einmal die Woche vom Blitz getroffen.« Er grinste sie an.

Zwei Verrückte also, dachte sie. Er grinste immer noch. Das war also Untermürbwies: eine Sammlung Jugendlicher, die auf Verschwörungstheorien hereingefallen waren. Auf Verschwörungstheorien aus den Büchern der Erwachsenenabteilung. Verrecken würden sie hier heraußen.

»Wir gehen zum Konsul«, sagte Potz nun bestimmt und die anderen beiden nickten andächtig.

»Zum Konsul geht man nicht, an die Konsulsabteilung lässt man eine Lognotiz schicken«, erwiderte Emma. Sie dachte an die Reden des Konsuls, die einmal in der Woche über die Bildflächen flimmerten, ausgestrahlt vom Aufrichtigen Äther. Ein bärtiger Mann, der immer gleich aussah, eine sonore Stimme hatte. Der Konsul, der versprach, in jeder Situation zu helfen, der versprach, jedem zur Seite zu stehen, der Hilfe brauchte, der versprach, in dieser digitalen Welt die Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen zu wahren und zu verteidigen. Der Konsul, der der Union Freiheit und Friede geschenkt hatte, Gerechtigkeit und eine stets ruhige Stimme, die einem zur Seite stand. Fast wäre er Präsident geworden, doch lieber hörte er den Menschen zu. Jeder Broadcast begann und endete mit den Worten »Das Licht der Aufklärung leuchte uns«. Er war die Stütze der Toleranzunion und damit eine Stütze der Gleichheit. Am Ende erschien die Kontaktinformation. Physische Adresse gab es keine. »Hier gibt es kein Signal«, entgegnete Potz bestimmt, »ohne Log kein Schicken von Anfragen, also gehen wir hin.« Die anderen beiden nickten wieder. »Wieso gibt es hier kein Signal? Der Log hat doch laut Statistik neunundneunzigkommaachtneun Prozent Verbindungsabdeckung«, fragte Emma.

»Dummes Emmchen. Natürlich hat er das. Gemessen an der Bevölkerungsdichte. Nicht gemessen an der Fläche. Hier lebt niemand. Das Lager ist an der Peripherie der Union. Danach kommt ein großer Ring an Funklosigkeit und am anderen Ende die Goldene Stadt, die weder zur Union noch zum Goldenen Reich gehört. An der Grenze der Union, ja? Ich habe da jemanden, der helfen kann, den Konsul zu finden, dort gehen wir hin. Alles klar?«, erklärte Potz, als hätte er wirklich einen Plan. »Grenze sagt man nicht«, murmelte sie. »Getriggert!«, rief Potz. Als sei das Ganze lustig. Der Konsul war da, um zu helfen. Der Konsul beantwortete alle Bitten und Anfragen an den Log, an die Union, an das Wetter. Vielleicht hatte Potz recht und der Konsul würde alles einfach ungeschehen machen, wegpusten, als sei nie etwas gewesen. Der übliche Weg war, dem Log eine Nachricht zu schicken.

»Aber wenn die Goldene Stadt nicht im Gebiet der Union liegt, warum soll dann der Konsul dort sein?«, fragte Emma nun.

»Wer sagt, dass er dort ist? Aber in der Goldenen Stadt ist jemand, der weiß, wo der Konsul ist, deswegen gehen wir da hin«, erklärte Potz.

»Warum verlassen wir nicht einfach das Funkloch und rufen ihn an?«

»Weil man uns dann zum einen sofort ortet und zum anderen müssen wir ihn für unser spezielles Anliegen persönlich sprechen.«

»Unser spezielles Anliegen?«, fragte Emma, doch Potz antwortete nicht mehr. Gruber redete immer noch von der Goldenen Stadt, und Jackie nickte dazu eifrig: »Die asiatischen Freunde sind alle gone dark, gone dark, gone dark. Haben sich gelöscht.« Jackie zückte einen Taschenspiegel, machte einen Kussmund, fotografierte sich damit.

»Die braucht auch ein Update«, nuschelte Potz in Emmas Richtung. Laut sagte er: »Alles wird gut, sofern wir nicht vom Blitz getroffen werden.« Und er lachte in Richtung Gruber und Jackie, die für Emma wieder wie zwei tanzende Skelette aussahen. Mit schwarzen Umrissen und blassen Knochen, wie Cartoon-Figuren, in die der Blitz einschlägt.

12Die Wälder von Pripyat

Im Jahr 1 vor dem Konsul

Aus dem Newsfeed im Jahr 1 vor dem Konsul

Die Wälder von Pripyat: Versinken in real touch und alles loslassen ist: … VIRTUALI!

Sandors Zunge fühlte sich pelzig an. Er drehte sich auf den Bauch, seine Hand streifte den Teppich neben dem Sofa. So wie dieser Teppich war seine Zunge. Ihm war übel, der Kaffeeautomat war laut, und er konnte sich selbst in weiter Ferne stöhnen hören. Langsam richtete er sich auf. Was für ein kurioser Abend, dachte er. Kata setzte sich neben ihn und strafte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Was hatte er getan?

»Was habe ich getan?«, fragte er, und Kata antwortete: »Als ob du das nicht wüsstest.« Er griff nach ihrer Hand, spürte dabei, wie kalt die eigene war. Wärme, dachte er, doch sie zog ihre Hand zurück, schaltete den Bildschirm ein. Da war eine Aufzeichnung der Party. Er sah Trashalong, die ihn zurechtwies. Er fühlte sich unwohl neben ihr und auf dem Video konnte man es sehen. Sie wirkte stets, als sei sie auf dem Kriegspfad, egal ob sie sprach oder nur dasaß. Dann sah er die Wirkung des Reiskorns, wie er nach einer Frau namens Eleonora schrie, und er sah die Marmorsäulen wieder deutlich vor sich. Im Rest des Videos konnte man immer wieder sehen, dass er den ganzen Abend damit zubrachte, über eine Singularität zu sprechen, und dass er versucht hatte, einen Zusammenhang zwischen dieser Singularität und einer Gerichtsverhandlung herbeizuzerren. Zwischendurch wütende Tiraden auf jene Eleonora. Dunkel dämmerte etwas in ihm. Er wusste doch gar nichts über diese Verhandlung, doch er wusste alles über diese Verhandlung. Dieses Reiskorn – er hatte sich gar nicht gefühlt wie er selbst. Als gehörte er nicht in diesen Körper. Warum war Kata böse auf ihn? »Warum bist du böse auf mich?«

»Ich bin nicht böse«, sagte sie, während ihr Gesichtsausdruck sagte: Sehr wohl bin ich böse. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Er griff wieder nach ihrer Hand, sie zog sie weg: »Monatelang erzähle ich dir etwas über den Fall und über Morphologie und du hörst nicht zu und jetzt weißt du alles besser? Ich bin nicht böse. Ich bin enttäuscht. Jedenfalls werde ich jetzt Lyrie abholen, sie wird in einer halben Stunde am Terminal sein«, dann fügte sie vorwurfsvoll hinzu: »Du wusstest, dass sie heute kommt, nicht?« Er ließ sich auf das Sofa zurückfallen. »Morphologische Freiheit ist wichtig«, sagte Kata. Er hatte sie diesen Satz oft sagen hören. Er brummte.

Sie redete weiter: »Jeder Mensch soll die Ersatzteile und Erweiterungen haben dürfen, die seinem jeweiligen Körper passen. Darum geht es. Nicht um irgendetwas, was uns unmenschlich oder übermenschlich macht. Um das Menschsein geht es. Die Auflösung persönlichkeitsbeschränkender Rollen und Ungleichheiten. Um die Menschlichkeit und damit um die Menschheit selbst.« Er brummte wieder, Kata wertete dies wohl als Zustimmung, stand auf, stellte ihm ein Glas Saft hin, strafte ihn nochmals mit Blicken. Sandor schloss die Augen und konnte hören, wie sie die Wohnung verließ.

Seine Hand zitterte und er brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass es der Log war. Er versuchte es zu ignorieren. Dabei hatte Kata ihm doch gesagt, dass es nur am Anfang mühsam wäre. Ständig wollte der Log Genehmigungen zu Standardeinstellungen und bot auch an, alle Zugriffe zu erlauben. Sandor konnte nicht einfach »Ja« sagen, er wollte sie alle einzeln lesen, hatte aber gerade keine Lust, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Er griff nach dem Saft und schlurfte durch das Wohnzimmer. Was sollte er tun mit dem angebrochenen Tag und dem schweren Kopf? Er konnte sich an kein Wochenende erinnern, an dem er sich so leer und erschöpft gefühlt hatte. Die Hand vibrierte wieder. Er stürzte den Saft hinunter: Die Wirklichkeit konnte ihn heute. Er wankte an Katas neuen, noch verpackten Bestellungen vorbei und schleifte seine Füße ins Virtuali. Er schaltete das Becken ein, setzte die Maske auf und wartete, bis das Gel Körpertemperatur erreicht hatte. Er hielt sich am Beckenrand fest, als er hineinkletterte. Sein Gleichgewichtssinn hatte unter den gestrigen Ereignissen gelitten. Er versank in dem weißen Gelee, genoss die frische Brise aus der Maske und tastete nach dem Knopf, der seinen aktuellen Spielstand lud. Katas Spiel. Darf der Log auf Ihre Spiele zugreifen? Nein. Hier konnte er ihn noch aussperren. Stummschalten. Kata hatte es kein einziges Mal gespielt. Sie hatte nur entschieden, was sein durfte und was nicht. Über sich hörte er die Vögel in den Bäumen, sie zwitscherten und raschelten. Er atmete durch. Nur noch zwei Quests und er würde zum nächsten Level aufsteigen. Hinaus aus den Birken, weg von den Sümpfen, hin zu den Savannen und schließlich Tropenwäldern. Solange er hier war, war alles leicht. Im ersten Level hatte er zwischen den Tannen noch mit Fäusten siegen müssen. Die Figur, die er gewählt hatte, war ein Jäger, jedoch war es nicht seine Aufgabe zu jagen, sondern die Tiere des Waldes vor Wilderern und Baggern zu schützen. Vor Menschen und Maschinen. Die Wilderer hatten es auf die Geweihe der Wolpertinger und auf die Zähne der Vampirrehe abgesehen. Die Bagger auf die großen, menschenleeren Territorien und auf die betonlose Unsicherheit. Auf dem ersten Level hatte er sich einen Wolpertinger gezähmt. Jetzt vermisste er den kleinen Gesellen, der stets friedlich vor sich hin mümmelte, um bei Gefahr doch wild hoppelnd und Geweih voraus dem Gegner entgegenzustürmen. Auf dem jetzigen Level hatte er sich einen Wolf gezähmt und eine Schusswaffe erobert. Auch seinen Wolf würde er nicht ins nächste Level mitnehmen können. Er klopfte sich auf den Oberschenkel und das Tier folgte wie ein Hund. Nur die menschlichsten Wölfe ließen sich nicht zähmen. Er tätschelte dem Tier den Kopf und sie streiften über die Lichtung. Der Questgeber im Dorf hatte ihn beauftragt, das »ungewöhnliche« Tier, das hier wüten sollte, lebendig zu ihm zu bringen. Er müsste es untersuchen. Dann gäbe es einen Folgequest und Sandor könnte aufsteigen. »Ungewöhnlich« war nun nicht gerade eine präzise Beschreibung. Das hat man davon, dachte Sandor, dass man den Spieldesigner selbst die Quests schreiben lässt. Er wusste nicht, wonach er suchen sollte, also gingen sie spazieren. Der Wolf signalisierte ihm, dass er begann, hungrig zu werden, und Sandor entschied, ihm später ein Kaninchen zu fangen. Er genoss die frische Luft und das Geräusch des Laubs unter seinen Füßen, so streunten sie den halben Tag. Man könnte sich hier ein Paradies bauen. Da spitzte der Wolf die Ohren und beschleunigte seine Schritte in das Dickicht hinein, stets so, dass Sandor ihn gerade noch sehen konnte. Sandor bog einige Zweige beiseite und sah, wie zwei Männer in militärischen Uniformen, ihre Gewehre am Rücken, eine Kreatur, ein dunkelgrünes Etwas, aus dem Wasser eines kleinen Teiches an den Füßen aufs Ufer zogen. Ein ungewöhnliches Wesen, halb Mensch, halb Seegras. Ein schmaler Frauenkörper, schrill kreischend. Die beiden Männer zerrten die Kreatur an den Füßen, schleiften sie zu zweit über Laub und Zweige, mit dem Gesicht nach unten vom Ufer weg. Langsam, leise, griff er nach seiner Flinte, setzte an und mit lautem Knallen schoss er einem der beiden geradewegs in den Rücken, der fiel auf der Stelle um und ließ sie los. Sie drehte sich auf den Rücken, trat mit dem freien Bein nach dem anderen, der sie noch gut drei Meter weiterschleifte. Sandor sprang aus dem Dickicht und schlug dem Mann den Kolben seines Gewehres so fest er konnte ins Gesicht, einmal, zweimal, dreimal, viermal, bis von dessen Gesicht nicht mehr viel übrig war und er die Kreatur loslassen musste, die sofort wieder auf den Teich zukrabbelte. Sein Wolf versperrte ihr knurrend den Weg. Sandor stürzte sich auf sie, mit dem ganzen Gewicht seines Körpers. Sie zappelte, wehrte sich. Er sollte sie lebendig bringen, er würde sie zähmen müssen, sie trat ihm ein Knie in die Magengrube. Er würde sie unterwerfen müssen und presste sie mit aller Kraft zu Boden. »Ich könnte dich haben«, signalisierte er ihr. Er wusste gar nicht, ob es das Spiel zuließ, dass sie seine Erektion an ihrem grünen glatten Körper fühlte. Sogleich schämte er sich und versuchte, seine Hüfte ein Stück weit von ihr zu entfernen. Sofort trat sie wieder gegen seine Brust und schlug ihm mit dem Knie ins Gesicht. Der Wolf knurrte. Mit Wucht prallte sein Körper auf ihren, und er war zu schwer, als dass sie sich befreien konnte. Draußen in der Welt wäre er nicht mehr aufgestanden. Hier war er stärker. Es legte seine Finger so fest, dass es ihn beinahe selbst schmerzte, um ihr Handgelenk, holte das Seil aus der Tasche, das zu verknoten er im letzten Level gelernt hatte, verschnürte ihr die Arme hinter dem Rücken und wunderte sich keuchend, warum das Spiel ihn nicht endlich fragte, ob er mit der Kreatur sprechen wollte. Er sah sich um. Zwei tote Wilderer, er, der Wolf, immer noch kam keine Frage aus dem Spiel. Er lauschte, die Vögel zwitscherten. Die Sonne stand bereits tief, also knotete er das Ende des Seiles um einen Baum und schlug ein Nachtlager auf, der Wolf würde bis morgen auf sein Kaninchen warten müssen. Er stopfte seinen Rucksack unter den Kopf und schloss die Augen, um dem Spiel zu signalisieren, dass es zum nächsten Tag springen konnte, hatte jedoch Schwierigkeiten einzuschlafen, denn das Wesen starrte ihn ohne Unterlass an. Zu seinem Erstaunen erwachte er nicht vom Sonnenaufgang, sondern vom heimlichen Griff der Kreatur nach seinem Messer. Sie hatte es geschafft, den Knoten zu lösen, und als er die Augen aufschlug, sprang sie auf ihn zu. So mühsam hatte sich noch nie ein Quest gestaltet, dachte er, während er ihre Hand mit dem Messer über seiner Brust von sich fernhielt. Wie konnte so eine kleine Gestalt solche Kraft haben? Wo war sein Wolf? Gerade kippte sie mit all der Energie, die sie in diesen Messerstich gelegt hatte, nach vorne, gerade fuhr das Messer neben seinem Gesicht in den Waldboden, gerade konnte er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren, da fragte das Spiel: Dem Tier erlauben zu sprechen? Und sie rollte sich keuchend neben ihm ins Laub. So spät, dachte er, fast hätte er verloren, während er auf die Schrift vor seinem Gesicht starrte, den grünen Körper aus den Augenwinkeln wahrnahm und wusste, sie würde noch einmal versuchen, auf ihn einzustechen. Bestätigen.

 

»Ach, bist du hier Gott oder was?«, sprang sie auf. »Dem Tier erlauben zu sprechen«, äffte sie die Frage nach und fügte wütend hinzu: »Du hast gezögert, warum hast du gezögert?«

Sandor war überfordert. Er war es nicht gewohnt, dass Tiere, die sprechen durften, so reagierten. Die meisten beschränkten sich auf »Danke«, schenkten ihm etwas oder fragten: »Wie kann ich zu Diensten sein?«

Der Wolf saß gähnend mit blutverschmiertem Maul vor ihm, er hätte ihn doch noch füttern sollen. »Warum hast du gezögert?«, wiederholte sie mit seinem Messer wedelnd.

»Ich habe nicht. Ich meine, ich wollte nicht. Schau mal, ich habe dich gerettet«, stotterte er vor sich hin.

»Niemand kann irgendwen retten«, erwiderte sie leise schnaubend. Sie stapfte auf den Teich zu, als sei sie fertig mit ihm. Da erschien die Frage: Tier rufen? Sandor bestätigte und sie machte kehrt, widerwillig: »Das ist nicht dein Ernst?« Doch das waren die Regeln des Spiels. Ein sprechendes Tier war ein fast gezähmtes Tier, ein Tier, das man rufen konnte, und es würde kommen. Der Wolf gähnte immer noch. »Ich soll dich ins Dorf bringen«, sagte er.

»Du sollst gar nichts«, sagte sie.

»Ich sollte die ungewöhnlichste Kreatur dieses Waldes finden und sie ins Dorf bringen. Du bist die ungewöhnlichste Kreatur.« Er wusste nicht, warum er sich hier rechtfertigen sollte. Vor einem nackten Waldschrat. Ihre Haut glänzte im Dämmerlicht. In einem dunkleren Wald wäre sie fast unsichtbar. »Du weißt gar nichts über mich«, pfauchte sie. Er wusste, dass das in diesem Spiel nur eines bedeuten konnte: Du hast bereits alle Informationen, um diesen Quest zu erfüllen.

»Ich werde dich zum Questgeber bringen«, sagte er und sie antwortete: »Ja, bestimmt«, als sei dies alles für sie erledigt. Was für ein widerspenstiges Geschöpf.

Als die Sonne aufging, schulterte er seine Tasche, pfiff nach dem Wolf, pfiff nach dem Geschöpf und auch wenn sie zeterte, schritt er voran, zurück zum Dorf. Auf der Lichtung, deren Sonnenschein er am vorherigen Tag so genossen hatte, wurde der Wolf ganz aufgeregt, wedelte mit dem Schwanz und führte Sandor zu einem zerfetzten Kadaver. Dies war es wohl, was der Wolf letzte Nacht erlegt hatte, ein langer, schwarzer Wurm mit dem Gesicht einer steinernen Maske. Auch dieses Tier war höchst ungewöhnlich. »Ungewöhnlich« war keine gute Beschreibung, dachte Sandor wieder. Das sollte Kata geschrieben haben? Darf der Log auf Ihre Spiele zugreifen? fragte der Log, und die grüne Frau zuckte erschrocken zusammen, gerade, als er eine helle Glocke hörte: Kata stand wohl vor dem Virtuali, vielleicht hatte sie Lunchboxen geholt. Sie waren miteinander gelogged. Wenn sie es wollte, war sein Log auch hier nicht leise. Er seufzte. Er hörte Lyries Stimme draußen gedämpft »Mutter« sagen, auch er hatte seine Mutter nie Mama genannt. Sie war ihm wohl ähnlich. Die Wirklichkeit wollte ihn zurück. Sandor loggte sich aus.